
Bild: Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, 6.12.2022 (IMAGO / Chris Emil Janßen)
Dass das deutsche Gesundheitssystem schlechter ist als sein Ruf, dürfte inzwischen bis in den letzten Winkel der Republik vorgedrungen sein. Doch nur einem kleinen Kreis war bislang bekannt, dass es um die Kinderversorgung besonders schlecht steht. In den Fokus rückte diese erst, seit im November 2022 nicht nur Erwachsene, sondern vor allem der Nachwuchs von heftigen Atemwegsinfektionen betroffen war und sich Eltern die Augen rieben, weil plötzlich weder einfache Fiebersäfte noch Krankenhausbetten für ihre Jüngsten verfügbar waren. Dabei warnen Pädiater:innen schon jahrelang vor dem absehbaren Notstand. So noch vor einem Jahr Wolfgang Kölfen, Verbandssekretär der leitenden Kinderklinikärzte, der im „Deutschen Ärzteblatt“ beklagte, dass in den vergangenen zehn Jahren 30 Prozent der Betten in den deutschen Kinderkliniken verloren gegangen seien.[1]
Das Fiasko in den Kinderkliniken rückt ein Abrechnungssystem in den Blick, das schon längst hätte abgeschafft werden müssen: die Fallpauschalen (DRG). Für viele Häuser rechnen sich die Kinder- und Jugendabteilungen nicht mehr, weil die jungen Patient:innen – auch weil die Eltern darüber mitbestimmen – nicht so lange im Krankenhaus bleiben. „Liegt ein Patient kürzer im Krankenhaus, als die definierte Verweildauer im DRG vorsieht“, so Kölfen, „rutscht der Patient in die Grenzwertverweildauer.“ Das Krankenhaus erhalte dann statt beispielsweise 2000 Euro nur 500 Euro. Einen weiteren Grund sieht Kölfen im Investitionsstau, weil die dafür verantwortlichen Länder ihrem Auftrag nicht nachkommen. Zudem führt die 2020 eingeführte generalistische Pflegeausbildung seiner Ansicht nach zu einem ausgeprägten Mangel an Kinderkrankenpfleger:innen. Wer mit Kindern arbeiten wolle, entscheide sich schon früh dafür und wolle nicht in die Erwachsenenpflege.
Doch beim Gang durch die heutige Ausbildung, bei der die Pflegeschüler:innen durch alle Bereiche geschleust werden, bleiben viele hängen und brechen ab. Dabei sind Schätzungen zufolge zusätzlich 3000 Vollzeitkräfte in der Kinderkrankenpflege nötig. So stand Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) unter akutem Druck, als er auf die Idee verfiel, Pflegepersonal von den Normal- auf die Kinderstationen zu verlegen. Von „Inkompetenz im Ministerium“ sprach der Vorsitzende des Berufsverbands der Kinder und Jugendärzte, Jakob Maske, im „Deutschlandfunk“.[2] Zumal auf den Stationen für Erwachsene ebenfalls Pflegepersonal fehlt.
Zum großen Wurf holte Lauterbach Anfang Dezember aus, als er zusammen mit seiner nur aus Sachverständigen zusammengesetzten Expert:innenkommission sein Konzept zu einer großen Krankenhausreform vorstellte.[3] Er wolle der „Überökonomisierung des Gesundheitssystems“ ein Ende setzen, versprach er, und die Kliniken wieder zu einem Teil der Daseinsvorsorge machen. Er verstieg sich sogar dazu, eine „Revolution“ anzukündigen, die das DRG-System überwinde, den Menschen wieder in den Mittelpunkt der Medizin rücke und das Gesundheitssystem aus dem „Hamsterrad“ befreie, in dem es die vergangenen 20 Jahre gestrampelt habe. Der Gesundheitsminister stellte außerdem heraus, dass die Kommission ausschließlich aus Expert:innen zusammengesetzt sei und die üblichen Lobbyist:innen keinen Einfluss auf das Konzept gehabt hätten. Das allerdings steht infrage.
