
Bild: Volker Bouffier spricht auf einer Trauerfeier für den verstorbenen Regierungspräsidenten Dr. Walter Lübcke, Kassel, 13.6.2019 (IMAGO / Hartenfelser)
Vor bald vier Jahren, am 1. Juni 2019, wurde der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke getötet – es war der erste rechtsradikal motivierte Mord an einem Politiker in der Geschichte der Bundesrepublik. Am 23. Februar 2023 beendete nun, mit der 38. Sitzung im Hessischen Landtag, der „Lübcke-Untersuchungsausschuss“ (UNA 20/1) seine Auseinandersetzung mit einem möglichen Behördenversagen im Vorfeld des Mordes.
Zum rechtlichen Hintergrund: Im Januar 2021 wurde der Mörder, der Neonazi Stephan Ernst, vom Oberlandesgericht Frankfurt zu lebenslanger Haft verurteilt und aufgrund der Schwere der Schuld mit einer Sicherheitsverwahrung belegt. Eine Revision des Urteils durch den BGH wurde im August 2022 abgewiesen. Ziel der von der Familie Lübckes betriebenen Revision war es, den Kumpanen von Ernst, Markus H., in einem neuen Verfahren der Mittäterschaft zu überführen. Dieser war in der Hauptverhandlung von der Beihilfe zum Mord an Lübcke freigesprochen worden, was auch der Generalbundesanwalt, vertreten durch den Oberstaatsanwalt Dieter Killmer, irritiert zur Kenntnis genommen haben dürfte. Denn noch in der Hauptverhandlung hatte er überzeugend einen großen historisch-politischen Bogen zu den rechtsradikalen Morden der Weimarer Republik, namentlich an Walter Rathenau, gezogen und zumindest eine psychische Beihilfe von Markus H. begründet.
Nun also das Ende des Untersuchungsausschusses, der die Selbstgerechtigkeit und das Desinteresse der schwarz-grünen Koalitionäre offenbarte. Faktisch gab der Ministerpräsident des Landes Hessen, Boris Rhein, in der vorletzten, 37. Sitzung das Ergebnis vor: „Der Mord an Walter Lübcke hätte nicht verhindert werden können.“ Dem pflichteten in der letzten Sitzung die geladenen Zeugen bei: erst Innenminister Peter Beuth, der sein Amt schon zur Tatzeit innehatte, und dann auch der damalige Ministerpräsident Volker Bouffier: „Der Mord war nicht vorhersehbar.“
Widerspruchslose Grüne
Von Seiten des grünen Koalitionspartners gab es zu alledem keinen Widerspruch. Überhaupt bildete sich im Laufe der Ausschussarbeit die klassische Konstellation ab: hier die blockierenden Regierungsparteien CDU und Grüne, dort die ja keineswegs homogene demokratische Opposition aus SPD, FDP und Linke, die bemüht war, die behördlichen Defizite aufzudecken und die politisch Verantwortlichen zu benennen.
Dabei waren zu Beginn der Arbeit durchaus noch gemeinsame Anstrengungen der jeweiligen Partei-Obleute zu spüren.[1] In ziemlicher Kleinarbeit mühten sie sich mit Hilfe von 48 Zeugen, gemeinsam Licht in das Wirrwarr behördlicher Arbeitsweisen zu bringen. Doch mit fortschreitender Ausschussarbeit und insbesondere dem nahenden Landtagswahlkampf fielen die Koalitionäre vor allem durch ausgesprochen gebremste Fragestellungen auf.
Vor der 18. Sitzung, im Dezember 2021, kam es sogar zu einem handfesten politischen Eklat.[2] In einer geheimen Sitzung einigten sich CDU, Grüne und AfD mit ihrer Zweidrittelmehrheit auf die vom Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) geforderte nichtöffentliche Vernehmung einer LfV-Mitarbeiterin. Durch diesen Tabubruch wurde – gewissermaßen im Hinterzimmer – eine Koalition mit der AfD geschmiedet, um die Opposition auszuhebeln. Immerhin entschuldigten sich die Grünen im Anschluss für ihr Abstimmverhalten – anders als die CDU, die stattdessen bei Zeugenbefragungen der Linken regelmäßig durch ihren pöbelnden Abgeordneten J. Michael Müller auffiel.
