Ausgabe September 2019

Absturz der Himmelsstürmer

Das Scheitern des Linkspopulismus und die Zukunft der europäischen Linken

Keine fünf Jahre ist es her, da stand dieses Bild für die Zukunft der europäischen Linken: Im Januar 2015 reckt Alexis Tsipras auf einer Bühne in Athen siegesgewiss die Faust gen Himmel und legt einen Arm um die Schulter von Pablo Iglesias. Wenig später ist Tsipras der neue griechische Premierminister, und Iglesias‘ frisch gegründete Podemos macht sich berechtigte Hoffnungen, bald Spanien als stärkste Kraft regieren zu können. Linker Populismus, zu dem sich Podemos offensiv bekennt, scheint die Strategie der Stunde zu sein: Im Kampf gegen Austeritätsprogramme wollen populistische Parteien „das Volk“ gegen „die Eliten“ mobilisieren, vor allem aber gegen den angeblich homogenen Block der anderen Parteien. Mit dieser im Kern anti-pluralistischen Strategie streben sie nach absoluten Mehrheiten.

Wenige Monate später, als Tsipras in Brüssel bereits demütigend gegen die europäischen Gläubiger seines Landes verloren hat, kürt die traditionsreiche britische Labour-Partei völlig überraschend den linken Jeremy Corbyn zum neuen Vorsitzenden. Corbyn ist zwar kein Populist im engeren Sinn, profitiert aber ähnlich wie Tsipras und Iglesias vom Schwung breiter Protestbewegungen. Kurzum: Europas Linke hat 2015 neue Vorbilder gefunden, denen im Süden, Osten und Westen alsbald viele nacheifern.

Mittlerweile jedoch sind die einstigen Himmelsstürmer tief gefallen. Syriza wurde bei den griechischen Parlamentswahlen im Juli in die Opposition geschickt, wenn auch mit einem respektablen Ergebnis von 31,5 Prozent. Deutlich ärger ergeht es da Podemos: Nach einem schwachen Ergebnis bei den Parlamentswahlen im April versucht die Partei nun einen weiteren Absturz zu verhindern, indem sie sich den erstarkten Sozialisten offensiv als Koalitionspartnerin andient. Dafür hat sie selbst der schmerzhaften Bedingung zugestimmt, dass Iglesias kein Ministeramt übernehmen wird. La France insoumise um Jean-Luc Mélenchon wiederum musste bei der Europawahl im Mai die Führungsrolle im linken Lager an die Grünen abgeben und landete bei enttäuschenden rund sechs Prozent. Und in der Bundesrepublik ist die Sammlungsbewegung „Aufstehen“ schon gescheitert, bevor sie überhaupt eine Parteigründung erwägen konnte. Labour schließlich droht ob ihrer unklaren Brexit-Position bei den absehbaren Neuwahlen den schon sicher geglaubten Sieg über tief zerstrittene Konservative zu verspielen. Selbst wenn sich diese Parteien wieder erholen sollten, so werden sie doch zumeist nicht mehr die prägende Rolle spielen können, die viele Linke ihnen lange hoffnungsvoll zugetraut haben. Als ausstrahlungskräftiges Modell ist der Linkspopulismus gescheitert.

Damit kann auch von einer innerlinken Wachablösung nach griechischem Muster, wo Syriza die als neoliberal und korrupt verschrienen Sozialdemokraten wohl dauerhaft in die Bedeutungslosigkeit gestürzt hat, im übrigen Europa keine Rede mehr sein. Stattdessen erstarkt in Südeuropa – vor allem in Portugal und Spanien, bedingt aber auch in Italien – erneut eine Sozialdemokratie, die von zentristischen Parteichefs nicht zuletzt aus taktischer Klugheit vorsichtig nach links geführt wird. Im Westen wiederum erreichen die Grünen ungeahnte Höhen: In den Niederlanden, Deutschland und seit kurzem auch in Frankreich scheint es – bei aller gebotenen Vorsicht angesichts der durchgeschüttelten Parteiensysteme – inzwischen sogar denkbar, dass die einstigen ökologischen Milieuparteien zur stärksten Kraft links der Mitte aufsteigen könnten.