Von einer »Revolution« weit entfernt
Doch worin besteht nun diese „Revolution“? Sollte Lauterbach die lange von vielen Akteur:innen im Gesundheitssystem geforderte Abwicklung der Fallpauschalen tatsächlich auf den Weg gebracht haben? Sollte er damit den Krankenhäusern eine auskömmliche Finanzierung bereitstellen, die es erlaubt, dass sich Ärzteschaft und Pflegende wieder um die Hilfesuchenden kümmern, statt sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie sie ihren Häusern möglichst viel Geld eintreiben? Fest steht: Von einer Überwindung oder gar von einem Ende der Fallpauschalen kann keine Rede sein.
Bisher ist es gängige Praxis, dass die Kliniken pro Behandlungsfall nur eine bestimmte Summe abrechnen können – unabhängig davon, ob die Patient:innen länger als geplant in der Klinik bleiben müssen. Der Anreiz für die Klinikleitungen besteht somit darin, möglichst viele, möglichst lukrative, mit möglichst wenig Aufwand verbundene Behandlungen durchzuführen – etwa der insbesondere von privaten Kliniken angebotene Ersatz von Knie- oder Hüftgelenken –, unabhängig davon, ob diese medizinisch indiziert sind. Schwierigere Prozeduren oder Komplikationen, die lange Liegezeiten nach sich ziehen, drücken dagegen aufs Budget.[4]
Die Expert:innen schlagen nun vor, das System zu modifizieren, indem Kliniken nur noch 60 Prozent ihrer Haushaltsmittel über Fallpauschalen realisieren, während sie die restlichen 40 Prozent unabhängig von ihrer Leistung als Vorhaltepauschale erhalten. Schon jetzt werden jedoch die Mittel für die Pflege – immerhin 20 Prozent des Gesamtbudgets – nicht mehr über Fallpauschalen abgerechnet. Daher werden viele Krankenhäuser auch weiterhin darauf achten müssen, durch lukrative Behandlungen Gewinne einzufahren. Perspektivisch ausgenommen von dieser Regelung sind die Notfall-, Intensiv- und Kindermedizin sowie die Geburtshilfe. Sie sollen im umgekehrten Verhältnis von 40 zu 60 Prozent finanziert werden, weil sie ihre „Patientenströme“ weniger stark regulieren können. Ziel der Reform ist es explizit, „überflüssige“ Operationen unnötig zu machen – wobei die Kommission eine einschlägige Definition von „überflüssig“ schuldig bleibt. Zudem will sie mehr Patient:innen in die kostengünstigere tagesstationäre Versorgung lenken, was mit dem Begriff „Ambulantisierung“ umschrieben wird. Welche Folgen das haben könnte, skizziert Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz: Pflegekräfte würden dadurch zwar entlastet, indem die Behandlung von Patient:innen über Nacht unterbrochen werde. Das aber sei ein „lebensfremdes Hop-on-Hop-off-System“.[5]
Der ländliche Raum wird abgehängt
Die Revolution findet sich dagegen auf einer anderen Ebene: Die deutsche, bisher in drei Versorgungsstufen gegliederte Kliniklandschaft – bestehend aus Grund-, Regel- und Maximalversorgung (beispielsweise in Unikliniken) – soll neu geordnet werden. Unterschieden werden sollen drei Level, die jeweils genau definierte Leistungen vorhalten.
Level 1 umfasst kleinere Krankenhäuser vor Ort, die noch einmal aufgeteilt werden in Level 1n und 1i. Zu dieser Gruppe zählen immerhin 1600 der 1900 deutschen Krankenhäuser. Die 950 Kliniken der Gruppe 1n sollen weiterhin die Notfallversorgung übernehmen und Intensivbetten betreiben können. In den integriert ambulant-stationären Zentren, Level 1i genannt, werden nur zeitweise Ärzt:innen Dienst verrichten. Diese können, so die Vorstellung der Expert:innen, auch von besonders ausgebildetem Pflegepersonal geführt werden. Ein zu operierender Notfall oder die Versorgung eines akuten Schlaganfalls würde dort jedoch nicht mehr möglich sein – der Krankenwagen müsste also weitere Wege fahren. Diese Zentren werden auch nicht mehr über Fallpauschalen, sondern kostengünstigere Tagespauschalen finanziert.
