Ausgabe September 2022

Grün, digital, neoliberal: Die Ukraine als Versuchslabor

Wolodymyr Selenskyj hält eine Video-Ansprache auf der Ukraine Recovery Conference in Lugano, 4.7.2022 (IMAGO/ZUMA Wire)

Bild: Wolodymyr Selenskyj hält eine Video-Ansprache auf der Ukraine Recovery Conference in Lugano, 4.7.2022 (IMAGO/ZUMA Wire)

Es mutet paradox an: Derweil der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine in seinen siebten Monat geht, er weiter unermessliches Leid über die Bevölkerung bringt und die Zerstörung von Wohnhäusern, Infrastruktur und Agrarflächen vorantreibt, ist die Debatte über den Wiederaufbau des kriegsversehrten Landes bereits in vollem Gange. Erst Mitte August wurde vermeldet, dass der deutsche Mobilfunkanbieter O2 Telefónica mehrere Tausend Netzkomponenten an die Ukraine spendet, um das durch den Krieg zerstörte Netz zu erneuern. Und Ende Juli genehmigte der Verwaltungsrat der Europäischen Investitionsbank (EIB) knapp 1,6 Mrd. Euro Finanzhilfe für das Land, mit denen unter anderem die Wiederinbetriebnahme der wichtigsten Infrastruktur und Dienstleistungen sichergestellt und strategisch bedeutenden Staatsunternehmen unter die Arme gegriffen werden soll. Es ist – nach 668 Mio. Euro Soforthilfe im März – bereits das zweite Solidaritätspaket für die Ukraine, das die EIB gemeinsam mit der Europäischen Kommission schnürt.

Wie aber soll der nun bereits in Ansätzen anlaufende Wiederaufbau genau aussehen – und wie finanziert werden? Über diese Fragen wurde Anfang Juli auf der „Ukraine Recovery Conference“ am Luganer See in der Schweiz verhandelt. Unter Schirmherrschaft des Schweizer Außenministers Ignazio Cassis kristallisierte sich dort eine Vision der zukünftigen ukrainischen Gesellschaft heraus – zumindest jene, die der Regierung Selenskyj vorschwebt. Die Vision lässt sich auf folgende Formel bringen: ein Staat wie ein Start-up, grün und gesellschaftspolitisch aufgeschlossen, flexibel und digital, ohne als lästig empfundene Arbeitsmarktregulierungen und korrupte Strukturen. Ein zuverlässiger Partner fürs internationale Kapital, dessen Vertreter*innen – vom Chemieriesen Novartis und dem Agrarkonzern Syngenta über die globalen Techkonzerne bis zu Beratungsfirmen wie PWC oder McKinsey – ebenfalls in großer Zahl nach Lugano gereist waren, um sich Investitionsfelder zu erschließen oder Beratungsmandate zu ergattern. Ein Partner vor allem, der Reformen im Sinne dieser Investor*innen zügig vorantreibt und dabei oft nur wenig Rücksicht auf die Rechte der Beschäftigten nimmt. Wer also den offiziellen Entwurf einer möglichen Nachkriegsukraine betrachten wollte, kam nicht umhin, in diesen heißen Sommertagen ins Tessin zu blicken.

Welche Bedeutung die ukrainische Regierung der Konferenz beimaß, zeigte sich allein schon an der Größe ihrer Delegation: Während Bundeskanzler Olaf Scholz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron der Konferenz fernblieben und stattdessen gemeinsam in Paris dinierten, reisten nicht nur diverse osteuropäische Staatschef*innen nach Lugano, sondern auch die größte ukrainische Delegation überhaupt, die das Land seit Kriegsausbruch verlassen hat: Angeführt von Premierminister Denys Schmyhal und Parlamentspräsident Ruslan Stefantschuk kamen sieben Minister und mehrere hundert Personen aus Politik und Wirtschaft, aber auch von NGOs und zivilgesellschaftlichen Initiativen just in jene Stadt, die jahrelang als einer der wichtigsten Handelsplätze für russischen Stahl galt. Zwar war Präsident Wolodymyr Selenskyj in Kiew geblieben, er gab aber trotzdem den Ton an – in einer seiner inzwischen berühmten Videoansprachen fürs internationale Publikum. Russlands Angriff auf sein Nachbarland sei „kein Krieg irgendwo im Osten“, sondern eine „ideologische Konfrontation“, stellte Selenskyj klar. „Der terroristische Staat hofft, dass solche Zerstörungen die Unfähigkeit des demokratischen Systems beweisen.“ Deshalb sei der Wiederaufbau nicht nur ein lokales Projekt, sondern eine Aufgabe der gesamten demokratischen Welt.