Woher aber rührt dieser rasante Umschwung der Kräfteverhältnisse innerhalb des linken Lagers? Was erklärt den schnellen Fall der Linkspopulisten? Im Wesentlichen sind die Newcomer aus zwei Gründen ins Hintertreffen geraten: Sie werden zum Einen durch die Dominanz ihrer Führungsfiguren geschwächt, und zum Anderen versagt ihr Freund-Feind-Schema angesichts neuer innergesellschaftlicher Widersprüche – während gleichzeitig vielerorts die Rechten mit einem ganz anders gearteten, grundlegend menschenfeindlichen Freund-Feind-Schema punkten.

Lange hatte der Reiz dieser Parteien, erstens, in ihrer scheinbar offenen Organisationskultur bestanden. Sie betonten ihren Bewegungscharakter oder zumindest die Nähe zum Aktivismus und wurden damit gerade für Jüngere attraktiv, in deren Augen die anderen Parteien bürokratisch erstarrt erschienen. Selbst in der Präsenz starker, medial ausstrahlungskräftiger Führungsfiguren wie Pablo Iglesias oder Jean-Luc Mélenchon erblickten die Aktiven oft keinen Gegensatz zum basisdemokratischen Anspruch dieser Parteien, sondern vielmehr eine Erfolgsgarantie bei Wahlen. Doch die Verheißung flacher Hierarchien und umfassender, nicht zuletzt digitaler Partizipation wurde schnell enttäuscht. So zog La France insoumise (LFI) zahlreiche Aktivisten an, die 2016 in der Bewegung Nuit debout auf den Plätzen von Paris und anderen französischen Städten mit einer möglichst hierarchiefreien Form politischen Handelns experimentiert hatten. Der Kontrast zu ihren heutigen Erfahrungen könnte kaum größer sein: Wo bei Nuit debout sämtliche Entscheidungen in Plenarversammlungen unter freiem Himmel getroffen wurden, präsidiert über LFI eine Parteispitze, die mangels Vorstandswahlen von der Basis nicht wirksam kontrolliert werden kann.[1]

Aber auch nach außen werden Wähler durch das Dominanzgebaren der Chefs vor den Kopf gestoßen, die bei all ihrer Establishmentkritik plötzlich selbst elitär wirken. Mélenchon etwa machte im vergangenen Oktober Negativschlagzeilen, als er vor laufenden Kameras einen Polizisten anbrüllte, der die LFI-Parteizentrale wegen eines Veruntreuungsverdachts durchsuchte. „La République, c’est moi“ (Ich bin die Republik), donnerte Mélenchon dem Beamten aus nächster Nähe selbstherrlich entgegen. In den Umfragen ging es danach prompt bergab. Podemos wiederum fiel durch einen offenen Streit zwischen Iglesias und seinem einstigen Chefstrategen Íñigo Errejón auf.[2] Vordergründig ging es dabei um strategische Fragen, im Hintergrund zeigte sich aber auch die persönliche Rivalität zweier Parteigründer. Errejón zog den Kürzeren und trat im Mai bei den Kommunalwahlen in Madrid auf einer neuen Liste gegen seine alte Partei an – am Ende fiel das erst 2015 eroberte symbolträchtige Rathaus an die Konservativen.

 

Die inneren Widersprüche

Schwerer wiegt für diese Parteien aber zweitens, dass sich in linken Milieus vielerorts die Prioritäten verschoben haben: Kulturell setzt man dort verstärkt auf die Verteidigung der offenen Gesellschaft und materiell auf die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen. Zwar stehen nicht nur die Linkspopulisten unter wachsendem Druck, sich klar gegen Rassismus zu positionieren und den Klimaschutz als materielle Frage zu begreifen, aber bei ihnen konterkariert es in besonderem Maße die gewählte Strategie.

Indem sie die Volksparteien für gleichermaßen korrupt und abgehoben erklärten – was zumindest in Griechenland allerdings nicht völlig aus der Luft gegriffen war – und gezielt auf patriotische Rhetorik zurückgriffen, wollten diese Parteien eine mehrheitsfähige Alternative zum Neoliberalismus schaffen. Syriza und Podemos umwarben dabei anfangs auch Konservative, die wegen der herrschenden Sparpolitik und Korruption verärgert waren. La France insoumise zielt sogar auf Wähler, die zu den Rechtsradikalen übergelaufen sind.

