
Bild: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und UN-Generalsekretär António Guterres bei einer gemeinsamen Pressekonferenz, 18.8.2022 (IMAGO / ZUMA Wire / Mykola Tys)
Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine gibt es eine hitzige Debatte darüber, wie dieser Krieg möglichst rasch beendet werden kann. „Verhandeln, jetzt und sofort!“, lautet die Parole von Wagenknecht, Schwarzer und Co.; doch viel zu selten wird dabei das entscheidende Problem analysiert: Welche Faktoren behindern und welche begünstigen Verhandlungen? Und welche Chance hätte die Mediation durch einen Dritten? Sprich: Wann und unter welchen Prämissen sind beide Parteien überhaupt bereit, sich an einen Tisch zu setzen, um über eine Beendigung der Gewalt zu verhandeln?
Das erste Problem jeglicher Friedensverhandlungen ist das Gewalt- oder Eskalationsparadox. Es lautet wie folgt: Wären die Bedingungen für eine friedliche Lösung in einem Konfliktsystem bereits vor der Eskalation vorhanden gewesen, dann wäre es gar nicht erst zum Gewaltausbruch gekommen. Offensichtlich waren mindestens für eine Seite hinreichende Bedingungen dafür gegeben, den Konflikt eskalieren zu wollen, bevor man sich unter veränderten Vorzeichen mit der anderen Seite in Verhandlungen einigen würde. Wenn aber die Bedingungen für einen Dialog vor einer Eskalation nicht gegeben sind, dann sind sie es in der Regel nach dem Überschreiten der Gewaltschwelle noch weniger.
Die sich zuspitzende Situation in der Ukraine unmittelbar vor dem Einmarsch Russlands in das Nachbarland zeigt das Paradox ganz deutlich. Obwohl Wladimir Putin bis zuletzt beteuerte, er plane keinen Angriff auf die Ukraine, gab es bereits seit November 2021 verschiedene hochkarätige Initiativen westlicher Regierungen, die ihn von einem Angriff auf die Ukraine abbringen wollten und angesichts der militärischen Drohkulisse eine „Rückkehr zur Diplomatie“ forderten. Schlussendlich konnten aber weder Präsident Macron noch Bundeskanzler Olaf Scholz oder das Treffen der stellvertretenden Außenminister Russlands und der USA in Genf Putin vom Angriff, der angeblich nie geplant war, abhalten.[1]
Nach der Invasion vom 24. Februar 2022 und dem Angriff auf die Hauptstadt Kiew war schnell klar: Es geht der russischen Führung um mehr als um taktische Gewinne, die die Ukraine an den Verhandlungstisch zwingen sollten. Der Schlachtenlärm übertönte im Laufe des Jahres unzählige Friedensappelle und Vorstöße aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft. Doch auch diskret eröffnete „back channels“ westlicher Vermittler:innen wurden im Laufe des Jahres nicht aktiviert. Der ukrainische „Zehn-Punkte-Plan“ vom Dezember 2022 wurde als unrealistisch eingestuft.[2]
Neben dem Gewaltparadox spielt zweitens der Zeitfaktor, genauer: die Zeitdynamik, bei jeder Verhandlungsinitiative eine zentrale Rolle. Erfahrungsgemäß sind Konfliktparteien nicht unmittelbar nach der Gewaltergreifung zu Verhandlungen bereit. Gerade bei bewaffneten Konflikten in und zwischen Staaten geht dem ersten Schuss eine lange Phase der Spannungen, Polarisierungen, Drohungen und Anschuldigungen voraus. Nach dem Umschlagen in eine gewalthaltige Auseinandersetzung heizen buchstäblich auf einen Schlag extrem belastende Faktoren die Konfliktdynamik weiter an: Dehumanisierung, Flucht und Vertreibung, humanitäre und gefechtsfeldbezogene Opfer, Verstümmelung und Tod. Dafür stehen in der Ukraine exemplarisch die Namen Butscha und Irpin. Gerade mit Blick auf die Gräueltaten wie auch die Risiken für den Weltfrieden wird von Drittparteien zwar eine rasche Rückkehr zum Dialog gefordert. Aber solange jedoch die Kampfhandlungen nicht in einen, scheinbar endlosen, Zermürbungskrieg münden, der die Macht der Führungen untergräbt und das eigene politisch-militärische System zersplittert, solange haben Verhandlungen kaum eine Chance.