Eine Frage war im Vorfeld heftig diskutiert worden: Unter wessen Ägide soll der Wiederaufbau vonstattengehen? In Lugano gab EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bekannt, die EU werde eine „Koordinationsplattform“ einsetzen, an der sich neben Staaten auch internationale Organisationen und private Kapitalgeber beteiligen können. „Den Lead haben wird aber die Ukraine“, versprach von der Leyen. Klar ist allerdings, dass sich das Land, dem der Kandidatenstatus für den EU-Beitritt nur wenige Tage vor der Konferenz offiziell zugesprochen worden war, mit seinen westlichen Partnern sehr eng abstimmen muss – es ist schlicht finanziell abhängig. In Lugano schätzte Premierminister Schmyhal die Kosten für den Wiederaufbau auf mindestens 750 Mrd. US-Dollar. Weil die Kriegshandlungen unvermindert weitergehen, dürften diese allerdings um ein Vielfaches höher ausfallen. Über die konkrete Finanzierung wurde bei der Ukraine-Konferenz zwar nicht gesprochen, und auch konkrete Zusagen wurden nicht gemacht. Schmyhal allerdings machte klar: Aus Sicht der Ukraine soll das Geld primär aus im Ausland beschlagnahmten Devisen der russischen Zentralbank sowie der Konfiszierung von Geldern russischer Oligarchen kommen – zahlen soll also der Aggressor.

Auch auf der abschließenden Pressekonferenz bekräftigte Schmyhal diese Forderung – und stieß ausgerechnet beim Schweizer Außenminister Cassis auf taube Ohren. Allein in der Schweiz liegen schätzungsweise rund 200 Mrd. Franken russisches Vermögen, doch Cassis schwang sich lieber zur großen Grundsatzrede über „das Recht auf Eigentum als fundamentales Menschenrecht“ auf: „Der Bürger muss vor dem Staat geschützt werden!“ Gesetzeswidrig wäre eine solche Konfiskation, ein gefährlicher Präzedenzfall. Dabei gibt es längst Überlegungen, wie Oligarchengelder effektiv ausfindig gemacht werden können: So schlägt etwa der französische Ökonom Thomas Piketty den Aufbau eines internationalen Finanzregisters vor, das den Wohlstand der Wenigen global dokumentieren würde.[1]

Während die ukrainischen Vorstellungen zur Finanzierung des Wiederaufbaus klar waren, blieben sie bei dessen Prämissen ausgesprochen vage.

Grün, flexibel und digital: Die Vision von einer neuen Ukraine

Nach der direkten Nothilfe im Krieg soll die zerstörte Infrastruktur erneuert werden, bevor es dann um langfristige Ziele für eine Reform des Staates gehen soll. Was das konkret bedeutet, ließ Schmyhal allerdings offen. Stattdessen nannte er bloß sieben wolkige Prinzipien: „Partnerschaft“, „Fokus auf Reformen“, „Transparenz“, „demokratische Teilhabe“, „Einbeziehung verschiedener Interessenvertreter“, „Gleichberechtigung der Geschlechter“ und „Nachhaltigkeit“. Unter anderem wurde in der Abschlusserklärung der Kampf gegen Korruption besonders hervorgehoben. Auch die „Deoligarchisierung“ wird als „Grundvoraussetzung“ für den Wiederaufbauplan genannt.[2] Zur Sprache kam aber auch das von Selenskyj angedachte Patenschaftssystem: Einzelne Staaten, Gemeinden, aber auch Unternehmen sollen sich Projekte oder Regionen in der Ukraine aussuchen, deren Wiederaufbau sie dann finanzieren. Etwas konkreter wurde es dafür in einzelnen Bereichen, etwa bei der Energieversorgung. Neben dem Ausbau der Kernenergie, den die ukrainische Atombehörde Energoatom gemeinsam mit dem US-Konzern Westinghouse vorantreiben will, soll der Anteil der erneuerbaren Energien steigen, sagte Energieminister Herman Haluschtschenko in Lugano: „Mein Ziel ist es, alle davon zu überzeugen, dass sich die Ukraine als Versuchslabor für die besten neuen Technologien im Energiesektor eignet.“ Er verglich die Situation mit Rüstungskonzernen: Auch die würden in der Ukraine die Effizienz ihrer neusten Waffen zeigen wollen.[3]

