UNHCR-Eckpunkte zu Problemen des Flüchtlingsschutzes in Deutschland (Wortlaut)
Nach Ansicht des Hohen Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR) verstößt die Bundesrepublik seit Jahren sowohl gegen die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 als auch gegen die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950. Dies geht aus einem Schreiben hervor, das UNHCR im Oktober an die Fraktionen des neukonstituierten Bundestages geschickt hat. Darin kritisiert das Flüchtlingskommissariat u.a. die - gerichtlich bestätigte - Praxis, nur staatliche Verfolgung als politische Verfolgung und damit als Asylgrund anzuerkennen, und ersucht den Gesetzgeber, die "Schutzlücke" zu schließen. Wir dokumentieren im Wortlaut. - D. Red.
Anläßlich der Neu-Konstituierung des Deutschen Bundestages und der Regierungsbildung nach den Wahlen zum Deutschen Bundestag am 27. September 1998 möchte UNHCR auf einige aus der Sicht und Erfahrung unseres Amtes bestehende Probleme im Bereich des Flüchtlingsschutzes hinweisen, in denen wir einen Handlungsbedarf seitens des Gesetzgebers oder der Bundesregierung erkennen. UNHCR hat in diesem Zusammenhang davon abgesehen, auf Fragestellungen einzugehen, die - wie etwa Aspekte einer europäischen Harmonisierung oder des "burden sharing" - Gegenstand von Beratungen im europäischen Rahmen sind. Ebenfalls nicht angesprochen werden unsere Anliegen hinsichtlich bestimmter Flüchtlingsgruppen, etwa der Flüchtlinge aus Bosnien-Herzogowina, oder institutionelle und organisatorische Aspekte, etwa im Bereich des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge oder des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten.
1. Flüchtlingsbegriff der Genfer Flüchtlingskonvention, insbesondere zur Frage der "Urheberschaft von Verfolgung"
Gemäß Artikel 1 A des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention, GFK), umgesetzt in Paragr. 51 I Ausländergesetz (AuslG), ist Flüchtling eine Person, die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischer Überzeugung hat und den Schutz ihres Herkunftslandes nicht in Anspruch nehmen kann oder aufgrund dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will. Entscheidend für die Gewährung internationalen Schutzes ist also das Fehlen nationalen Schutzes, unabhängig davon, wer Urheber der Verfolgung ist. Demgegenüber ist nach der höchstrichterlichen deutschen Rechtsprechung Voraussetzung für die Annahme einer politischen Verfolgung, daß die Verfolgungshandlungen vom Staat ausgehen oder ihm zurechenbar sind. Ist keine staatliche Hoheitsgewalt vorhanden, die die staatliche Gewalt in ihrem Gebiet durchsetzen kann, wird das Vorliegen einer politischen Verfolgung nicht nur nach Artikel 16a I GG, sondern auch hinsichtlich des Abschiebungsverbots nach Paragr. 51 I AuslG verneint. Diese Auffassung führt dazu, daß Personen, die vor politischer Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure in ihren Herkunftsländern fliehen und deren Herkunftsstaat nicht willens oder nicht in der Lage ist, Schutz zu gewähren (z.B. Algerien), die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft verwehrt wird. Betroffen sind auch Personen, die vor politischer Verfolgung in Situationen fliehen, in denen kein zentraler Staat mehr existiert (Afghanistan oder Somalia). Diese Reduzierung des Flüchtlingsbegriffs wird den völkerrechtlichen Vorgaben nicht gerecht und steht im Widerspruch zu der Auslegung des Flüchtlingsbegriffs in der Mehrzahl der Staaten der Europäischen Union.
Der Wortlaut der Flüchtlingsdefinition der Genfer Flüchtlingskonvention gibt keinen Hinweis darauf, daß Personen. die Verfolgung befürchten, die nicht von staatlichen Stellen ausgeht oder nicht mit deren Wissen oder Billigung geschieht, vom Flüchtlingsstatus ausgeschlossen sind. Nicht der Urheber der Verfolgung ist ausschlaggebend, sondern die Frage, ob aufgrund des fehlenden nationalen Schutzes internationaler Schutz gewährt werden sollte. Ziel und Zweck der Genfer Flüchtlingskonvention war und ist es sicherzustellen, daß schutzbedürftige Personen, denen politische Verfolgung droht, internationalen Schutz genießen können. Dieser Auffassung des UNHCR sollte bei der Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention gemäß Artikel 35 GFK ausreichend Rechnung getragen werden. Um potentielle Opfer nichtstaatlicher Übergriffe wirksam schützen zu können, empfiehlt sich daher aus der Sicht des UNHCR eine gesetzliche Klarstellung in Paragr. 51 I AuslG, etwa dahingehend, daß als Flüchtlinge im Sinne dieser Bestimmung auch Personen anzusehen sind, denen wegen eines in der GFK genannten Merkmals Verfolgung durch nichtstaatliche Gruppen droht. Die Flüchtlingseigenschaft darf nicht mit Hinweis auf das Fehlen einer übergreifenden staatlichen oder staatsähnlichen Ordnungsmacht im Herkunftsland verwehrt werden.
