
Bild: Nikol Paschinjan, Ministerpräsident der Republik Armenien (imago images / Jürgen Heinrich)
Als am 12. Juli Schüsse an der aserbaidschanisch-armenischen Grenze fielen, richtete sich das mediale Interesse kurzzeitig auf die Konfliktregion Kaukasus. Bei den militärischen Auseinandersetzungen, die bis zum 23. Juli anhielten, starben auf aserbaidschanischer Seite zwölf Menschen, darunter ein General; vier Armenier*innen kamen zu Tode.[1] Seither beschuldigen sich beide Seiten gegenseitig, die Attacke begonnen zu haben. Nach armenischen Angaben hat ein aserbaidschanischer Jeep versucht, den armenischen Grenzposten zu durchbrechen, woraufhin die dort stationierten Soldaten das Feuer eröffneten. Daraufhin habe der Jeep kehrtgemacht, doch kurz danach hätten aserbaidschanische Truppen versucht, den Posten einzunehmen. Dabei sei auch Artillerie zum Einsatz gekommen. Aus Aserbaidschan hieß es hingegen, die armenische Armee habe mit dem Beschuss begonnen, um aserbaidschanische Stellungen einzunehmen.
Immer wieder kommt es zwischen den ehemaligen Sowjetrepubliken zu Auseinandersetzungen um strategisch wichtige Anhöhen. Das Grenzgebiet zwischen beiden Ländern ist gebirgig und damit schwer zu kontrollieren. Zudem weicht der faktische Grenzverlauf oft um mehrere Kilometer vom offiziell festgelegten ab. Wer die aktuelle Eskalation zu verantworten hat, lässt sich mangels neutraler Beobachter*innen kaum abschließend klären. Klar ist aber, dass auf den Zwischenfall die heftigsten Kämpfe zwischen Armenien und Aserbaidschan seit vier Jahren folgten: Im April 2016 waren im sogenannten Viertagekrieg schätzungsweise 200 Menschen getötet worden. Damals tobten die Kämpfe rund um die Region Berg-Karabach, die völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört, jedoch mehrheitlich von Armenier*innen bewohnt wird. Seit 1994 wird sie komplett von der international nicht anerkannten Republik Arzach kontrolliert – und damit faktisch von Armenien. Der Streit um Berg-Karabach ist wie viele andere Konflikte im Kaukasus eine fatale Nachwirkung der sowjetischen Nationalitätenpolitik und Hauptgrund für die seit über dreißig Jahren währende Feindschaft zwischen beiden Ländern.[2] Der Konflikt ist in beiden Gesellschaften mittlerweile tief in das kollektive Gedächtnis eingedrungen und Teil der jeweiligen Staatsräson geworden.
Schon ein Jahr bevor beide Staaten ihre Unabhängigkeit von Moskau zurückerlangten, war es 1990 in Aserbaidschan zu Pogromen an Armenier*innen gekommen, denen 90 Menschen zum Opfer fielen. Die Hauptlast an dem Konflikt hatte im folgenden dennoch Aserbaidschan zu tragen: Sämtliche Kriegshandlungen wurden ab 1991 allein auf dessen Territorium ausgetragen. Bis zum Waffenstillstand von 1994 unter Führung der Minsker Gruppe, der nicht zuletzt die USA, Frankreich und Russland angehören, verlor Aserbaidschan über 14 000 Quadratkilometer seines Staatsgebietes. Nach Zahlen von 2018 sind bei Kämpfen und beidseitig verübten Massakern bis zu 40 500 Menschen getötet worden, davon bis zu 15 500 Armenier*innen und bis zu 25 000 Aserbaidschaner*innen. In den 1990er Jahren wurden zudem mehrere hunderttausend Aserbaidschaner*innen aus Berg-Karabach vertrieben, die teilweise bis 2008 in Flüchtlingslagern leben mussten. Beobachter*innen sprechen daher von einer „ethnischen Säuberung“, die Armenien in Berg-Karabach durchgeführt habe.[3]