In Level 2 finden sich sogenannte regionale Versorgungszentren wieder, die untereinander ihre Leistungsschwerpunkte aushandeln. Das kann dazu führen, dass ein Krankenhaus sich auf Kardiologie spezialisiert, ein anderes auf orthopädische Eingriffe – was wiederum bedeuten wird, das Patient:innen längere Wege zurücklegen müssen. In den Ballungsgebieten schließlich konzentrieren sich mit umfassender Leistungspalette die Maximalversorger (Level 3). Stärker noch als bisher wird der ländliche Raum auf diese Weise von der qualitativ hochwertigen medizinischen Versorgung abgehängt.
Absehbar ist, dass die angekündigten „zielgenauen Vorgaben“ zu erheblich mehr Verwaltungsaufwand führen werden. So müssen die Häuser alljährlich Leistungsstufen beantragen, die vom Medizinischen Dienst überprüft werden. Zudem werden viele Krankenhäuser auf der Strecke bleiben, entweder weil sie zu besseren Pflegeheimen degradiert werden oder, weil ihr Leistungsportfolio so schmal ist, dass die eigenständige Finanzierung unmöglich wird.
Das ist allerdings auch das erklärte Ziel der Reform: Neben der Zentralisierung der Krankenhauslandschaft geht es auch um den Abbau von Krankenhausbetten. Davon gebe es, so die Klage der in der Kommission ohnehin überrepräsentierten Gesundheitsökonom:innen, in Deutschland zu viele: „Es wird nicht ohne Wandel gehen“, warnt etwa Boris Augurzky, mitverantwortlich für das jährliche Krankenhaus-Rating, das defizitäre Kliniken regelmäßig auf die Abschussliste setzt – ungeachtet der Versorgungssituation für die Bewohner:innen der jeweiligen Umgebung.[6] Und Gesundheitsminister Karl Lauterbach hat vorauseilend deutlich gemacht, dass kein Euro zusätzlich ins System fließen soll.
Geburtshilfe und Kinderkliniken sind besonders bedroht
Wohin die Reise geht, lässt sich anhand einer Liste des „Bündnisses Klinikrettung“ besichtigen.[7] Seit dem Pandemiejahr 2020 haben bereits 40 Krankenhäuser ihre Tore geschlossen, allein 2022 sind elf Kliniken verschwunden oder haben Abteilungen geschlossen, wobei die Geburtshilfe und die Kinderkliniken besonders betroffen sind. Für 2023 stehen sogar 68 Krankenhausschließungen bzw. ihre Überführung in Zentralkliniken an. Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen sind dabei Spitzenreiter, gefolgt von Niedersachsen und Bayern. Es sind fast immer öffentliche, kirchliche oder von gemeinnützigen Trägern finanzierte Häuser, die in die roten Zahlen rutschen. 58 Prozent aller Kliniken, meldete das Krankenhausbarometer im Dezember 2022, beschreiben ihre wirtschaftliche Situation als unbefriedigend, lediglich sechs Prozent schätzen sie als gut ein gegenüber noch elf Prozent im Jahr zuvor.[8]
Eine unendliche Abwärtsspirale
Nicht nur das Fallpauschalensystem und steigende Energiekosten, sondern vor allem die fehlenden oder unzureichenden Investitionszuschüsse bringen sie ins Straucheln. Hier rächt sich das föderale System, denn für Krankenhausbau und ihren Erhalt sind die Länder zuständig, die sich dem vielfach entziehen. Bis 2027 beträgt der durchschnittliche Investitionsbedarf jährlich rund zehn Mrd. Euro, doch 72 Prozent aller Häuser erklären sich als wenig oder überhaupt nicht investitionsfähig. Viele müssen immer höhere Anteile ihrer Betriebsmittel für Investitionsmaßnahmen einsetzen.[9] Es ist eine unendliche Abwärtsspirale: Die Häuser haben kein Geld, um ihr Pflegepersonal vernünftig zu bezahlen und ausreichend einzustellen, das wiederum führt zu Bettenschließungen und dadurch zu sinkenden Einnahmen. Die vier großen Krankenhauskonzerne dagegen – Asklepios, Rhön, Helios und Sana – konnten 2021 fast über eine Milliarde Euro Gewinn abschöpfen. Es ist kaum zu vermuten, dass sie sich, wie Lauterbach prophezeit, von dieser Goldgrube zurückziehen werden, selbst wenn die Fallpauschalen reduziert werden.