Am Projekt „Recovery“, das im Vorfeld immer wieder mit dem Marshallplan der Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg verglichen worden war und das die ukrainische Delegation in Lugano präsentierte, war in Kiew zwei Monate lang gearbeitet worden. Gemäß der ukrainischen Ausgabe des Wirtschaftsmagazins „Forbes“ zählte dabei ausgerechnet Francis Fukuyama, der nach dem Zerfall der Sowjetunion das „Ende der Geschichte“ ausgerufen hatte, zu den prominentesten Berater*innen.[4] Ausgearbeitet wurde der Text laut „Forbes“ vom Reform Delivery Office, einem Expert*innengremium, das seit 2016 besteht, von der EU-Kommission und der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung mitfinanziert wird und dazu gedacht ist, die Regierung bei ihren Reformbestrebungen zu unterstützen. Eingeflossen sind aber wohl auch Überlegungen einer Gruppe namhafter internationaler Ökonomen wie dem US-Amerikaner Kenneth Rogoff, die im April eine „Blaupause für den Wiederaufbau“[5] mit einem ganzen Repertoire an Liberalisierungsmaßnahmen präsentierten. Flexiblere Arbeitsverträge und neue Arbeitsgesetze, großflächige Privatisierungsbestrebungen und die bevorzugte Vergabe von Krediten an den Exportsektor – einige dieser Empfehlungen der Expert*innen finden sich nicht nur in den Lugano-Prinzipien, sondern sind bereits Teil diverser aktueller Gesetzesprojekte. Die Sicht der Beschäftigten, die das Ziel dieser Maßnahmen sind, wollte man in Lugano jedoch nicht hören. Zwar war die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) mit einem Vertreter vor Ort, offiziell in die Überlegungen eingebunden wurde sie allerdings nicht. Auch Repräsentant*innen ukrainischer Gewerkschaften suchte man auf der Konferenz vergeblich.

Deregulierung im Schatten des Krieges

Kürzungen, Sparmaßnahmen und eine neoliberale Agenda statt sozialer Gerechtigkeit: Diese Richtung hatte Kiew schon vor Jahren eingeschlagen. 2019 etwa hatte der damalige Premierminister Oleksi Hontscharuk ein neues Arbeitsgesetz angekündigt. Es sei einfacher, sich scheiden zu lassen, als einen Angestellten zu entlassen, erklärte er seine Motivation. „Jemanden anzustellen ist wie eine Adoption.“[6] Schon damals hatten Gewerkschaften vor einer drohenden Entrechtung der Arbeitenden gewarnt. Wie ihre Vorgängerinnen richtet auch die Regierung Selenskyj ihre Politik nach den Wünschen ausländischer Kreditgeber*innen wie des Internationalen Währungsfonds (IWF) aus, von dessen Geld die Ukraine abhängig ist. Aus Sorge, das Kapital würde sonst nicht in der Ukraine investieren, brachte sie eine neoliberale Reform nach der anderen durchs Parlament, in dem Selenskyjs Partei Sluha Narodu (Diener des Volkes) die absolute Mehrheit hat, etwa im Gesundheitswesen. Beraten wird sie dabei auch von westlichen Partner*innen: 2021 wurde bekannt, dass das britische Außenministerium Workshops organisiert hatte, in dem es dem ukrainischen Wirtschaftsministerium erklärte, wie sich die Wähler*innen am besten vom Nutzen neoliberaler Arbeitsgesetze überzeugen lassen.[7] Die Arbeitenden in der Ukraine gehören seit Kriegsausbruch nun allerdings zu jenen, die unter den brutalen Angriffen der russischen Armee am meisten leiden: Gemäß ukrainischen Angaben gehen 80 Prozent der Todesfälle am Arbeitsplatz auf diese zurück. Und laut Schätzungen der ILO haben der Krieg und seine Folgen rund 30 Prozent aller Arbeitsplätze vernichtet.[8] Dennoch wurden ihre Rechte durch die auf die Aggression folgende Ausrufung des Kriegsrechts eingeschränkt: Zurzeit sind Streiks verboten, das Arbeitsinspektorat kann etwaige Verstöße nicht mehr dokumentieren, weil es seine Besuche in den Betrieben eingestellt hat. Im öffentlichen Sektor können viele Löhne nicht mehr gezahlt werden, Hunderttausende, wenn nicht Millionen haben wegen der russischen Angriffe ihre Jobs verloren. In dieser Situation bleibt den Gewerkschaften für den Schutz ihrer Mitglieder nur wenig Raum.

