Ausgabe März 2021

Afghanistan: Die Rückkehr der Taliban?

Ein militanter Kämpfer (rechts) übergibt eine Waffe an einen lokalen Beamten während einer Kapitulationszeremonie in der Provinz Kunar, Afghanistan, 10. Januar 2021. (IMAGO / Xinhua)

Bild: Ein militanter Kämpfer (rechts) übergibt eine Waffe an einen lokalen Beamten während einer Kapitulationszeremonie in der Provinz Kunar, Afghanistan, 10. Januar 2021. (IMAGO / Xinhua)

Kurz vor Ende seiner Amtszeit ließ US-Präsident Donald Trump seinen Worten noch Taten folgen: Im vergangenen November ordnete er an, in Afghanistan die Zahl der 4500 stationierten Soldatinnen und Soldaten auf 2500 zu reduzieren – ein historischer Tiefstand seit dem Einmarsch der amerikanischen Armee im Jahr 2001.

Der nun erfolgte Teilabzug geht auch auf ein Abkommen zurück, das die kriegsmüden USA im Februar 2020 mit den militant-islamistischen Taliban in Doha, der Hauptstadt des Golfemirats Katar, vereinbart hatten. Es stellt den schrittweisen Rückzug aller US- und Nato-Streitkräfte bis Ende April 2021 in Aussicht. Im Gegenzug verpflichten sich die Taliban zu Friedensgesprächen mit der Regierung in Kabul, die im September aufgenommen wurden. Allerdings geriet dieser Prozess im Streit um Verfahrensfragen alsbald ins Stocken.

Noch ist daher offen, ob die internationalen Truppen das Land tatsächlich wie vereinbar bis Ende April verlassen werden. Auch kündigte die Biden-Administration an, das Doha-Abkommen auf den Prüfstand stellen zu wollen. US-Diplomaten kritisieren, dass die Taliban entgegen der Vereinbarungen kein Interesse an ernsthaften Verhandlungen zeigen und weiter Gewalt im Land säen. Die Taliban drohten daraufhin Anfang Februar mit einem „großen Krieg“, sollten die USA ihren Teil der Abmachung nicht einhalten.

Währenddessen eskaliert die Sicherheitslage am Hindukusch. Vor allem in den Provinzen kommt es immer wieder zu Gefechten, während die Hauptstadt Kabul von Terroranschlägen erschüttert wird. Ins Visier der Taliban geraten dabei vor allem Politiker, Journalisten und Sicherheitskräfte.

Je mehr aber der Regierung die Kontrolle im Land entgleitet, desto lauter wird die Kritik der Bevölkerung an ihr – zumal auch die Kriminalitätsrate stetig zunimmt. „Hier vergeht kein Tag ohne Gewalt. Viele Gegenden gelten als No-go-Areas, vor allem wenn man allein unterwegs ist. Man wird für ein Handy oder ein wenig Kleingeld ermordet. Hinzu kommen die gezielten Attentate auf wichtige Persönlichkeiten unserer Gesellschaft. All dies passiert vor unseren Augen, und niemand scheint es stoppen zu können oder zu wollen“, äußert sich etwa der 24jährige Ingenieur Zubair Hakim resigniert.

Manch einer wünscht sich inzwischen sogar offen das Taliban-Regime zurück. Damals, so hört man immer wieder, konnte man einen Sack Reis auf der Straße liegen lassen, ohne dass dieser gestohlen worden sei.

Grassierende Korruption und der Mangel an Sicherheit

Dieser Wunsch spiegelt die schiere Verzweiflung vieler Afghanen über die prekäre Lage in ihrem Land wider. Die wohlhabende Elite verbarrikadiert sich derweil in der „grünen Zone“ Kabuls hinter hohen Betonmauern, sie will von den Problemen der Menschen offenkundig nichts wissen.[1] Im Gegenteil: Die Regierung des amtierenden Präsidenten Ashraf Ghani und ihre Vertrauten gelten ebenfalls als hochgradig kriminell und korrupt.

Exemplarisch hierfür steht die politische Karriere des US-Afghanen Ajmal Ahmady. Er ist der künftige Schwiegersohn des Bruders des Präsidenten, Hashmat Ghani, unter dessen Regierung ihm ein beispielloser Aufstieg gelang. Mittlerweile ist Ahmady – unter Protest des Parlaments – zum Chef der Zentralbank ernannt worden und kassiert dort ein geradezu königliches Gehalt.[2] Kritiker sehen sich in ihrer Befürchtung bestätigt, dass die Präsidentenfamilie die Nationalbank bereits quasi als ihren Privatbesitz betrachte.

Derweil können die meisten Menschen nicht einmal mehr angstfrei den Basar besuchen. Sie führen die wachsende Unsicherheit allerdings nicht auf den schrittweisen Rückzug der US-Truppen zurück. „Wir brauchen keine ausländischen Soldaten, die uns schützen sollen. Dies sollte nämlich die Aufgabe unseres eigenen Sicherheitsapparates sein“, so Hakim. Dieser habe allerdings versagt – oder sei sogar selbst maßgeblich für die gefährliche Lage im Land verantwortlich.

