Ausgabe August 2005

Ich bin leidenschaftlicher Europäer

Rede des britischen Premierministers Tony Blair vor dem Europäischen Parlament am 23. Juni 2005 (Auszüge)

Nach dem Scheitern der Referenden über den EU-Verfassungsvertrag in Frankreich und in den Niederlanden, das die Aussetzung des Ratifizierungsprozesses in vielen Ländern der Europäischen Union nach sich zog, trafen sich die Staats- und Regierungschefs der Union am 17./18. Juni in Brüssel, um, wie es hieß, durch eine Einigung über die zukünftige EU-Finanzpolitik ein positives Signal zu senden. Doch stattdessen gab es neuen Streit zwischen der von Frankreich und der Bundesrepublik geführten Mehrheit der EU-Staaten und einer Minderheit um Großbritannien. Gegenstand der Kontroverse war der so genannte "Britenrabatt", den Premierministerin Thatcher 1984 ("I want my money back") durchgesetzt hatte und den die Mehrheit der Staaten im Zuge der Neuordnung der EU-Finanzen zur Disposition gestellt sehen wollte. Demgegenüber bestand der britische Premierminister, Tony Blair, auf einer Verknüpfung dieser Frage mit einer Reform der – von Frankreich vehement verteidigten – EU-Agrarsubventionen, die auch der schwedische Premier, Göran Persson, als "nicht zukunftsorientiert" kritisierte. Insbesondere die harte Haltung Blairs führte zum Scheitern des Gipfels und ungewohnt heftigen Reaktionen. So verspürte der amtierende EU-Ratspräsident, Jean-Claude Juncker, "keinerlei Bedürfnis, diplomatisch zu sein", und der französische Premierminister Dominique de Villepin sprach offen von "einem Debakel". Auch Bundeskanzler Gerhard Schröder sah die EU am Scheideweg: "Wollen wir ein einiges, handlungsfähiges Europa, eine wirkliche politische Union? Oder wollen wir nur eine große Freihandelszone sein, wollen wir von der Europäischen Union zurück zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft?" Besondere Brisanz bezieht die Kontroverse daraus, dass am 1. Juli die britische EURatspräsidentschaft begann. Tony Blair nutzte daher seine stark beachtete Antrittsrede vor dem Europäischen Parlament am 23. Juni dazu, sein Konzept für eine EU-Reform zu skizzieren. – D. Red.

Der Zeitpunkt für diese Rede ist günstig. Was auch immer in Europa umstritten ist, über eines sind wir uns zumindest klar: Europa befindet sich mitten in einer tief greifenden Debatte über seine Zukunft. Ich möchte heute offen über diese Debatte sprechen, über die Gründe dafür und welche Lösungen es gibt. In jeder Krise steckt auch eine Chance. Jetzt gibt es eine Chance für Europa, wenn wir den Mut dazu haben.

[...]

Ich bin leidenschaftlicher Europäer. Das bin ich immer gewesen. [...] Seit ich Premierminister bin, habe ich das Sozialprotokoll unterzeichnet, zusammen mit Frankreich zur Schaffung der modernen Europäischen Verteidigungspolitik beigetragen und meinen Beitrag zu den Verträgen von Amsterdam, Nizza und Rom geleistet.

Dies ist eine Union der Werte, der Solidarität zwischen Nationen und Bürgern, nicht nur ein gemeinsamer Markt, auf dem wir Handel treiben, sondern ein gemeinsamer politischer Raum, in dem wir als Bürger leben. Das wird die Union immer sein.

Ich glaube an Europa als politisches Projekt. Ich glaube an ein Europa mit einer starken, fürsorglichen sozialen Dimension. Nie könnte ich ein Europa akzeptieren, das nur ein Wirtschaftsmarkt wäre. [...] Die Aufgabe des sozialen Europas und des wirtschaftlichen Europas sollte es sein, einander Rückhalt zu geben.

[...]

Wenn Europa in den Euroskeptizismus zurückfällt, oder wenn die europäischen Staaten im Angesicht dieser immensen Herausforderung beschließen, sich aneinander zu kuscheln in der Hoffnung, der Globalisierung entgehen zu können, wenn sie vor den Änderungen um uns herum zurückschrecken, sich in die jetzige Politik Europas flüchten [...], dann laufen wir Gefahr zu scheitern. [...]

Vier Jahre lang diskutierte Europa über unsere neue Verfassung, zwei Jahre davon im Konvent. Sie war eine detaillierte und sorgfältig formulierte Arbeit, die die neuen Regeln für ein Europa von 25 und später 27, 28 oder mehr Mitgliedstaaten festlegte. Sie wurde von allen Regierungen unterstützt. [...] Sie wurde dann in Referenden in zwei Gründungsstaaten vernichtend abgelehnt, im Fall der Niederlande mit über 60 Prozent. Die Realität ist, dass es in den meisten Mitgliedstaaten heute schwer wäre, in einer Volksabstimmung ein "Ja" dafür zu bekommen.