Hinzu kommen Arbeitsmarktreformen, die zuvor unter anderem am Protest der Gewerkschaften gescheitert waren, nach Kriegsbeginn aber wieder aus der Schublade geholt wurden. Von der Regierung als „Antikrisenmaßnahmen“ für den gebeutelten Arbeitsmarkt verkauft, beschneiden sie in Wahrheit vor allem die Rechte der Beschäftigten. Nur wenige Wochen nach dem russischen Angriff verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das unter anderem den Kündigungsschutz lockert und die maximale Arbeitszeit auf 60 Stunden pro Woche erhöht. Der größte Angriff auf die Rechte der ukrainischen Beschäftigten aber erfolgte am 19. Juli: Zum einen wurden sogenannte Nullstundenverträge erlaubt – eine radikale Form von Arbeit auf Abruf, bei der kein Anspruch auf eine Mindestarbeitszeit besteht und nur real erbrachte Leistungen vergütet werden. Zum anderen verabschiedete das Parlament ein Gesetz zur „Vereinfachung der Arbeitsbeziehungen in kleinen und mittleren Unternehmen“, was rund 70 Prozent aller Angestellten betrifft. Sie werden künftig nicht mehr von den noch aus der Sowjetzeit stammenden nationalen Arbeitsgesetzen geschützt. Statt Kollektivverträgen sollen die Beschäftigten fortan individuelle Verträge mit ihren Arbeitgeber*innen abschließen, in denen dann jeweils auch Arbeitsbedingungen und Löhne definiert werden können.

Der Entwurf stammt aus der Feder einer NGO des ehemaligen georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili, der die ukrainische Regierung gemeinsam mit der US-Behörde USAid und dem Arbeitgeberverband beraten hat. Während die Befürworter*innen behaupten, die aktuellen Bestimmungen würden „die Entwicklung der Firmen behindern“, befürchten die Gegner*innen des Vorhabens eine starke Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, etwa die Erleichterung fristloser Kündigungen, ohne die Gewerkschaften auch nur nominell konsultieren zu müssen.

Maximale Flexibilisierung und die komplette Deregulierung des Arbeitsmarktes: Die Maßnahmen kommen einem gefährlichen Paradigmenwechsel gleich. „Ultraliberale Zugeständnisse an die Arbeitgeber werden den Rückgang des Lebensstandards nur beschleunigen, nicht aber den Aufschwung der Wirtschaft fördern“, schreibt etwa die linke Basisorganisation Sozialnyi Ruch (Soziale Bewegung).[9] Kritik am Gesetz über die Individualverträge kam auch von der ILO, dem Sozial- und Wirtschaftsausschuss der UNO und europäischen Gewerkschaften. Letztere befürchten, es könnte „internationale Arbeitsstandards verletzen“. Anfang August richteten ukrainische Gewerkschaften deshalb einen Appell an den Präsidenten:[10] Das Gesetz werde zu Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt führen, befürchten sie, weil die Arbeitgeber*innen unterschiedliche Löhne für die gleiche Arbeit sowie unterschiedliche Bedingungen in Bezug auf Urlaubsregelungen oder Wochenendarbeit festsetzen könnten. Entsprechend breche das Gesetz das in der ukrainischen Verfassung festgelegte Recht auf Arbeit. Die Gewerkschaften riefen Selenskyj dazu auf, sein Veto gegen das Gesetz einzulegen. Genutzt hat der Widerstand allerdings kaum.