Wie der Sicherheitsapparat gegen die eigene Bevölkerung vorgeht

Hakim gehört einer weiteren Generation in Afghanistan an, die mit Krieg und Terror aufgewachsen ist. Als die Friedensgespräche mit den Taliban vor gut einem Jahr begannen, hoffte er noch wie viele seiner Landsleute, dass diese zu einem dauerhaften Frieden führen könnten. Doch inzwischen ist ein gutes Jahr seit der Unterzeichnung des Doha-Abkommens verstrichen – ein Jahr, in dem sich für viele Afghanen nichts zum Besseren verändert hat.

Ganz im Gegenteil: Seit längerem gehen die Taliban weniger gegen die US-Truppen, sondern stattdessen gegen afghanische zivile Einrichtungen vor. Ihr Krieg, das machten die militanten Islamisten in den vergangenen Monaten immer wieder deutlich, richtet sich vermehrt gegen die „Unterstützer der Besatzer“. Inzwischen kursiert gar der Witz im Land, wonach es sicherer sei, im Schatten einer US-Militärbasis zu leben als andernorts am Hindukusch.

Umso gravierender ist es, dass der staatliche Sicherheitsapparat darin versagt, in seinem Kampf gegen die Taliban die afghanische Bevölkerung zu schützen. Vor allem im Süden des Landes kam es in den vergangenen Monaten immer wieder zu schweren Gefechten zwischen ihm und den Taliban. Die Armee bombardierte dabei selbst Moscheen und Schulen in ländlichen Gebieten, weil sich, so die Begründung aus Sicherheitskreisen, in den Gebäuden Talibankämpfer aufgehalten hätten. Hunderte Zivilisten starben bei diesen Angriffen, zehntausende Menschen wurden aus ihren Dörfern vertrieben.

Hinzu kommen lokale CIA-Milizen, die seit Jahren im Land aktiv sind. Es ist ein offenes Geheimnis, dass der US-Geheimdienst seit Beginn des „War on Terror“ afghanische Milizen rekrutiert hat, die vor allem eine Aufgabe haben: äußerst brutal gegen all jene vorzugehen, die sie als „Terroristen“ betrachten.[3] Vor allem zwei paramilitärische Gruppierungen üben dabei großen Einfluss aus: die Khost Protection Force (KPF), die in den Provinzen Khost, Paktia und Paktika agiert, und die sogenannte 02-Einheit aus der Provinz Nangarhar. Die Milizen agieren außerhalb der Strukturen der afghanischen Nationalarmee, stürmen regelmäßig Häuser und ermorden Zivilisten. Die Söldner wissen, dass ihnen niemand wirklich etwas anhaben kann; auch die afghanische Regierung geht nicht gegen sie vor.[4]

In den betroffenen Gebieten fernab von Kabul herrschen oftmals dystopische Zustände. Die Sicherheitskräfte werden dort vor allem als Aggressor wahrgenommen, der die eigene Bevölkerung als „Unmenschen“ und „Terroristen“ abstempelt und zum Abschuss freigibt. Die wachsende Wut und Trauer machen es den Taliban leicht, die radikalisierten Teile der Bevölkerung für ihre Zwecke zu rekrutieren und sich selbst wieder als ernstzunehmenden Machtfaktor zu etablieren.

Geschichte wiederholt sich – und findet kein Ende

Damit aber droht sich die Geschichte zu wiederholen – vergleichbar zu der Lage in Afghanistan in den 1990er Jahren nach dem Ende der sowjetischen Besatzung. Nachdem 1989 der „Eiserne Vorhang“ gefallen war, konnte sich das damalige kommunistische Regime in Kabul nicht lange an der Macht halten. Das Machtvakuum nutzen die Mudschaheddin-Rebellen, die zuvor mehr als ein Jahrzehnt lang die UdSSR und ihre afghanischen Verbündeten bekämpft hatten. 1992 fiel Kabul in ihre Hände, kurz danach brach ein Bürgerkrieg aus. Die Mudschaheddin bekriegten einander, sie plünderten, mordeten und legten die Hauptstadt in Schutt und Asche.

Die damaligen Verbrechen wurden nie aufgeklärt, geschweige denn gesühnt. Im Gegenteil: Nach dem Einmarsch der US-Truppen im November 2001 verbündeten sich viele der damaligen Kriegsverbrecher mit den Vereinigten Staaten und ihren Alliierten. Dank der westlichen Unterstützung wurden die Warlords immer mächtiger; Hilfsgelder aus dem Ausland flossen nicht in Krankenhäuser, Schulen oder Straßen, sondern in den Bau pompöser Paläste oder von Luxusappartements in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Vor allem aber dominieren die Kriegsherren von damals bis heute die afghanische Politik: Erst im vergangenen Juli wurde etwa General Abdul Rashid Dostum, einer der wohl bekanntesten afghanischen Kriegsverbrecher, von der Regierung zum Marshall ernannt – der höchste militärische Dienstgrad des Landes.[5]

Schon jetzt vergleichen nicht wenige Afghanen die derzeitige Entwicklung mit der damaligen Lage. Sie sind überzeugt, dass die geopolitischen Interessen externer Akteure sowie die grassierende Vetternwirtschaft einen Teufelskreis bilden, aus dem es schier kein Entrinnen gibt. Und es ist dieser Teufelskreis, der den Taliban einmal mehr an die Macht verhelfen könnte.