Die Wahrnehmung von Sieg oder Niederlage bestimmt zwar den Zeitpunkt möglicher Verhandlungen, aber wann dieser Zeitpunkt gekommen sein mag, wird von den Parteien sehr unterschiedlich wahrgenommen. Wer im vermeintlich falschen Moment Schwäche zeigt, verliert an der Heimatfront und wird als Verräter verurteilt. Die Geschichte ist daher voll von Beispielen mutiger Friedensstifter:innen, die Opfer der eigenen Seite wurden.[3]
Für die Drittpartei kommt es entscheidend darauf an, den Moment zu identifizieren und zu nutzen, an dem eine gewisse Synchronisierung von Zeitdynamik und Interessen sich abzuzeichnen beginnt – also die Einsicht in die Notwendigkeit greift, weitere Zerstörungen durch Verhandlungen zu vermeiden. Momentan kann davon aber noch keine Rede sein. Konfliktparteien streben danach, nach innen und außen ein möglichst vorteilhaftes Bild der Situation und eigenen Absichten zu vermitteln. Im Kontrast zu den eigenen hehren Zielen wird die andere Seite kleingeredet, verteufelt und dehumanisiert. Putin arbeitet daher seit langem an der Montage des Feindbilds von Faschist:innen, die gemäß einer Aussage von Außenminister Lawrow vom 2. Februar 2023 die „Endlösung der Russlandfrage anstreben“. Damit bezweckt er eine „Schuldumkehr“ in geradezu historischen Dimensionen. Sämtliche Gründe für eigenes aggressives Verhalten werden der anderen Seite angelastet. Der Täter wird zum Opfer und umgekehrt. Der völkerrechtswidrige Angriff wird zur präventiven Verteidigung umgedeutet, um die Sicherheit Russlands und der russischen Bürger:innen zu verteidigen. Aggression wird so zur Reaktion, Intervention zur Prävention, Eroberung zur Verteidigung. Wenn es des Weiteren gelingt, auch Drittparteien von den schlechten Absichten der Gegenseite zu überzeugen, werden die Hintergründe einer Auseinandersetzung vollends nebulös und eine vertiefte Konfliktanalyse über die »wahren Ursachen« der Eskalation enorm erschwert. Wie uns die Konfliktursachenforschung lehrt, ist gerade die Analyse der Wurzeln eines Konflikts für die Mediation besonders herausfordernd, weil die Konfliktparteien alles Interesse daran haben, die Drittpartei darüber im Unklaren zu lassen oder gezielt in die Irre zu führen.[4]
Russische Verfassung gegen ukrainische Verfassung
Zwei Besonderheiten des aktuellen Krieges erschweren eine Verhandlungslösung zusätzlich oder können sie sogar ganz verhindern.
Zum einen ist der Konflikt stark von einer innerrussländischen Dimension geprägt. Diese ist historisch schon sehr viel älter als der Kalte Krieg, die Existenz der Nato oder der Zusammenbruch der Sowjetunion. Putin und seine Berater waren im Grunde immer sehr klar bei der Darlegung der Charakteristika der russisch-orthodoxen Zivilisation, die nicht nur im Gegensatz zum Westen stehe, sondern auch dazu auserwählt sei, den Westen vor dem moralischen Zerfall zu retten. Putin demonstriert damit: Eine Macht, die revisionistisch und imperialistisch im Lichte vergangener kaiserlicher Größe agiert, braucht nicht notwendigerweise einen gleichrangigen Gegenspieler. Der Drang nach Expansion erklärt sich quasi selbstreferenziell aus der eigenen Geschichte und ist nur bedingt eine Antwort auf das internationale Umfeld.
Zum anderen hat Putin die Annexion von vier vormals ukrainischen Regionen und deren Eingliederung in die Russische Föderation in der Verfassung festgeschrieben. Damit hat er sich selbst und allen künftigen Präsidenten die Hände gebunden. Selbst wenn er wollte, könnte er am Verhandlungstisch keine territorialen Kompromisse eingehen, ohne die russische Verfassung dabei zu verletzen. Jeder, der mit der Herausgabe von „russischem“ Territorium liebäugeln sollte, würde politisch den nächsten Tag kaum überleben. Hinzu kommt, dass dieselben Gebiete Teil der ukrainischen Verfassung sind. Jede ukrainische Regierung wäre mit derselben Herausforderung konfrontiert wie die russische: Ob Verfassungsänderung oder grober Verstoß, der oder die Staatschef:in könnte einen solchen Schritt mit dem Leben bezahlen.