Dieser blutige Teil der Geschichte wird in Armenien – ebenso wie in Aserbaidschan – bis heute kaum aufgearbeitet. Dabei hatten die jüngsten innenpolitischen Entwicklungen Hoffnung auf einen Wandel geweckt: Nikol Paschinjan, durch die samtene Revolution von 2018 an die Macht gekommen, ist der erste Premierminister seit 1999, der weder aus Karabach kommt noch an den Kämpfen dort beteiligt war. 1998 musste der damalige Präsident Lewon Ter-Petrosjan zurücktreten, weil er bereit war, Aserbaidschan auf Kosten Berg-Karabachs Zugeständnisse zu machen. Seine Nachfolger Sersch Sargsjan und Robert Kotscharjan waren tief in die Kriegshandlungen verstrickt und am Massaker von Chodschali beteiligt, bei dem nach aserbaidschanischen Angaben innerhalb von zwei Tagen 613 Zivilist*innen massakriert wurden.[4] „Leider hat sich schnell herausgestellt, dass der politische Preis für eine Veränderung des Diskurses in Armenien sehr hoch ist und Paschinjan sein politisches Kapital für andere Themen lieber eingesetzt hat“, erklärt Stefan Meister, Leiter des Regionalbüros Südkaukasus der Heinrich-Böll-Stiftung. So führt Paschinjan den Prozess der Integration Berg-Karabachs in armenisches Gebiet konsequent fort. „Seine Politik bildet keinen Bruch mit der Politik seiner Vorgänger. Der öffentliche Druck und der Druck der Opposition auf ihn sind enorm, hier kann er sich keine Schwäche erlauben“, so Meister.[5]
Verbale Aufrüstung
Sein aserbaidschanischer Kontrapart machte sich indessen Anfang Juli öffentlich Luft. Vor Pressevertretern bezeichnete Präsident Ilham Alijew Armenien als „faschistisch“ und „Land der Kriminellen, Diebe und Korrupten“. Der Westen sei beeinflusst von einer „armenischen Lobby“. In Richtung der Minsker Gruppe sagte er: „Der Verhandlungsprozess bewegt sich nicht. Video-Konferenzen zwischen den Außenministern Armeniens und Aserbaidschans sind bedeutungslos. Es soll nur zeigen, dass die Minsker Gruppe aktiv ist. Aber das ist sie nicht. Aktiv zu sein, heißt zu handeln.“[6]
Derart harsch hatte Alijew die Diplomaten der Minsker Gruppe zuletzt im Februar und März 2016 kritisiert – kurz bevor seine Truppen Armenien angriffen. Doch Meister warnt vor voreiligen Schlüssen: „Alijew hat das Gefühl, nicht genug von der internationalen Gemeinschaft unterstützt zu werden, während Armenien Fakten schafft. Die Minsker Gruppe hat sich aus seiner Sicht in den letzten Jahren als ungeeignet herausgestellt, um Fortschritt zu schaffen. Dieses Interview hat sicher die Stimmung noch mal angeheizt, aber deshalb von einem Muster zu sprechen, ist reine Spekulation.“
Doch nicht nur der Präsident ging verbal in die Offensive. Einen Tag nach Beginn der jüngsten militärischen Auseinandersetzungen gab der aserbaidschanische Botschafter in Moskau, Polad Bulbuloglu, dem Radiosender „Goworit Moskwa“ ein bemerkenswertes Interview. Er räumte zwar nicht offen ein, dass Aserbaidschan das Scharmützel begonnen habe, erklärte aber, dies sei für ihn ein bedeutungsloses Detail. Viel entscheidender sei die Frage nach dem Warum: „Weil die Gebiete Aserbaidschans besetzt sind. Weil ausländische Einheiten sie mit Gewalt halten. [...] Solange die Gebiete Aserbaidschans besetzt sind, sind solche Vorfälle unausweichlich.“ Und weiter: „Verhandlungen können nicht um ihrer selbst willen geführt werden. Sie müssen Ergebnisse liefern. Wenn sie das nicht tun, dann sind militärische Aktionen selbstverständlich.“ Diese könnten auch in einen Krieg mit unabsehbaren Folgen für die ganze Region münden. Damit wich Bulbuloglu vom offiziellen aserbaidschanischen Tenor ab, allein Armenien als Aggressor zu beschuldigen. Da das Interview auch auf einem regierungsnahen Nachrichtenportal veröffentlicht wurde, ist davon auszugehen, dass es gelesen werden sollte.[7]
In Teilen der Bevölkerung jedenfalls ist diese Botschaft auf offene Ohren gestoßen. So kam es am 14. Juli in der Hauptstadt Baku zur größten Demonstration seit Jahren. Aus einem Trauermarsch für die getöteten Soldaten entwickelte sich eine spontane Kundgebung mit 30 000 Menschen, die zum Krieg gegen Armenien aufriefen.[8] Dabei skandierten sie Slogans wie „Karabach ist unser“, „Beende die Quarantäne und beginne den Krieg“ und „Karabach oder Tod“. Auf die Straße gingen vor allem junge Menschen, die den Krieg Anfang der 1990er Jahre nicht miterlebt haben.