Kam es dagegen einmal zu übergreifenden Fragen, etwa nach den Zusammenhängen der regionalen rechtsradikalen Szene mit der AfD, wurden diese vom Vorsitzenden Christian Heinz (CDU) regelmäßig nicht zugelassen. Kurzum: War die Ausschussarbeit demnach völlig umsonst, da behördliches Versagen nicht nachgewiesen werden konnte?
Nein, ganz im Gegenteil: Der Ausschuss brachte eine Reihe struktureller und individueller Defizite der Sicherheitsbehörden zutage, die im Fall von Stephan Ernst ein Versagen der Behörden offenlegten. So wurde die sog. P-Akte von Ernst im Jahre 2015 nach fünf Jahren „ohne Auffälligkeit“ gesperrt, war also nicht mehr in Bearbeitung des LfV, weil er als „abgekühlt“ galt. Dabei hätte angesichts der rechtsradikalen Vita von Ernst die Akte nach formaler Betrachtung noch bis zu 15 Jahren offengehalten werden können, was jedoch aufgrund eines Löschmoratoriums und damit eines Staus von über 1400 Akten und des folgenden Personalmangels nicht geschah. Dabei wurde auch die Aktennotiz „brandgefährlich“ des damaligen LfV-Präsidenten Alexander Eisvogel aus dem Jahr 2009 ignoriert. Somit konnte der Ausschuss durchaus ein systemisches Versagen in Form personenbezogener Fehlentscheidungen herausarbeiten, was die Vermutung von Christoph Lübcke stützt, dass der Mord an seinem Vater hätte verhindert werden können,[3] – und was zugleich die grundsätzliche Frage aufwirft, ob das LfV überhaupt reformierbar ist oder, wie einige kritische Stimmen fordern, einfach abgeschafft gehört.
Eine verpasste historische Chance
Für Letzteres gibt es durchaus gute Argumente: Denn obwohl sich sämtliche LfV-Präsidenten in ihren Zeugenvernehmungen als konsequente Verfolger des Rechtsextremismus rühmten und zudem als beständige „Aufräumer“ nach der jeweiligen Behördenübernahme, reihte sich faktisch eine personelle Fehlleistung an die andere. Zwar wuchs das LfV nach der Selbstenttarnung des NSU im Jahr 2014 von 256 auf 400 Personen im Jahr 2022 an, bei gleichzeitiger Verdopplung des Etats (laut Aussage von Bouffier). Doch offenbar nutzte es nichts, den „Sauhaufen“ – so wortwörtlich der Abgeordnete Stefan Müller, FDP – auf Vordermann zu bringen, weil weder die Informationsübermittlung, etwa zwischen den jeweiligen Landesämtern und dem Staatsschutz, funktionierte noch die Qualifikation der Mitarbeiter:innen den Anforderungen einer qualifizierten Tätigkeit entsprach. Zum Teil wurde nach Aussagen von Bouffier Personal aus dem einfachen Dienst, etwa der Post rekrutiert – darunter der höchst dubiose Andreas Temme, der beim NSU-Mord in Kassel zur Tatzeit am Tatort war. In erster Linie kamen für die Sachbearbeitung aber Beamt:innen aus dem mittleren Polizeidienst zum Einsatz. Offensichtlich waren diese nicht selten damit überfordert, sich einen politischen Überblick über die rechtsextreme Szene, ihre Strukturen, Symbole und ihr Rekrutierungsfeld zu verschaffen und vor allem das politische Übergangsfeld zur AfD zu verstehen.
