Ausgabe August 2023

AfD oder: Der Kampf um die ostdeutsche Zivilgesellschaft

Von der AfD organisierte Großdemonstration auf dem Theaterplatz in Erfurt, 29.4.2023 (IMAGO / Karina Hessland)

Bild: Von der AfD organisierte Großdemonstration auf dem Theaterplatz in Erfurt, 29.4.2023 (IMAGO / Karina Hessland)

Die AfD ist im Aufwind: Die Wahl Robert Sesselmanns zum Landrat in Sonneberg (Thüringen) und von Hannes Loth zum Bürgermeister in Raguhn-Jeßnitz (Sachsen-Anhalt) stattet ihre Vertreter erstmals mit direkter exekutiver Macht aus. Dies ist ein weiterer, wichtiger Schritt der Normalisierung der Partei im politischen Betrieb. Manch einer in der AfD glaubt bereits an eine blaue Welle, die sie ohne weitere Hindernisse sukzessive erst in kommunale Machtpositionen und dann in Landes- und Bundesämter spülen wird. In ihrer strategischen Kommunikation wird die AfD jedenfalls alles daransetzen, aus den kommunalen Erfolgen im Osten noch weit mehr zu machen, als diese sind. Und angesichts bundesweiter Zustimmungswerte zwischen 19 und 21 Prozent kann ihr Erfolg in der Tat nicht mehr allein aus ostdeutscher Perspektive erklärt werden – auch wenn die AfD in weiten Teilen Ostdeutschlands laut Umfragen inzwischen sogar stärkste Partei ist.

Der symbolische Wert ihrer ersten beiden kommunalen Amtsträger ist für die AfD dabei mindestens ebenso wichtig wie die Tatsache der beiden erfolgreichen Wahlen. Was für die extreme Rechte dabei ganz besonders zählt, ist das Signal des Erfolgs im Vorfeld der ostdeutschen Landtagswahlen 2024 in Sachsen, Brandenburg und Thüringen. Aus Sicht der AfD stellt speziell Sonneberg den ersten Stein in einem blauen Domino dar, welches jetzt sukzessive in jenen Regionen in Gang kommen soll, in denen die AfD gute Aussichten hat, in die Stichwahl zu kommen, wie etwa im August im brandenburgischen Seelow. Außerdem, so das Ziel, sollen die zahlreichen Kommunalwahlen 2024 die durchaus noch bestehenden Lücken in der lokalen Präsenz der AfD schließen. Zwar ist man sich im extrem rechten Vorfeld der AfD sicher, dass Sesselmann oder Loth ihre politische Agenda nicht eins zu eins werden umsetzen können.[1] Doch gerade das, was lange als Schwäche der AfD galt, nämlich dass ihr die Verankerung in den Netzwerken des vorpolitischen Raumes in den Kommunen fehlt, kann sie nun als Stärke ausspielen – ihre Nicht-Zugehörigkeit zum politischen Establishment der „Altparteien“.

Bis zu den Landtagswahlen im Herbst 2024 ist nun tatsächlich nicht mehr viel Zeit, um zu verstehen, was derzeit speziell im Osten passiert – und um endlich nach tauglichen Wegen zu suchen, den scheinbaren Automatismus des AfD-Erfolgs zu unterbrechen. Faktisch verfolgt die AfD sehr geschickt eine Doppelstrategie. Während sie ihre Kernwählerklientel über extrem rechte Inhalte erreicht, erzielt sie ihre Mobilisierungserfolge bei bisherigen Nichtwählern mit gezielter Anti-Establishment-Rhetorik, die jeweils thematisch an die diskursiven Gegebenheiten angepasst werden kann.

Was die radikal rechten Inhalte der AfD anbelangt, ist deren weitgehende Enttabuisierung und Normalisierung in der ostdeutschen Lebenswelt ein seit zwei Jahrzehnten vielfach beschriebenes, aber – gemessen an der politischen Debatte über den Erfolg der AfD – weiterhin völlig unverstandenes Faktum. Das wird besonders deutlich, wenn der Bundeskanzler völlig verharmlosend von einer „Schlechte-Laune-Partei“ spricht.