Für den Politikwissenschaftler Rusif Husejnow, Direktor und Mitbegründer des Thinktanks Topchubasov Center in Baku, ist das ein Beleg, dass die aserbaidschanische Identifikation mit Berg-Karabach nicht von oben oktroyiert sei. Vielmehr gebe es eine Grassroots-Bewegung, die die kollektive Erinnerung erschafft: „Die Ressourcen und die Rhetorik der Regierung folgen diesen Gefühlen, dieser Identitäts- und Mythenbildung und führen sie nicht an.“[9] Das scheint nicht aus der Luft gegriffen, denn die militärische Eskalation fand mehrere hundert Kilometer nördlich von Berg-Karabach statt, wurde aber sofort mit diesem Konflikt in Verbindung gebracht.
Alijews Wahl-Farce
Zugleich nutzte die Regierung die Proteste, um missliebige Oppositionspolitiker*innen festnehmen zu lassen. Mehr als 70 Menschen wurden verhaftet, darunter auch unabhängige Journalist*innen.[10] Dabei war der Opposition vor der vorgezogenen Parlamentswahl am 9. Februar noch eine ungeahnte Mobilisierung gelungen.
Dies lag nicht zuletzt daran, dass der autokratisch regierende Alijew die Wahl in einem Moment der Schwäche ausrufen ließ: Schon vor der Corona-Pandemie befand sich das Land in einer ökonomisch schwierigen Situation. „Alijew begreift, dass eine allgemeine Unzufriedenheit über die allgegenwärtigen Restriktionen und die alte Garde, die das Land immer noch mit Sowjetmentalität regiert, um sich greift“, erklärt der Sozialwissenschaftler Nikolaj Aserow.[11] „Das alte Regierungsmodell, das vor allem auf Stabilität setzt, wirkt veraltet, vor allem, wenn man es mit den politischen Dynamiken in Georgien und Armenien vergleicht.“
Kurzzeitig war unter Oppositionellen wie in der Öffentlichkeit daher ein Hauch von Euphorie zu spüren. Es schien, als ob sich die autoritäre Regierung nicht ohne Weiteres an die Macht klammern könne. Doch die Hoffnung zerschellte an den ungleichen Bedingungen im Wahlkampf: Einzig die Regierungspartei darf Wahlwerbung im öffentlichen Fernsehen senden. „Es gibt keine Debatten zwischen den Kandidaten“, klagt Togrul Iskenderli von der nationalliberalen Partei Republikanische Alternative. „Die einzigen Möglichkeiten, die wir haben, sind Social Media und direkte Gespräche.“ Die OSZE meldet zudem systematische Belästigungen und sogar strafrechtliche Verfolgungen von Oppositionellen.[12] Der SPD-Bundestagsabgeordnete Frank Schwabe, der als Wahlbeobachter für den Europarat vor Ort war, bezeichnet die Wahl als „Farce“, die seine schlimmsten Befürchtungen übertroffen habe. Am Ende fiel das Ergebnis aus wie immer: Als einziger Oppositioneller schaffte Iskenderlis Parteikollege Erkin Gadirli den Sprung ins Parlament. Aserow macht das alles jedoch nicht nur aus demokratischer Sicht Sorgen, sondern auch mit Blick auf Berg-Karabach. „Es gibt die Angst, dass der Konflikt in westlichen Medien als Krieg zwischen Demokratie und Diktatur dargestellt werden könnte.“
Segen aus Moskau und Ankara?