Doch der populistische Versuch, die Einheit des Volkes zu beschwören, muss dann scheitern, wenn die Widersprüche innerhalb dieses Volkes offen zutage treten. Im Protest gegen die Austeritätspolitik schien es noch zumindest vorstellbar, eine Mehrheit gegen Regierung und allzu loyale Opposition zu vereinen. Aber in der Klimafrage und erst recht im aktuellen Kulturkampf um den Charakter der westlichen Gesellschaften verlaufen die Gräben nicht zwischen Bevölkerung und Eliten, sondern innerhalb beider Gruppen. Das simple Freund-Feind-Schema verfängt also nicht mehr.

So versagt die linkspopulistische Strategie angesichts der drohenden Klimakatastrophe, die seit ihrer Politisierung durch Fridays for Future europaweit die Debatten prägt: Hier ist für jeden halbwegs aufgeklärten Menschen unmittelbar offensichtlich, dass nicht einfach sinistre Eliten das Volk betrügen: Bei aller berechtigten Empörung über politische Untätigkeit und die Beharrungskräfte der fossilen Industrie ist in den westlichen Gesellschaften doch genug Wissen um die eigene Verstrickung in die vorherrschende Produktionsweise und die dominanten Konsummuster vorhanden, um die Schuld nicht allein auf Politik und Industrie abzuwälzen. Das Abschneiden der linken Parteien bei der Europawahl in Frankreich passt in dieses Bild: Dort hatte La France insoumise gehofft, ihre bedingungslose Unterstützung der Gelbwesten-Proteste[3] werde sie aus dem Umfragetief herausholen und erneut zur dominanten Kraft im eigenen Lager machen, die sie seit der Präsidentschaftswahl 2017 gewesen war. Stattdessen jedoch holten die Grünen, getragen von der Klimadiskussion, mit über 13 Prozent mehr als doppelt so viele Stimmen wie Mélenchons Partei. Das Problem der Linkspopulisten ist dabei vor allem, dass ihre Kritik zu simpel wirkt und ihre Strategie daran scheitert – ökologisch orientiert sind sie aber durchaus: Podemos-nahe Bürgermeisterinnen etwa sind in Madrid und Barcelona beachtliche Schritte hin zu einer autobefreiten Innenstadt gegangen.

Letztlich ist das Problem dieser Parteien also, dass sie oft mit idealistischen Zerrbildern der Gesellschaft operieren, obwohl eine Analyse von Klassen und Milieus ein genaueres Bild ergeben würde. In der Debatte um die Gelbwesten etwa nahmen Mélenchon und andere vor allem die offenkundigen finanziellen Nöte der Protestierenden wahr und glaubten, diese Revolte in linke Bahnen lenken zu können. Sie übersahen aber, dass dort ganz wesentlich ein Kleinbürgertum auf die Straße ging, das kulturell und politisch überwiegend zur (gemäßigten oder gar radikalen) Rechten neigt.

Noch eklatanter zeigt sich dieses Scheitern in der Auseinandersetzung um die offene Gesellschaft. Dabei begehen so manche Linkspopulisten, aber nicht nur sie, den Fehler, Weltoffenheit für das snobistische Anliegen kleiner, urbaner Minderheiten zu halten – und folglich Gegnerschaft zur Globalisierung für eine mehrheitsfähige Position. Doch bei allen Gegensätzen zwischen Stadt und Land ist das Bild auch hier differenzierter. So sind etwa in der Bundesrepublik viele auf den ersten Blick konservativ geprägte, ländliche Regionen stark in die Globalisierung integriert: Man kann etwa als Baden-Württemberger bewusst im Landkreis seiner Kindheit wohnen bleiben und zugleich über die Arbeit bei einem mittelständischen Unternehmen, das mit einer Spezialisierung Weltmarktführerschaft erlangt hat, in globale Produktionsketten eingebunden sein. Abschottung und fundamentale Gegnerschaft zur Globalisierung sind daher auch aus der Sicht von Beschäftigten aus der Provinz geradezu schädlich. Damit erweist sich der ohnehin arg idealtypisch konstruierte Gegensatz zwischen angeblich traditionsbewussten ländlichen „Lokalisten“ und vermeintlich abgehobenen städtischen „Globalisten“ als kleiner denn oft angenommen wird.[4]