Auf diese Weise blieben im Untersuchungsausschuss die gesellschaftlichen Bezüge und Hintergründe des deutschen Rechtsradikalismus weitgehend unbeleuchtet. Vor allem die möglichen Verbindungen des Mörders von Walter Lübcke und seines Helfers und möglichen Anstifters zu den örtlichen AfD-Organisationen wurden kaum oder gar nicht behandelt. Dabei gibt es Hinweise darauf, dass die mit Unterstützung der AfD durchgeführten KAGIDA-Veranstaltungen (dem Kasseler Ableger der Dresdner PEGIDA) auch von den beiden Neonazis besucht wurden. Auch die Bezüge der Kasseler Neonazi-Szene zu den NSU-Mördern wurden trotz personeller Überschneidungen – zur Erinnerung: die NSU-Zeugin Corinna G. war auch in Kassel aktiv – nicht systematisch hergestellt, nachdem ein Zeuge des Bundesamtes für Verfassungsschutz diese verneint hatte.
Auf diese Weise – und hier liegt das große Versäumnis dieses Ausschusses, ja die vertane historische Chance – blieben die großen Zusammenhänge zu den rechtsradikalen Netzwerken und ihrem Wirken völlig unterbelichtet. Faktisch wurde auf dem Altar der Koalitionsraison, dem kurzsichtigen Interesse von CDU und Grünen an einem guten Abschneiden bei der kommenden Landtagswahl, der Schutz der Demokratie geopfert.
Dieser hätte es verlangt, dass die gefährliche Verbindung von Rechtsextremismus in der Gesellschaft und Gleichgültigkeit bis hin zu klammheimlicher Freude und expliziter Zustimmung in den Behörden aufgedeckt wird. Denn dafür ist die Lage in Hessen regelrecht exemplarisch.
Nachdem der NSU mit Halit Yozgat 2006 in Kassel seinen wohl letzten Mord begangen hatte, ermittelte die Hessische Polizei monatelang lediglich im privaten migrantischen Bekannten-, Freundes- und Verwandtenkreis des Opfers. 2018 flogen dann gleich 47 rechtsradikale Chat-Gruppen mit 136 Frankfurter Polizeibeamten auf, die rassistische Texte, Nazisymbole und Videos geteilt hatten. Dennoch stellte das Landgericht soeben, im März 2023, die strafrechtliche Verfolgung der beteiligten Polizisten ein. Das Gleiche gilt für die Verfolgung von Mitgliedern des mittlerweile aufgelösten Frankfurter Spezialeinsatzkommandos, die über Jahre untereinander Beiträge mit volksverhetzenden Inhalten beziehungsweise Nazi-Symbole geteilt hatten.
Weißgewaschener »Stammtisch«?
Die Begründung: Der Austausch in einer kleinen privaten Gruppe sei als Stammtischgespräch zu werten und von daher von dem Grundrecht der freien Meinungsäußerung gedeckt.[4] Ein weiteres Zeugnis rechtsstaatlichen Versagens, dem sich aber immerhin die Staatsanwaltschaft mit ihrer Beschwerde zu widersetzen versucht.
Lassen sich diese Vorkommnisse zwar noch als symptomatische, wenn auch skandalöse, aber gleichwohl eher marginale Entgleisungen hessischer Beamter werten, so ist der nach dem Mord an Walter Lübcke erfolgte zehnfache Mord in Hanau im Februar 2020 weit mehr als nur ein Signal grundlegender demokratiefeindlicher Fehlentwicklungen, sondern Ausdruck einer eliminatorischen Gesinnung. Dass die rechtsradikalen Netzwerke heute bis tief in die „Mitte der Gesellschaft“ reichen, haben die jüngsten Razzien gegen die „Reichsbürger“ gezeigt, die neben ihrem Kopf, dem Frankfurter Immobilienunternehmer Heinrich XIII. Prinz Reuß, auch eine ehemalige AfD-Bundestagsabgeordnete und Richterin, aber ebenso Offiziere der Bundeswehr, Ärzte, Unternehmer, einen Gourmetkoch sowie einen Anwalt umfassen und darüber hinaus bis ins europäische Ausland reichen.