2. Abschiebungsschutz gemäß Paragr. 53 IV AuslG i.V.m. Artikel 3 EMRK
Art. 3 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) verbietet es, jemanden der Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe zu unterwerfen. Droht einem Ausländer in einem anderen Staat eine mit Art. 3 EMRK unvereinbare Behandlung, darf er nicht in diesen Staat abgeschoben werden. Im Gegensatz zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) vertritt das Bundesverwaltungsgericht die Auffassung, daß eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung nach Art. 3 EMRK nur dann vorliegen soll, wenn sie von einem Staat oder von einer staatsähnlichen Organisation herrührt. Demgegenüber hat der EGMR in seinem Urteil "Ahmed gegen Österreich" vom 17. Dezember 1996 (71/1995/577/663) festgestellt, daß "angesichts des absoluten Charakters von Art. 3 auch nicht ... das Fehlen jeder staatlichen Gewalt" (in Somalia) der Anwendbarkeit von Art. 3 EMRK entgegenstehe. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgericht - die sich in bewußten Gegensatz zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte stellt - verfestigt nach Auffassung des UNHCR die in der Bundesrepublik Deutschland vorhandene Schutzlücke für die Opfer nichtstaatlicher Verfolgung. Daher würde UNHCR es begrüßen, wenn Deutschland in dieser Frage der Auslegung der EMRK durch den EGMR folgen würde. Ein entsprechender Hinweis des Gesetzgebers könnte in Paragr 53 IV AuslG eingefügt werden.
3. Familiennachzug für Flüchtlinge
Gemäß Beschluß Nr. 24 (XXXII) des Exekutivkomitees für das Programm des UNHCR soll nachziehenden Familienmitgliedern grundsätzlich der gleiche Rechtsstatus zuerkannt und die gleichen Hilfen gewährt werden wie dem Familienoberhaupt, das schon als Flüchtling anerkannt worden ist. Diesen Anforderungen genügt die derzeitige deutsche Rechtslage und Praxis insbesondere im Fall der nach Paragr. 51 I AuslG anerkannten Konventionsflüchtlinge nicht. Abgesehen von Asylberechtigten, die über ausreichendes Einkommen und ausreichenden Wohnraum für die nachziehenden Mitglieder der Kernfamilie verfügen, besteht nach der derzeitigen Rechtslage kein Anspruch auf einen Familiennachzug. Die Entscheidung liegt vielmehr im Ermessen der Ausländerbehörde. Obwohl das Ermessen insoweit aufgrund der Tatsache, daß die Familieneinheit bei Flüchtlingen nicht im Herkunftsland hergestellt werden kann, eingeschränkt ist, kommt es in der Praxis häufig zu erheblichen Problemen und Verzögerungen. Im Hinblick auf das flüchtlingsvölkerrechtliche Prinzip der Familieneinheit sollte ein Rechtsanspruch auf Familiennachzug allen Personen zustehen, die in der Bundesrepublik Deutschland die Rechtsstellung eines Flüchtlings nach der Genfer Flüchtlingskonvention genießen. Dazu gehören außer Asylberechtigten Personen, bei denen ein Abschiebungshindernis im Sinne des Paragr. 51 I AuslG festgestellt worden ist, und Personen, die im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen worden sind (Kontingentflüchtlinge nach dem HumAG). Die Zustimmung zum Familiennachzug sollte zügig und unter Berücksichtigung der besonderen Schwierigkeiten, die Flüchtlinge bei der Beschaffung und Vorlage von Dokumenten haben können, und unabhängig davon erteilt werden, ob der Flüchtling über ausreichenden Wohnraum und Einkommen verfügt.