Wie sehr es sich rächt, gesellschaftliche Widersprüche falsch einzuschätzen, zeigt derzeit Labour in der Brexit-Frage: Ihr Vorsitzender Jeremy Corbyn hatte lange geglaubt, den auf der Insel hart geführten Kulturkampf zwischen nationaler Selbstbestimmung und Weltoffenheit überspielen zu können. Das Eintreten gegen soziale Ungleichheit sollte beide Lager zusammenführen, so die Devise des Labour-Chefs, der sich dementsprechend vage zum EU-Austritt äußerte. Auf diese Weise wollte er den Erfolg bei der Parlamentswahl 2017 wiederholen, als Labour sowohl liberale Europäer als auch ehemalige Anhänger der rechtspopulistischen UKIP für sich gewinnen konnte. Angesichts des näherrückenden Austrittsdatums misslang dieses Kalkül aber spektakulär: Bei der Europawahl verlor die Partei scharenweise Wähler in beide Richtungen. Unter jenen, die 2014 bei der Europawahl ihr Kreuz bei Labour gemacht hatten, stimmten nun 39 Prozent für die europafreundlichen Liberaldemokraten und Grünen – und 13 Prozent für die neue Brexit Party.[5] Labour landete mit 13,6 Prozent bloß noch auf dem dritten Platz hinter Nationalisten und Liberalen. Damit bestätigte sich, wovor auch parteinahe Kritiker schon frühzeitig gewarnt hatten: Labour kann die beiden Lager in ihrer Anhängerschaft nicht einen, hat aber bei den Europafreunden mehr zu verlieren.[6] Mittlerweile gerät der europaskeptische Corbyn immer stärker unter Druck der eigenen Parteibasis – und zuletzt insbesondere der Gewerkschaften –, sich deutlich gegen den Brexit zu positionieren.

Das linke Dilemma

Syriza und Podemos wiederum ist es nicht gelungen, in nennenswerter Zahl konservative Wähler zu gewinnen. Bei Podemos scheiterte dies auch an den Gräben der Bürgerkriegsvergangenheit, die bis heute Wählerwanderungen zwischen den Lagern selten machen. Und Syriza wuchs vor allem zulasten der sozialdemokratischen Pasok. Das kann nicht verwundern: Bei aller rhetorischen Anrufung von Souveränität und Patriotismus agieren beide Parteien im Zweifel doch oft eher gegen nationalistische Tendenzen in ihren Gesellschaften: Podemos nahm in der harten Konfrontation zwischen katalanischer Unabhängigkeitsbewegung und den Verfechtern eines geeinten Spaniens eine Zwischenposition ein. Und Syriza setzte das Namensabkommen mit Nordmazedonien – den wohl größten Erfolg der Regierung Tsipras – gegen massive nationalistische Proteste durch, die auch von Teilen der griechischen Linken unterstützt wurden. Neben der Austeritätspolitik, die Syriza auf Druck der europäischen Gläubiger betreiben musste, trug auch das Abkommen zu ihrem Absinken in der Wählergunst bei.[7]

Selbst Mélenchon konnte mit seiner zuweilen offen nationalistischen Agitation kaum Wähler vom rechtsradikalen Rassemblement National (RN) zurückgewinnen. Im Gegenteil: Mehr als 80 Prozent derjenigen, die bei der Europawahl 2014 für Marine Le Pens Partei gestimmt hatten, taten dies fünf Jahre später erneut; deutliche Wählerwanderungen gab es nur zwischen den anderen Parteien.[8] Überraschend ist das nicht: Mélenchon stellt sich in die Tradition der Französischen Revolution, gerade mit Blick auf die Menschenrechte. Doch wer sich vom Nationalismus angezogen fühlt, bevorzugt offenkundig das rechte Original gegenüber einer universalistischen Linken.