Die Zahlen der im Juni 2023 erschienenen Studie des Leipziger Else-Frenkel-Brunswik-Instituts belegen, dass bei ungefähr 20 Prozent der ostdeutschen Bevölkerung eindeutig rechtsradikale Einstellungsmuster vorliegen und „dass extrem rechte Parteien mit ihren ideologischen Angeboten zahlreiche Anknüpfungspunkte in die Breite der Bevölkerung haben.“[2] In ihrem Kern schreibt die Studie damit fort, was seit mehr als einem Jahrzehnt für Ostdeutschland evident ist: eine Kontinuität latent rechtsextremer Einstellungen in der mittleren Generation ostdeutscher Erwerbstätiger.

Allerdings ist die gestiegene Zustimmung für rechtsextreme Einstellungsmuster nur ein Faktor, der den Aufstieg der AfD begünstigt. Am Beispiel des frisch gewählten AfD-Bürgermeisters in Raguhn-Jeßnitz lässt sich dagegen zeigen, dass das Klischee eines zu jeder Zeit im ideologischen Gewand des Rechtsextremismus auftretenden AfD-Mandatsträgers keineswegs immer zutrifft. Im Gegenteil: Hannes Loth, von Beruf Landwirt, präsentierte sich seinen Wählern als dezidiert pragmatisch und unideologisch – obwohl er seit 2013 Mitglied der AfD ist und somit jeden Schritt der Radikalisierung der Partei mitgetragen hat, sich dabei aber stets extrem rechter Äußerungen enthielt.[3] Dass er in der Pandemie ein Corona-Testzentrum betrieb und zugleich den lokalen Protest gegen die Corona-Schutzmaßnahmen organisierte, wird vor Ort nicht als Ausweis von Doppelmoral und Gewinnsucht verstanden, sondern als Zeichen eines authentischen, glaubwürdigen Engagements für seine Mitbürger vor Ort, was ihm wiederum politischen Kredit verschaffte.

Strategische Entpolitisierung

Loth betonte in seinem Wahlkampf, es gehe vor Ort gar nicht um Parteipolitik, sondern um Sacharbeit im Interesse der Menschen. Diese strategische Entpolitisierung des Politischen im kommunalen Raum steht nur scheinbar im Widerspruch zur erfolgreichen Strategie des studierten Juristen Sesselmann. Bei seinem Wahlkampf um das Landratsamt in Sonneberg setzte er ganz bewusst auf bundespolitische Themen, die mit den vor Ort zu treffenden Entscheidungen nichts zu tun hatten.

In beiden Fällen wählten die Kandidaten eine jeweils zu ihnen und ihrer Situation passende Strategie der Beglaubigung ihres politischen Handelns, die eines gemeinsam hat – sie hält Distanz von allem, für das die beiden vormaligen Landtagsabgeordneten hätten haftbar gemacht werden können. Sesselmann hatte keinen Einfluss auf die von ihm brachial attackierte Bundespolitik, und Loth musste bisher noch keine Verantwortung für kommunale Entscheidungen übernehmen. Das versetzte ihn in die Lage, vage Entwürfe zu präsentieren, an denen er, anders als sein Konkurrent, nicht weiter gemessen wurde. Kurzum: Letztlich agierte die Partei, vor allem im Falle Sesselmanns, mit permanenter Anklage der Etablierten bei faktisch eigener Verantwortungslosigkeit.