Vor diesem Hintergrund, nämlich der Vielzahl rechtsradikaler demokratiefeindlicher Aktivitäten, stellt sich mit dem Abschluss des hessischen Lübcke-Untersuchungsausschusses die Frage, ob der Ausschuss in seiner parteipolitisch begrenzten Anlage und geradezu kleinkrämerischen Arbeitsweise diesen grundlegenden, die Demokratie aushöhlenden Fehlentwicklungen überhaupt hätte gerecht werden können.
Fest steht: Dafür hätte der Ausschuss seine eingeschränkte Untersuchungs- und Befragungsperspektive auf das mögliche Versagen von (Sicherheits-)Behörden zumindest um Fragestellungen ergänzen und – mit Blick auf die spezifisch hessische Perspektive – die Zusammenhänge und Gründe rechtsradikaler Aktivitäten mit in den Blick nehmen müssen. Auf diese Weise wären auch die wirklich großen gesellschaftlichen Konflikt- und Polarisierungsfelder der letzten Dekade – wie die Migration, aber auch Corona und die Jahrhundertfrage der Klimagerechtigkeit und schließlich der Ukrainekrieg mit seinen wirtschaftlichen und sozialen Krisenfolgen – in den Fokus der Ausschussarbeit geraten. Denn diese Themen bilden den gesellschaftlichen Humus der rechtsradikalen Entwicklung. Vermutlich hätte das einen hessischen Untersuchungsausschuss allerdings teilweise auch schlicht überfordert.
Obwohl der Ausschuss gegen den ausdrücklichen Willen der Regierungsparteien CDU und Grüne politisch durchgesetzt worden war, bestimmten die Mehrheitsverhältnisse im Ausschuss letztlich seine Untersuchungsziele. Das Interesse der Regierungskoalition bestand ersichtlich darin, nicht aufzudecken und aufzuklären, sondern vom ersten Tag an zuzudecken und zu vertuschen. Insbesondere die CDU mit ihrer ministeriellen Verantwortung wollte keine Transparenz in das behördliche Versagen bringen. Und die Grünen, befangen in ihrer opportunistischen Furcht vor dem Verlust der Regierungsverantwortung, trauten sich eine offene Konfrontation mit dem Koalitionspartner nicht zu.
Aufklärung bleibt weiter geboten
Damit haben sich die Regierungsparteien letztlich in eine angstvolle Kooperation mit der Opposition begeben: Die einen wollten nicht aufdecken und die anderen konnten nicht. Der Kompromiss bestand darin, der Einrichtung eines Ausschusses zwar zuzustimmen, aber dafür so kleinteilig zu agieren, dass die politische Bedrohung der Demokratie durch den Rechtsextremismus in ihren großen Zusammenhänge erst gar nicht in den Fokus der Untersuchung geriet. Der Ausschuss krankte folglich bis zu seinem Abschluss an dem Geburtsfehler seiner eingeschränkten Aufgabenstellung.
So bleibt am Ende zu bilanzieren, dass selbstgerechter Kleinmut (der CDU) und parteipolitischer Opportunismus (der Grünen) selbst zum Demokratierisiko wurden. Denn die grundlegenden Fragestellungen blieben im Gestrüpp behördlichen Versagens und kurzsichtiger Parteiinteressen hängen – und bedürfen weiter dringend der Aufklärung. Es bleibt daher nur zu hoffen, dass dem nächsten, noch wichtigeren Untersuchungsausschuss im Hessischen Landtag – nämlich zu den rechtsradikalen Morden von Hanau – die Aufdeckung der höchst problematischen Demokratieverhältnisse besser gelingt.
[1] Das zeigte sich beispielsweise in der Wahl des Obmanns der Linken, Hermann Schaus, als Stellvertreter des von der CDU gestellten Ausschussvorsitzenden.
[2] Vgl. „die tageszeitung“, 2.12.2021; „Hessisch-Niedersächsische Allgemeine“ (HNA), 1.12.2021.
[3] „Dort waren keine Schmauchspuren“. Interview mit Christoph Lübcke, www.t-online.de, 3.2.2023.
[4] Vgl. „Der Spiegel“, 4.3.2023.