Diese Erfahrungen verweisen auf ein grundsätzliches Dilemma: Einerseits dürfen die Linkspopulisten – und die Linke im allgemeinen – diejenigen Wähler aus dem progressiven Lager, die sich nach rechts abgesetzt haben, nicht einfach pauschal abschreiben. Ansonsten drohen Rechtsradikale mit ihrer Selbstinszenierung als „soziale Kraft“ oder gar „neue Arbeiterpartei“ dauerhaft erfolgreich zu sein. Die Lage in Frankreich bietet hierfür ein warnendes Beispiel: Bei der Europawahl war Le Pens RN stärkste Partei unter Arbeitern, während weder La France insoumise noch sonst eine linke Kraft in dieser und anderen ökonomisch schwächeren Gruppen mehr als 10 Prozent holte.[9]

Andererseits können linke Parteien schon deswegen nicht auf Abschottung, Gegnerschaft zur Globalisierung und Nationalismus setzen, weil das ihre jetzigen, weltoffenen Wähler verprellen würde.[10] Glaubwürdig wäre dieser Schwenk zudem nur bei einer weitgehenden Abwendung von multilateralen Orientierungen in der Europa-, Außen- und Klimapolitik, was letztlich mit einer dezidiert anti-westlichen Haltung einhergehen würde. Und so sehr Maximalforderungen wie die nach offenen Grenzen einen Teil der eigenen Wähler verschrecken, so wenig können linke Parteien selbst mit gemäßigten Positionen wie einer kontrollierten Zuwanderung – die von der Sozialdemokratie längst vertreten werden – taktisch punkten, da Konservative dabei meist als glaubwürdiger gelten.

Die Linke im allgemeinen sollte daher dort ansetzen, wo sie selbst immer noch als glaubwürdig gilt: bei der Herstellung sozialer Gerechtigkeit. Auflösen lässt sich dieses Dilemma also am ehesten, indem man zwar einerseits weiter für Offenheit eintritt aber andererseits zugleich der umfassenden Verunsicherung wie den Verlustängsten in Teilen der Gesellschaft begegnet. Verursacht werden diese nicht nur durch befürchtete ökonomische Einbußen, sondern auch durch die Entwertung kulturellen Kapitals wie Berufsqualifikationen im Zuge der Digitalisierung – und damit durch den Verlust von Anerkennung.[11] Gerade, aber keineswegs ausschließlich für autoritär geprägte Persönlichkeiten sind diese Ängste ein wesentliches Motiv, rechts zu wählen. Ihnen kann die Linke das bieten, worauf sie sich lange Zeit am besten verstanden hat: Anerkennung durch gesellschaftliche Teilhabe, soziale Sicherheit und langfristige ökonomische Perspektiven. Es geht dabei also nicht nur um Umverteilung, sondern auch um die Stabilisierung der Verunsicherten. Schon Theodor W. Adorno hielt Ende der 1960er Jahre primär den Appell an die „realen Interessen“ von Rechtswählern für aussichtsreich. In Studien hatte sich bei Menschen mit autoritärem Charakter gezeigt, dass „auch die vorurteilsvollsten Persönlichkeiten, die also durchaus autoritär, repressiv, politisch und ökonomisch reaktionär gewesen sind, an der Stelle, wo es sich um ihre eigenen durchsichtigen, für sie selbst durchsichtigen Interessen gehandelt hat, ganz anders reagieren.“ Diese „Spaltung im Bewußtsein der Menschen“ begriff Adorno als Hebel, um Anhänger rechtsradikaler Parteien zu erreichen.[12]

Genau dieses Versprechen von sozialer Sicherheit aber haben die Linkspopulisten oft nicht glaubwürdig formulieren können. So stark sie in der Kritik an Austerität und Neoliberalismus sind, so unscharf bleibt ihre Alternative. Exemplarisch bemängelt der spanische Soziologe César Rendueles, der Podemos kritisch zugetan ist, der Partei fehle es an „einem alternativen Gesellschaftsentwurf, der der Mehrheit – jenseits der theoretisch oder ideologisch interessierten Akademiker und Aktivisten – eine realistische Option des guten Lebens aufzeigt“.[13] Aber mehr noch: Sicherheit können die Linkspopulisten nicht nur aufgrund programmatischer Leerstellen kaum bieten, sondern auch aufgrund ihres konfrontativen Auftretens.