Speziell am Beispiel Raguhn-Jeßnitz zeigt sich des weiteren: Die kritische mediale Thematisierung des extrem rechten Kontextes der AfD-Kandidaten mag moralisch geboten sein, entfaltet vor Ort jedoch keine für die AfD-Kandidaten negative Wirkung. Im Gegenteil: Die Berichterstattung über den eigenen Sozialraum wird ganz schnell als Stigmatisierung wahrgenommen und bestätigte so nur die ohnehin vorhandenen Ressentiments gegen den Westen, die sich so umso leichter in Zustimmung für die AfD umleiten lassen. Besonders bemerkenswert sind in diesem Kontext die Reaktionen auf das Verhalten eines bekannten Neonazis in Sonneberg. Dieser hatte nach der Stichwahl Luftballons an Kindergartenkinder verteilt, ohne dass die Betreuerinnen dagegen eingeschritten wären. Diese plumpe AfD-Propaganda führte neben massiver überregionaler Empörung und Skandalisierung umgekehrt auch zu Verharmlosung, Entpolitisierung und sogar Solidarisierung in der Region. Ein Reflex, der allzu oft gerade dann greift, wenn der mediale Eindruck erzeugt wird, Rechtsextremismus sei allein ein ostdeutsches Phänomen.

Für die AfD zahlt sich speziell in Ostdeutschland heute aus, dass sie seit 2016, dem Jahr ihres erstmaligen Einzugs in den Landtag von Sachsen-Anhalt, kontinuierlich politisch Präsenz auf der Straße zeigt und dort ganz gezielt eine lokale Wut- und Ressentimentbewirtschaftung betreibt. Damit wird eine regelrechte Gegenöffentlichkeit erzeugt, die das Wählermilieu der AfD im Alltag sichtbar macht und damit immer mehr normalisiert.

Dass die AfD gleichzeitig ihre Arbeit in den kommunalen Gremien und Ausschüssen vernachlässigt, sich vielfach an Sachfragen gar nicht interessiert zeigt oder durch Abwesenheit glänzt, bekommen ihre Wähler in der Regel dagegen gar nicht mit oder es interessiert sie auch nicht. Stattdessen adressiert die AfD in ihrer Kommunikation ganz gezielt jene Themen, die komplexe Sachzusammenhänge emotionalisieren, personalisieren und somit ständig neue Anlässe für Protest und Empörung schaffen.

Des weiteren kommt der Partei zugute, dass die Fähigkeit der ostdeutschen Zivilgesellschaft, einen Cordon sanitaire gegen die Hegemoniebestrebungen der extremen Rechten aufzubauen, durch den Aufstieg der AfD und die Normalisierung einer rechten Öffentlichkeit deutlich geschwächt wurde. Sonneberg und Raguhn-Jeßnitz haben zudem gezeigt: Selbst eine bei Stichwahlen gestiegene Wahlbeteiligung ist inzwischen kein Garant mehr dafür, dass der Stimmenanteil für rechte Parteien sinkt. Auch in größeren Städten (Schwerin und Cottbus) konnte der jeweilige AfD-Kandidat in der Stichwahl leicht zulegen, in ländlicheren Regionen, wie Sonneberg und Raguhn-Jeßnitz, aber auch im Landkreis Oder-Spree, sogar weit deutlicher (mit Zuwächsen von 6, 11 bzw. sogar 23 Prozentpunkten).

Wie opponieren gegen die AfD?

Was aber sind die Folgen dieser Entwicklung? Natürlich ist ein Landrat oder Bürgermeister nicht der Kaiser von China oder Bundeskanzler, aber er kann erheblichen Einfluss auf so sensible Bereiche wie Gleichstellungspolitik, Jugendarbeit oder auch den ÖPNV nehmen. Insofern werden die Menschen nun damit leben müssen, was der Bürgermeister auf kommunaler und der Landrat auf lokaler Ebene entscheidet. Was aber passiert mit den gesellschaftlichen, etwa sexuellen Minderheiten, was mit den Zugewanderten und was auch mit den ausländischen Investoren in den neuen AfD-Hochburgen?