Es gibt zwei mögliche Erklärungen dafür. Eine ist, dass die Menschen die Verfassung studiert haben und mit den Artikeln im Einzelnen nicht einverstanden waren. Ich bezweifle allerdings, dass das die Grundlage des mehrheitlichen "Nein" war. Dies war keine Frage eines schlechten Entwurfs oder konkreter inhaltlicher Differenzen.

Die andere Erklärung ist, dass die Verfassung lediglich das Vehikel war, mit dem die Bürger ihre breitere und grundsätzlichere Unzufriedenheit mit den Verhältnissen in Europa bekundeten. Ich glaube, dass diese Auslegung zutrifft.

Wenn ja, ist das keine Krise der politischen Institutionen, es ist eine Krise der politischen Führung. Die Bürger in Europa stellen uns schwierige Fragen. Sie machen sich Sorgen über die Globalisierung, die Sicherheit ihrer Arbeitsplätze, die Renten und den Lebensstandard. Sie sehen, wie sich nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Gesellschaft um sie herum verändert. [...] Wir leben in einer Zeit grundlegender Veränderungen und Umwälzungen. [...] In solchen Umbruchzeiten müssen Menschen mit moderaten Einstellungen die Führung übernehmen. Wenn sie es nicht tun, bekommen die Extreme Einfluss auf den politischen Prozess. Das ist auf der Ebene der Staaten so. Und jetzt auch in Europa.

[...]

Es ist Zeit, dass wir uns einem Reality-Check unterziehen. Dass wir auf den Weckruf hören. Die Menschen posaunen es von den Stadtmauern herunter. Hören wir zu? Haben wir den politischen Willen, hinauszugehen und mit ihnen zu reden, damit sie unsere Führung als Teil der Lösung und nicht als das Problem selbst betrachten?

Das ist der Zusammenhang, in den die Haushaltsdebatte gestellt werden sollte. Manche sagen: Wir brauchen den Haushalt, um Europas Glaubwürdigkeit wiederherzustellen. Das stimmt natürlich. Aber es muss der richtige Haushalt sein. Er sollte nicht von der Debatte über die Krise Europas abgetrennt werden. Er sollte Teil der Antwort sein.

Ein Wort zum Gipfel letzten Freitag. Es ist behauptet worden, ich sei nicht bereit gewesen, Kompromisse beim britischen Rabatt zu schließen; ich hätte das Thema Agrarreform erst in letzter Minute vorgebracht; ich hätte erwartet, dass wir Freitagnacht neu über die Agrarpolitik verhandeln sollten. In Wirklichkeit bin ich der einzige britische Politiker, der sich jemals bereit erklärt hat, den Rabatt auf den Verhandlungstisch zu legen. Ich habe nie gesagt, wir sollten die Gemeinsame Agrarpolitik jetzt beenden oder über Nacht neu aushandeln. So etwas wäre absurd. [...] Ich habe nur zwei Dinge gesagt: dass wir einer finanziellen Vorausschau nicht zustimmen können, die nicht mindestens einen Prozess vorzeichnet, der zu einem rationaleren Haushalt führt; und dass es möglich sein muss, dass ein solcher Haushalt in der zweiten Hälfte der Finanzperiode bis 2013 zum Tragen kommt. [...] Bis dahin wird Großbritannien natürlich seinen fairen Anteil an der Erweiterung zahlen. Ich möchte noch betonen, dass wir in jedem Fall der zweitgrößte Nettozahler in der EU bleiben werden, nachdem wir im Zeitraum der aktuellen finanziellen Vorausschau Milliarden mehr als andere Länder vergleichbarer Größe gezahlt haben.

Wie sähe eine andere politische Agenda für Europa aus?

Erstens würde sie unser Sozialmodell modernisieren. Auch hier haben einige behauptet, ich wolle Europas Sozialmodell aufgeben. Aber sagen Sie mir: Was für ein Sozialmodell ist das, wenn 20 Millionen Menschen arbeitslos sind, die Produktivität hinter der der USA zurückfällt, wenn Indien in den Naturwissenschaften mehr Hochschulabsolventen hervorbringt als ganz Europa, und wenn alle Indikatoren für eine moderne Volkswirtschaft – Ausbildung, Forschung und Entwicklung, Patente, IT – nach unten tendieren. [...] Unser Sozialmodell sollte darauf angelegt sein, unsere Konkurrenzfähigkeit zu verbessern [...]. Darin sollte eine moderne Sozialpolitik bestehen, nicht in Regulierung und einem Kündigungsschutz, der vielleicht einige Arbeitsplätze für kurze Zeit schützt – auf Kosten vieler Arbeitsplätze auf längere Sicht. [...]