Zugleich jedoch wird der Konflikt nicht alleine zwischen den beiden Ländern ausgetragen: Armenien hat den russischen Segen und Aserbaidschan steht der Türkei nicht nur auf sprachlicher und religiöser Ebene nahe. Nach dem Ende der Sowjetunion war die Türkei eines der ersten Länder, das Aserbaidschan anerkannte. Präsident Recep Tayyip Erdoğan folgte denn auch bereitwillig der aserbaidschanischen Argumentation und verurteilte Armenien aufs Schärfste: „Ich wünsche Allahs Gnade für unsere aserbaidschanischen Brüder. Wir sind besorgt, dass sich die Spannungen, die seit dem Einmarsch in Berg-Karabach in der Region herrschen, wegen der rücksichtslosen und systematischen Angriffe Armeniens in einen Konflikt verwandeln könnten.“[13] Russland hielt sich dagegen vergleichsweise zurück. Der Kreml brachte lediglich seine ernsten Bedenken zum Ausdruck, und Außenminister Sergej Lawrow versuchte, telefonisch zwischen beiden Seiten zu vermitteln.
Trotz der öffentlichen Zurückhaltung Moskaus stellt sich eine bange Frage: Bahnt sich hier ein neuer Stellvertreterkrieg zwischen Russland und der Türkei an? In Syrien und Libyen vertreten beide Länder bereits gegensätzliche Interessen. Zwar erscheint es unwahrscheinlich, dass Russland an seiner östlichen Flanke einen Krieg ausbrechen lässt, doch wird der Kreml der Türkei auch keinen Machtgewinn zugestehen wollen. Noch hält sich Erdoğan vergleichsweise bedeckt, um Russland nicht herauszufordern, selbst wenn die Türkei anscheinend Drohnen an Aserbaidschan geliefert hat. Stefan Meister von der Böll-Stiftung erwartet daher, dass sich Moskau und Ankara abstimmen und ihre gegenseitigen Interessen ausloten werden. Mehr Engagement wünscht er sich von der EU und der internationalen Gemeinschaft. Sie würden die Lage unterschätzen und Moskau damit die Möglichkeit geben, den Konflikt zu instrumentalisieren.
Eine diplomatische Lösung rückt dadurch in weite Ferne. Damit aber bleibt die Bedrohung im Raum: Der schwelende Konflikt könnte sich früher oder später zu einem offenen Krieg auswachsen.
[1] Vgl. Major clashes on Armenia-Azerbaijan border: update, www.nkobserver.com, 13.7.2020.
[2] Vgl. Max Brandt, Armenien vs. Aserbaidschan: An der Schwelle zum Krieg, in: „Blätter“, 6/2012, S. 32-35.
[3] Eva-Maria Auch, Berg Karabach: Krieg um den „schwarzen Garten“, in: Marie-Carin von Gumppenberg und Udo Steinbach, Der Kaukasus, München 2018.
[4] Maximilian Riegel, Armenien: Der mühsame Weg in die Demokratie, in: „Blätter“, 10/2019, S. 29-32.
[5] Soweit nicht anders angegeben, stammen alle Zitate aus Gesprächen mit dem Autor.
[6] Joshua Kucera, Azerbaijani president calls into question negotiations with Armenia, www.eurasianet.org, 7.7.2020.
[7] Vgl. www.haqqin.az/news/183649, 13.7.2020.
[8] Vgl. Pro-war Azerbaijani protesters break into parliament, www.eurasianet.org, 15.7.2020.
[9] Vgl. www.facebook.com/rsf.hsynv, 15.7.2020.
[10] Joshua Kucera, After huge Baku rally, Azerbaijan rounds up usual suspects, www.eurasianet.com, 17.7.2020.
[11] Aserow heißt eigentlich anders, fürchtet jedoch Repressionen des Regimes.
[12] Vgl. International Election Observation Mission Page: Republic of Azerbaijan, Statement of Preliminary Findings and Conclusion, www.osce.org.
[13] Vgl. „Turkey will never hesitate to stand against any attack on the rights of Azerbaijan“, www.tccb.gov.tr/en, 14.7.2020.