Ein erfreuliches Gegenbeispiel – die staatliche Eisenbahn

Die Reformbestrebungen treffen auf ein Land, dass zu den ärmsten in Europa gehört. Schon die Finanzkrise sowie der seit acht Jahren andauernde Krieg im Donbas und die Corona-Pandemie belasteten den ukrainischen Staatshaushalt schwer. Stand März 2022 betrugen die Auslandsschulden 127,5 Mrd. US-Dollar, was fast 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entspricht. Zu einer ökonomisch bereits äußerst schwierigen Situation kommt nun noch der russische Angriffskrieg. Offensichtlich ist, dass die Ukraine, deren Wirtschaftskraft in diesem Jahr Schätzungen zufolge um die Hälfte einbrechen könnte, nicht in der Lage sein wird, ihre Schulden zu begleichen. Weil dies den angestrebten Wiederaufbau erst recht verunmöglicht, werden seit Monaten Forderungen nach einem Schuldenerlass laut. Inzwischen hat auch die Regierung um einen Aufschub bei der Rückzahlung einiger internationaler Kredite gebeten. Und die G7-Staaten gewährten der Ukraine ein Moratorium auf die geschuldeten 1,5 Mrd. Dollar bis Ende 2023. An der prekären Situation wird dieser Schritt aber nur wenig ändern können.[11] „Ein Wiederaufbau, der auf neoliberaler Politik basiert, wird zu noch größerer Armut und Oligarchisierung führen“, schreibt Sozialnyi Ruch. Dessen Vertreter*innen betonen die soziale Dimension des Wiederaufbaus und fordern eine Steuerreform, die den Reichtum umverteilen würde, einen demokratisch-transparenten Prozess der Entscheidungsfindung, der die ganze Gesellschaft einbinden würde, und staatliche Investitionen statt möglichst viel Deregulierung.

Ein erfreuliches Gegenbeispiel zum neoliberalen Trend und ein Symbol für die Bedeutung des Öffentlichen Dienstes ist derweil die staatliche Eisenbahngesellschaft Ukrsalisnyzja. Im Zuge der vielen Reformen der letzten Jahre war auch deren Privatisierung ein Thema; im Gespräch war etwa der Verkauf des gewinnbringenden Gütertransports. Doch als der Ukrsalisnyzja im Krieg eine Schlüsselrolle zukam – durch die Evakuierung von Millionen Zivilist*innen, aber auch die Beförderung von humanitärer Hilfe und militärischem Material – waren die Privatisierungspläne plötzlich vom Tisch, zumindest vorerst. „Wir müssen unsere Haltung überdenken“, sagte Infrastrukturminister Oleksandr Kubrakow auf der Lugano-Konferenz im Juli. Im Krieg habe man mit privatenFirmen zur Unterhaltung von Straßen schlechte Erfahrungen gemacht, weil sich diese geweigert hätten, Schäden zu reparieren. „Mir scheint es besser“, so Kubrakow, „wenn die Eisenbahn nahe beim Staat bleibt.“[12] Welcher Entwurf für die Zukunft des Landes sich am Ende tatsächlich durchsetzen wird, hängt nicht zuletzt vom Ausgang des Krieges ab – dieser jedoch geht vorerst unvermindert weiter.

[1] Vgl. Thomas Piketty, The western elite is preventing us from going after the assets of Russia’s hyper-rich, www.theguardian.com, 16.3.2022.

[2] Ukraine Recovery Conference, Recovery Plan, www.urc2022.com/urc2022-recovery-plan.

[3] „Alle müssen heizen können“, www.woz.ch, 7.7.2022.

[4] Сергей Шевчук и Ольга Гордиенко, Операция «Лугано». Правительство представит украинский «план Маршалла» в Швейцарии. Кто и как пишет программу восстановления, www.forbes.ua, 29.6.2022.

[5] Center for Economic Policy Research, A Blueprint for the Reconstruction of Ukraine, www.cepr.org, 8.4.2022.

[6] Премьер о трудовом кодексе: в Украине сейчас проще развестись, чем уволиться, www.epravda.com.ua, 23.1.2020.

[7]  Leaked documents show UK government supports anti-union labour reform Ukraine - undermining European Union policy, www.epsu.org, 10.11.2021.

[8] ILO response to the Ukraine crisis, www.ilo.org.

[9] Трудова реформа стає ще небезпечнішою, www.rev.org.ua, 30.6.2022.

[10] Joint Appeal by Ukranian Trade Unions Against Attack on Workers Rights, www.ukrainesolidaritycampaign.org, 5.8.2022.

[11] Für historische Hintergründe zum Verhältnis der Ukraine und des IWF vgl. auch Kapitel 21 in: Adam Tooze, Crashed. Wie zehn Jahre Finanzkrise die Welt verändert haben, München 2018.

[12]Anna Jikhareva und Kaspar Surber, Ein Staat als Start-up, www.woz.ch, 7.7.2022.

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