Das erklärt auch, warum in Portugal oder Spanien die Sozialdemokraten erstarken – und in Deutschland die Grünen. Ihr Sicherheitsversprechen ist zumindest habituell glaubwürdiger: Wenn schon nicht immer in ihrem politischen Handeln, so verkörpern sie doch zumindest in ihrem Auftreten eher die Aussicht, soziale Verbesserungen erreichen und bewahren zu können. Dementsprechend wurde bei den jüngsten spanischen Parlamentswahlen der PSOE stärkste Kraft in Gegenden mit hoher Arbeitslosigkeit, aber auch bei Menschen mit niedrigem Bildungsabschluss, während Podemos vorwiegend gebildete Städter anzog.[14] Auch im Lichte dessen ist es vorstellbar, dass sich Syriza künftig stärker in Richtung Sozialdemokratie entwickelt. Schon im Frühjahr wurden Spekulationen laut, die Partei erwäge, sich im Europaparlament der sozialdemokratischen Fraktion anzuschließen, was Tsipras zumindest nicht dementierte.

Gesucht: Das linke Zukunftsmodell

Allerdings fehlt es auch den südeuropäischen Sozialdemokraten derzeit an einem überzeugenden Modell. Erfolgreich sind sie eher als Reparaturbetrieb am Kapitalismus nach Jahren der neoliberalen Verwüstung. So stellen die portugiesischen Sozialisten geschleifte soziale Rechte wieder her, kurbeln die Binnennachfrage an, investieren auch vorsichtig in die Infrastruktur und machen bei alledem eine progressive Europa- und Flüchtlingspolitik. Das hat nicht nur zu einem wirtschaftlichen Aufschwung geführt, sondern ist auch eine beachtliche Ausnahme vom neoliberalen Trend – die umso bemerkenswerter ist, wenn man die ökonomische Schwäche Portugals bedenkt.[15] All dies bietet aber noch keine Antwort darauf, wie sich Solidarität in Zeiten von Klimawandel und globalem Finanzkapitalismus institutionalisieren lässt.

Wie hingegen ein alternatives linkes Modell aussehen könnte, lässt sich gerade in den USA beobachten. Dort sorgt ein Konzept für Aufsehen, das einst in Europa entwickelt wurde und mit dem die deutschen Grünen noch in den Europawahlkampf 2014 gezogen sind: der Green New Deal. Der zuerst von der demokratischen Kongressabgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez vorgelegte Plan will mit Milliarden-Investitionen die US-Wirtschaft begrünen, sodass nicht zuletzt der Energiebedarf des Landes binnen zehn Jahren zu 100 Prozent aus Erneuerbaren gedeckt werden kann. Dabei sollen Millionen neuer Jobs entstehen. Als Reaktion auf ihren Vorstoß haben aussichtsreiche demokratische Präsidentschaftsbewerber wie die linke Elizabeth Warren und selbst der gemäßigte Joe Biden ebenfalls ambitionierte sozial-ökologische Klimaschutzprogramme vorgelegt.[16]

Dieser Öko-Keynesianismus ist nicht nur mit Blick auf den Klimaschutz bedeutsam. Vielmehr besticht an diesem großangelegten Zukunftsprogramm, dass es integrativ für weite Teile der Gesellschaft wirken kann. Im Idealfall überbrückt es damit jene Gräben, die Rechtspopulisten derzeit auch in der Umweltfrage vertiefen wollen. Wo ein Donald Trump verunsicherte Bergleute mit dem Lob „unserer schönen Kohle“ umwirbt, punktet der Green New Deal mit der Aussicht auf zukunftsfähige Jobs.