4. Geschlechtsspezifische Verfolgung und Schutz von Frauen
UNHCR setzt sich für die Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Verfolgung bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein und würde die Umsetzung der entsprechenden Empfehlungen des Exekutivkomitees für das Programm des UNHCR begrüßen. Oftmals werden insbesondere Frauen und Mädchen, die Opfer geschlechtsspezifischer Verfolgung geworden sind, in der Bundesrepublik Deutschland nicht als Flüchtlinge anerkannt. Frauen, die Menschenrechtsverletzungen in Form sexueller Gewalt erlitten haben, sind häufig weitgehend schutzlos gestellt. In der deutschen Rechtsprechung wird zudem qoft verneint, daß Verfolgungshandlungen gegenüber Frauen an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfen. Auch die Auffassung, geschlechtsspezifische Verfolgung könne nur dann zur Flüchtlingsanerkennung führen, wenn die Verfolgungshandlungen vom Staat ausgingen oder ihm zurechenbar seien, steht einer Anerkennung allzuoft entgegen. Andere Staaten haben jedoch in Richtlinien für die Prüfung der Flüchtlingseigenschaft festgelegt, daß geschlechtsspezifische Verfolgung unter das Merkmal der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des Artikel 1 A 2 Genfer Flüchtlingskonvention fallen kann. Eine vergleichbare Klarstellung sollte es auch in Deutschland geben.
5. Verbesserung der Situation unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge
Nach Auffassung des UNHCR bedürfen auf sich allein gestellte Flüchtlingskinder sowohl im Hinblick auf Unterbringung und Betreuung als auch im Verfahren zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft eines besonderen Maßes an Schutz und Fürsorge. Regelmäßig sollte in dem Spannungsfeld von Asyl- und Ausländerrecht und Kinderrechten das Kindeswohl vorrangig berücksichtigt werden. Nach Ansicht des UNHCR sollte deshalb im Wege einer gesetzlichen Klarstellung geregelt werden, daß das Flughafenverfahren und die Drittstaatenregelung nicht auf unbegleitete Minderjährige angewendet werden. Zudem hält UNHCR es in der Regel nicht für angemessen, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zwischen 16 und 18 Jahren, die nach geltendem Asyl- und Ausländerrecht als handlungsfähig erachtet werden, verfahrensrechtlich wie Erwachsene zu behandeln und Minderjährige dieser Altersgruppe ohne spezielle Betreuung in Erstaufnahmeeinrichtungen unterzubringen. Vor einer Rückführung von Minderjährigen in ihr Herkunftsland sollte geprüft werden, ob diese dem Kindeswohl entspricht. Die Möglichkeit, ein humanitäres Bleiberecht zu erlangen, sollte auch außerhalb des Asylverfahrens gegeben sein.
6. Einrichtung einer Aufnahmequote für UNHCR-Mandatsflüchtlinge
UNHCR würde die Einrichtung eines humanitären Aufnahmekontingents zugunsten ausgewählter UNHCR-Mandatsflüchtlinge begrüßen, d.h. solcher Flüchtlinge, die von UNHCR als Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention unter sein Mandat gestellt wurden, die aber in ihren Erstzufluchtländern kein dauerhaftes Bleiberecht und keinen Schutz finden können. Dabei handelt es sich im wesentlichen um Flüchtlinge, für die im Erstzufluchtsland keine dauerhafte Lösung gefunden werden kann, etwa weil dort ihre persönliche Sicherheit nicht gewährleistet werden kann sowie um Flüchtlinge, für die aufgrund mangelnder medizinischer Versorgung Lebensgefahr besteht oder um weibliche und minderjährige Flüchtlinge, die besonderen Gefahren ausgesetzt sind. UNHCR geht es dabei vom allem um diejenigen Flüchtlinge, die nicht von anderen Drittländern aufgenommen werden, weil sie nahe Verwandte in Deutschland haben. Die Erfahrung des UNHCR zeigt immer wieder, daß solche Mandatsflüchtlinge von anderen Ländern nicht übernommen werden. Hinsichtlich der Ausgestaltung der Übernahmequote wäre es wünschenswert, wenn UNHCR ein Vorschlagsrecht erhalten könnte. Den zur Aufnahme in Deutschland ausgewählten Mandatsflüchtlingen sollten in der Bundesrepublik Deutschland möglichst ohne weiteres Verfahren der Flüchtlingsstatus und die Rechte nach der Genfer Flüchtlingskonvention eingeräumt werden.
Bonn, im Oktober 1998