Doch so entsteht auch eine unheilvolle Allianz zwischen Ländern und Bund, wofür Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen Beispiele sind. Ausdrücklich lobte der Sozialdemokrat Lauterbach seinen Düsseldorfer Kollegen Karl-Josef Laumann (CDU) für dessen Engagement in Sachen Klinikschließungen. In ihm findet er ebenso einen Mitstreiter wie in Manfred Luch (Bündnis 90/Die Grünen), der in Stuttgart das Stilllegen von Kliniken betreibt. Kritischere Töne sind hingegen aus Brandenburg zu hören, wo Gesundheitsministerin Ursula Nonnemacher ein „großes Kliniksterben“ befürchtet. Derzeit verhandelt das Bundesgesundheitsministerium mit den Ländern: Bis zum Sommer soll der Entwurf für die Krankenhausreform stehen und noch in diesem Jahr verabschiedet werden.[10] Widerstand in den Ländern dürfte insbesondere von den Landrät:innen kommen, für die ihre Krankenhäuser auch ein Infrastrukturmerkmal und Standortvorteil bedeuten.
Es wäre zu wünschen, dass sich auf lokaler Ebene ganz neue Bündnisse entwickeln, um das drohende Kliniksterben aufzuhalten: zwischen den Beschäftigten, die für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen, wie neuerdings in Gießen und Marburg an den privaten (!) Unikliniken, und den Menschen vor Ort, die „ihr“ Krankenhaus verteidigen. Neun Krankenhausinitiativen haben sich inzwischen gegen Lauterbachs vermeintliche Revolution positioniert und fordern[11] unter anderem eine bedarfsgerechte Finanzierung der Kliniken und ein Gewinnverbot – und damit letztlich das konsequente Ende des Fallpauschalensystems, das Krankenhäuser, Gesundheitsbeschäftigte und Patient:innen überhaupt erst in diese fatale Situation gebracht hat.
[1] Bei der Versorgung kranker Kinder darf es keine ökonomischen Zwänge geben, in: „Deutsches Ärzteblatt“, 8.12.2021.
[2]„Bei Kinder- und Jugendärzten wurde extra stark gespart“, „Deutschlandfunk“, 5.12.2022.
[3] Pressekonferenz am 6.12.2022.
[4] Vgl. u.a. Kai Mosebach und Nadja Rakowitz, Fabrik Krankenhaus, in: „Blätter“, 9/2012, S. 19-22.
[5] Warnung vor Hop-on-Hop-off-System, „Tagesschau“, 12.11.2022.
[6] Auf der Pressekonferenz zur Vorstellung der Reform am 6.12.2022.
[7] Klinikschließungen 2022: Krankenhausschließungen und Versorgungsengpässe, vgl. www.gemeingut.org.
[8] Deutsches Krankenhausinstitut, Krankenhausbarometer 2022, S. 18.
[9] Ebd. S. 29.
[10] Bund und Länder wollen Gesetzentwurf im Sommer vorlegen, www.aerzteblatt.de, 5.1.2023.
[11] Analyse der Vorschläge der „Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung“, www.gemeingut.org; Neun Initiativen aus Krankenhäusern zu den Reformvorschlägen des Gesundheitsministeriums, Pressmitteilung, www.vdaeae.de, 5.1.2023.