Die Stunde der Taliban?

„Es ist schon lange ein Punkt erreicht, an dem es vielen Menschen egal ist, wer hier regiert. Die sicherheitspolitische Situation in Afghanistan ist untragbar, ähnlich verhält es sich mit der wirtschaftlichen. Beide Aspekte sind vor allem für junge Afghanen unabdingbar. Wir können nicht unsere Zukunft planen, da wir in stetiger Angst leben“, meint der 30jährige Mohammad Idrees, der als Pflegekraft in einem Krankenhaus arbeitet.

Er ist froh, in diesen Zeiten einen Job zu haben. Die Arbeitslosenquote in der überdurchschnittlich jungen Gesellschaft ist hoch. Offiziell liegt sie bei gut 11 Prozent; Schätzungen zufolge ist sie aber tatsächlich weit höher. Viele Afghanen denken daher über Auswanderung, Flucht und ein Leben im Ausland nach. Sie blicken mit Zorn auf jene gut ausgebildete Nachwuchselite, die sich um Präsident Ghani geschart hat: Wie der neue Chef der Zentralbank, Ajmal Ahmady, haben die meisten von ihnen eine westliche Ausbildung genossen und sind dank Vetternwirtschaft in hochrangige Regierungspositionen gelangt. In ihren Funktionen machen sie dann aber vor allem wegen Korruptionsskandalen von sich reden.

„Man kommt sich einfach dumm und ungerecht behandelt vor. Viele junge Afghanen haben enorme Risiken in Kauf genommen, um in ihrer Heimat zu bleiben. Sie wollen ihrem Land in erster Linie helfen und sich nicht an westlichen Hilfsgeldern bedienen“, meint Hakim, der ebenfalls für die Regierung arbeitet. Die Korruption hat er selbst zu spüren bekommen: „Fähige Kräfte erfahren oftmals keine Anerkennung. Befördert wird man nur mittels Beziehungen“, sagt er.

Trotz der Brutalität, mit der die Taliban agieren, ist vor allem der jungen Generation klar, dass ein Frieden ohne die militanten Islamisten kaum denkbar ist. „Der Frieden, auf den wir hofften, ist noch nicht da. Stattdessen erleben wir eine Welle der Gewalt und verlieren tagtäglich Journalisten, Aktivisten, Menschenrechtler und Intellektuelle. Sobald die Taliban Teil der Regierung werden, besteht allerdings die Möglichkeit, dass viele von ihnen die Waffen niederlegen. Ich wünsche mir sehr, dass dies geschieht“, sagt Soraya Muradi, eine Studentin aus Kabul. Dabei ist sie sich darüber im Klaren, dass die Taliban nicht ihre Interessen vertreten.

Auch Muradi fragt sich, ob die Taliban tatsächlich einen Wandel einleiten können oder lediglich ihr gewaltsames Regime aus den 1990er Jahren wiedererrichten wollen. Fest steht jedoch schon jetzt, dass die gesellschaftliche Reintegration tausender Männer, die vor allem im Kampf mit der Waffe geschult sind, alles andere als einfach wird. Es ist durchaus denkbar, dass sich viele von ihnen kurzerhand einer anderen Gruppierung, etwa der afghanischen IS-Zelle, anschließen und dort ihren Kampf fortführen. Damit rechnen womöglich auch jene Teile der neuen US-Administration, die bereits angekündigt haben, den „Krieg gegen den Terror“ am Hindukusch fortsetzen zu wollen – dann allerdings gegen den IS und mit den Taliban als Verbündete.[6]

[1] Transparency International zählt Afghanistan zu den korruptesten Staaten der Welt. Vgl. www.transparency.org.

[2] Vgl. Blurred lines of a contract; Ajmal Ahmady paid per day USD 500, www.kabulnow.af, 24.8.2020. 500 US-Dollar entspricht etwa dem durchschnittlichen Monatseinkommen in Afghanistan.

[3] Vgl. Human Rights Watch, Afghanistan: CIA-Backed Forces Commit Atrocities, www.hrw.org, 31.10.2019. Dabei geraten immer wieder auch Journalisten ins Visier der Milizen: Vgl. Emran Feroz, Morde an Journalisten bedrohen die Pressefreiheit, www.deutschlandfunkkultur.de, 22.1.2021.

[4] Vgl. Astri Suhrke und Antonio De Lauri, The CIA’s „Army“: A Threat to Human Rights and an Obstacle to Peace in Afghanistan, https://watson.brown.edu, 21.8.2019.

[5] Vgl. dazu: Marco Seliger, Mein Vater, der Blutsäufer, www.faz.net, 11.1.2018.

[6] Vgl. dazu Wesley Morgan, Our secret Taliban air force, www.washingtonpost.com, 22.10.2020.

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