Für die europäische Diskussion bietet dieses Programm deswegen eine wichtige Orientierung, weil es drei Merkmale vereint, die eine linke Zukunftsvision dringend benötigt: Es liefert, erstens, jene große Erzählung, nach der viele Parteien gerade suchen.[17] Sie lautet: Gemeinsam machen wir unsere Gesellschaft gerechter und bewältigen zugleich den Umbau zu einer klimaschonenden Wirtschaft. Dieses Programm ist, zweitens, getragen von einer inklusiven Vorstellung von Ökonomie und Gesellschaft: Bei diesem Umbau werden viele gebraucht, die dazu die entsprechende Weiterbildung erhalten und gesellschaftliche Anerkennung erfahren können. Und drittens schwebt das Konzept nicht bloß im Utopischen, sondern nennt konkrete Schritte, von der Sicherung der Küstenlinien bis zum Aufbau von Windparks.

All das zeigt: Dauerhaft erstarken wird die Linke weder durch populistisches Elitenbashing noch durch vorsichtige Detailreformen im Stile vieler Sozialdemokraten. Schon gar nicht hilft es ihr, sich an der Agenda der Rechten abzuarbeiten. Vielmehr muss die Linke den Mut beweisen, den Kapitalismus mit großen Reformen zu zähmen, ohne dabei vor der Komplexität heutiger Gesellschaften zurückzuschrecken – dann wird sie auch für verlorene Wähler wieder attraktiv.

[1] Sebastian Chwala, La France insoumise. Anmerkungen zu einer neuen postlinken Formation, www.zeitschrift-luxemburg.de, Februar 2019.

[2] Javier Moreno Zacarés, Podemos’s Divisions Are Finally Coming to a Head, www.novaramedia.com, 24.1.2019.

[4] Es ist dementsprechend kein Zufall, dass „Aufstehen“ in dem Moment gescheitert war, als Sahra Wagenknecht ihre Teilnahme an der „unteilbar“-Demonstration im Oktober 2018 in Berlin absagte – und diese dann mit 240 000 Menschen einen enormen Zuspruch erfuhr.

[5] Lord Ashcroft, My Euro-election post-vote poll: most Tory switchers say they will stay with their new party, www.lordashcroftpolls.com, 27.5.2019.

[6] Paul Mason, Labour must challenge the myth that the working class supports Brexit, www.newstatesman.com, 27.2.2019.

[7] Yiannis Mouzakis, How SYRIZA lost and New Democracy won, www.macropolis.gr, 27.5.2019.

[8] Jim Jarrassé, Européennes 2019: EELV en tête chez les jeunes, LREM et le RN ont puisé dans l’électorat de droite, www.lefigaro.fr, 27.5.2019.

[9] Brice Teinturier, Européennes 2019: sociologie des électorats, www.ipsos.com, 26.5.2019.

[10] Die zuletzt häufig angeführten dänischen Sozialdemokraten bieten hierbei kein Gegenbeispiel: Sie haben mit ihrer Abwehrhaltung gegenüber Flüchtlingen bei den jüngsten Parlamentswahlen nicht zugelegt, sondern kamen aufgrund von Zugewinnen ihrer linksliberalen und linken Bündnispartner an die Macht, die dezidiert für Einwanderung und Klimaschutz eintraten. Und die Schwächung der dänischen Rechtspopulisten resultiert wesentlich daraus, dass erstmals drei Rechtsaußenkräfte in Konkurrenz zueinander antraten, von denen eine an der Sperrhürde scheiterte. 

[11] Vgl. Wer wählt AfD – und warum? Interview mit Cornelia Koppetsch, www.deutschlandfunkkultur.de, 6.7.2019. 

[12] Theodor W. Adorno, Aspekte des neuen Rechtsradikalismus. Ein Vortrag, Berlin 2019, S. 51-52.

[13] César Rendueles, Globale Regression und postkapitalistische Gegenbewegungen, in: Heinrich Geiselberger (Hg.), Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Berlin 2017, S. 233-252, hier: S. 242.

[14] José Á. Carpio, Radiografía del voto: dime quién eres y te diré cómo votas, www.rtve.es, 30.4.2019

[16] Robinson Meyer, The Green New Deal Has Already Won, www.theatlantic.com, 5.6.2019.

[17] Felix Butzlaff und Robert Pausch, Partei ohne Erzählung: Die Existenzkrise der SPD, in: „Blätter“, 8/2019, S. 81-87.

Aktuelle Ausgabe September 2025

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