Zweitens sollte der Haushalt diese Realitäten widerspiegeln. [...] Aber ein moderner Haushalt für Europa ist nicht einer, der in zehn Jahren noch immer 40 Prozent für die Gemeinsame Agrarpolitik ausgibt.

Drittens: die Lissabon-Agenda umsetzen. In Sachen Arbeitsplätze, Beschäftigungsquote, Schulabschlüsse, lebenslanges Lernen machen wir Fortschritte, die weit entfernt sind von den konkreten Ziele, die wir uns in Lissabon vornahmen. [...]

Viertens, und hier bin ich vorsichtig, sollten wir einen makroökonomischen Rahmen für Europa vorgeben, der diszipliniert, aber auch flexibel ist. Es steht mir nicht zu, mich über die Eurozone zu äußern. Ich sage nur dies: Wenn wir uns auf echte Fortschritte bei der Wirtschaftsreform einigten, wenn wir unsere Ernsthaftigkeit in punkto Strukturwandel unter Beweis stellten, dann würden die Bürger eine Reform der makroökonomischen Politik für sinnvoll und begründet halten – sie würden sie nicht als Ergebnis eines finanzpolitischen Laisser-faire, sondern als vernünftig betrachten. Und diese Reform brauchen wir dringend, wenn die Wirtschaft Europas wachsen soll.

Nach den wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen sollten wir uns dann auch mit einer weiteren Gruppe von verwandten Themen befassen: Kriminalität, Sicherheit und Zuwanderung.

[...]

Dann gibt es noch den gesamten Bereich der GASP. Wir sollten uns auf praktische Maßnahmen zum Ausbau der europäischen Verteidigungsfähigkeit verständigen, bereit sein, mehr Einsätze zur Friedenserhaltung und Friedensdurchsetzung zu übernehmen, die Fähigkeit aufbauen, zur Bewältigung von Konflikten schnell und effektiv einzugreifen – mit der NATO oder, wo diese sich nicht beteiligen will, ohne sie. [...] Meine Logik ist einfach. Ein starkes Europa wäre ein aktiver außenpolitischer Akteur, ein guter Partner natürlich für die USA, aber auch in der Lage, seine eigene Fähigkeit, die Welt zu gestalten und weiterzubringen, unter Beweis zu stellen.

So ein Europa – ein Europa, dessen Wirtschaft modernisiert würde, dessen Sicherheit durch konkrete Maßnahmen innerhalb und außerhalb der Grenzen gestärkt würde – wäre ein selbstbewusstes Europa. Es wäre selbstbewusst genug, um die Erweiterung nicht als Bedrohung zu empfinden – als ob sie ein Nullsummenspiel wäre, bei dem die alten Mitglieder so viel verlieren, wie die neuen gewinnen –, sondern als außergewöhnliche Chance, eine größere und stärkere Union zu schaffen. Machen wir uns nichts vor: Wenn wir die Erweiterung stoppen oder uns gegen ihre natürlichen Konsequenzen wehren, wird das letzten Endes nicht einen einzigen Arbeitsplatz retten, nicht eine Existenz am Leben erhalten, nicht eine Firmenabwanderung verhindern. Eine Zeit lang vielleicht, aber nicht auf Dauer. Und in der Zwischenzeit würde Europa enger werden, in sich gekehrter, während diejenigen Zulauf fänden, die nicht in der Tradition des europäischen Idealismus stehen, sondern in der des veralteten Nationalismus und der Fremdenfeindlichkeit. Ich möchte Ihnen aber in aller Offenheit sagen: Es ist ein Widerspruch, für die Liberalisierung der Mitgliedschaft in Europa zu sein, aber gegen eine Öffnung der Wirtschaft.

[...]

In unserer Präsidentschaft werden wir versuchen, die Verhandlungen über den Haushalt weiterzubringen; einige der komplizierten Fragen wie zum Beispiel die Dienstleistungs- und die Arbeitszeitrichtlinie zu lösen; die Verpflichtungen der Union gegenüber Staaten wie der Türkei und Kroatien zu erfüllen, die sich Hoffnungen machen, einmal zu Europa zu gehören; und diese Debatte über die Zukunft Europas offen und mit allen zu führen, wobei wir unsere eigenen Ansichten mit Überzeugung vertreten, aber die Meinung anderer voll und ganz respektieren werden.

Ich bitte nur um eines: Geben wir uns nicht der Illusion hin, diese Debatte sei überflüssig, glauben wir nicht, wenn wir nur zum business as usual zurückkehrten, würden sich die Menschen früher oder später erweichen lassen und sich mit dem Europa, wie es ist, an Stelle des Europas, wie sie es haben wollen, zufrieden geben. [...]

Die Bürger Europas reden mit uns. Sie stellen die Fragen. Sie wollen Führung von uns. Es ist höchste Zeit, sie ihnen zu geben.

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