Was bedeutet nun die Analyse dieser zentralen (aber längst nicht aller) Einflussfaktoren für die konkrete Forderung nach einer raschen Kriegsbeendigung am Verhandlungstisch? Geht es zunächst „nur“ um Vertrauensbildung, wie zum Beispiel eine zeitlich und geographisch befristete Waffenruhe? Oder geht es bereits um einen umfassenden Waffenstillstand mit entsprechenden Vereinbarungen über das Monitoring und einen Rückzug von Streitkräften? Im „Nebel des Krieges“ kann ein Bündel von Maßnahmen unterschiedlicher Akteure entscheidend für den Kriegsverlauf sein. Aus diesem Grunde sind humanitäre Verhandlungen (Gefangenenaustausch, Zugang zur Bevölkerung, humanitäre Korridore) jederzeit wichtige Schritte, um Leid zu verhindern oder zu mildern. Es wäre aber falsch zu meinen, dass solche humanitären Dialoge per se die Bereitschaft der Parteien zu umfassenden Verhandlungen zur Folge haben. Speziell die Erfahrung im postsowjetischen Umfeld lassen einen skeptisch sein. Überall dort, wo Russland eine der Konfliktparteien war, kam es zu starren Formaten, die über die Zementierung des Status quo und die Leugnung Moskaus, überhaupt Konfliktpartei zu sein, nicht hinausführten. Die bereits bestehenden Verhandlungsformate drehen sich jedenfalls seit Jahren im Kreis. Dennoch sind wachsender diplomatischer Druck zusammen mit zivilgesellschaftlichen Forderungen nach Frieden durchaus nützlich. Ideal wäre es, wenn die beteiligte Drittpartei bereits vor der Eskalation zu beiden Seiten gute und vertrauensvolle Beziehungen aufgebaut und gepflegt hat. Das heißt nicht, dass sie in jeder Hinsicht „neutral“ sein muss. Sie muss aber in Bezug auf die Akteure „unparteiisch“ agieren und für einen strukturierten Prozess und faire Modalitäten sorgen.
Eine schwierige Aufgabe der Mediation besteht darin, eine gewisse „Opfer-Täter-Symmetrie“ am Verhandlungstisch herzustellen. Das geht eigentlich nur dann, wenn man sich weniger bei der Vergangenheit aufhält als vielmehr versucht, die gemeinsame Zukunft einvernehmlich zu gestalten. In den letzten zwei Jahrzehnten hat es nicht an diplomatischen Initiativen, Formaten und Mechanismen gefehlt, um die zahlreichen Konflikte im Dreieck Russland – postsowjetischer Raum – USA/Europa zu bearbeiten. Die vielen „kleinen“ Formate, wie die Genfer Gespräche, die Minsk-Co-Chairs zu Berg-Karabach, das Minsk-Abkommen zur Ukraine oder auch das „Normandie-Format“, führten aber zu keinem dauerhaften Frieden. Sie dienten Russland offenbar vor allem dazu, mit Hilfe von Drittparteien ihre Gebietsansprüche zu legitimieren und festzuschreiben. Entstanden ist so ein Flickenteppich mit Zonen großer Brüchigkeit, mit Armutsregionen in „Zwischeneuropa“ und mit Gebieten ungleicher Sicherheit.
Der Ukrainekrieg lässt sich daher, auch angesichts seiner weltpolitischen Bedeutung, kaum noch in einem „kleinen Format“ mit „statusneutralen“ Scheinlösungen einfrieren. Vielmehr braucht es mit Blick auf 50 Jahre „Schlussakte von Helsinki“ im Jahr 2025 einen mutigen Schritt vorwärts. Zwei Stufen sind dabei zu nehmen: Die erste Stufe umfasst – im richtigen Moment – einen Waffenstillstand, der mit Hilfe von Drittparteien zwischen Russland und der Ukraine geschlossen werden muss. Die zweite Stufe könnte – etwa im Jahr „1975 plus 50“ – vertraglich zu einer umfassenden Friedensordnung mit gleicher Sicherheit für alle europäischen Länder führen. Die Resolutionen der UN-Vollversammlung könnten dafür nicht nur den völkerrechtlichen Weg weisen, sondern auch globale Garantiemächte mit an den Tisch bringen. Europa hätte so die Chance, sich von Revisionismus, Neokolonialismus und Krieg zu verabschieden, um sich den drängenden Fragen des 21. Jahrhunderts zu widmen. Und die UNO könnte die Gunst der Stunde zu einer tiefgreifenden Reform des Sicherheitsrats nutzen, womit der Multilateralismus endlich eine echte Chance bekäme.
[1] Rüdiger von Fritsch, Zeitenwende. Putins Krieg und die Folgen, Berlin 2022, S. 121-124.
[2] Wolodymyr Selenskyj beim G20-Gipfel: Friedensplan nimmt Gestalt an! Diese Punkte fordert die Ukraine, www.news.de, 15.11.2022.
[3] Nina Lwowna Chruschtschowa, Ermordet sind die Friedensstifter, in: „Neue Zürcher Zeitung“, 3.2.2023.
[4] Als „Co-Chairs“ der „Genfer Internationalen Diskussionen“ zwischen der Russischen Föderation (plus Abchasien und Südossetien) und Georgien durften wir auch nach 50 Runden und 15 Jahren den Punkt „Konfliktursachen und Vergangenheitsbewältigung“ nicht auf die Tagesordnung setzen.