Diejenigen, die nicht AfD gewählt haben, sind all jene, die in all ihrer Heterogenität für demokratische Kultur eintreten oder sie zu schätzen wissen. Wie aber – so die mitentscheidende Frage – lassen sich diese Menschen dabei unterstützen, die demokratische Kultur zu verteidigen, und zwar ganz konkret in Sportvereinen, Schulen, Kirchengemeinden? Denn die AfD weiß ganz genau, dass dies ihre Gegner sind. Sie kompensiert ihre mangelnde Verankerung in den sozialen Orten des vorpolitischen Raums mit zunehmendem Erfolg über eine kleinteilige Socialmediastrategie, in der harte politische Inhalte nur eine Teilmenge all dessen bilden, was die Partei dort an weichen, alltagstauglichen Infohäppchen und Bildern bietet.

Die Schwäche der anderen Parteien besteht dagegen darin, sich zu sehr darauf zu verlassen, dass die demokratischen Regeln der Institutionen selbsterklärend seien, aus sich heraus funktionierten und das eigene Handeln darin keiner gesonderten Erklärung bedürfe. Speziell in Ostdeutschland, wo das Vertrauen in die demokratischen Institutionen deutlich geringer ausgeprägt ist, ist das ein folgenreicher Fehlschluss. Im Fall der Landratswahl in Sonneberg ist die Schwäche der anderen Parteien bei der Mobilisierung in kleinstädtischen Sozialräumen brutal zu Tage getreten. Dabei ist dies im Osten ein lange bekanntes Phänomen. Der Politikwissenschaftler und vormalige stellvertretende Direktor der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, Peter Reif-Spirek, hat für sein Bundesland und andere ostdeutsche Länder zu einem frühen Zeitpunkt des AfD-Erfolgs darauf hingewiesen, dass es den vermeintlich „etablierten“ Volksparteien in Ostdeutschland an Verankerung, aber auch an Organisationsstruktur und Kampagnenfähigkeit fehle, weil sie, die CDU ausgenommen, bloß in den Oberzentren agierten und weder hinreichend Interesse noch Ressourcen und politische Strategie für den ländlichen Raum haben würden.[4]

An diesem Befund, dass es den Parteien im Osten an regionalem Unterbau fehlt, hat sich seitdem nichts geändert. Im Gegenteil: Die personellen Ressourcen der Parteien sind weiter erodiert. Ihnen fehlt es nicht nur an Mitgliedern, sondern auch an Personen, die für Amts- und Mandatspositionen infrage kommen und dann auch kandidieren. Dass an deren Stelle vielerorts Wählervereinigungen der Freiwilligen Feuerwehr, der Schützen- oder Heimatbünde getreten sind, hat den Rückzug der demokratischen Parteien aus den Regionen zusätzlich begünstigt.

Profiteur dieser Strukturschwäche anderer Parteien im Osten ist die AfD. Zudem zeichnet sich im Wahlverhalten in Ostdeutschland eine vertiefte Spaltung zwischen Metropole und Peripherie ab, bei der etwa die Grünen in wenigen ausgewählten großstädtischen Quartieren in Halle, Potsdam und Leipzig dominieren, während die AfD im jeweiligen Umland weiter auf dem Vormarsch ist. Auch wenn es beileibe keinen Erfolgsautomatismus der AfD bei den Landtagswahlen im Herbst 2024 gibt, steht doch zu erwarten, dass sie in ländlichen und mittelstädtischen Lagen Ostdeutschlands weitere Erfolge erzielen wird. Doch um ihre guten Umfrageergebnisse in echte Wählerstimmen zu verwandeln, muss die Partei in erheblichem Umfang Wähler mobilisieren, die nicht zu ihrer Kernwählerklientel gehören, mithin nicht von rechtsextremen Identitätsthemen erreicht werden. Diese Wechsel- und Nichtwähler zu erreichen, ohne die inhaltliche Agenda der AfD zu bedienen –, genau das ist die eigentliche Herausforderung für die demokratischen Parteien in Ostdeutschland. Dazu gehört, eine auf die ostdeutsche Kultur und ihre Kontexte abgestimmte politische Kommunikation zu entwickeln, die sich gezielt an jene wendet, die von Formaten der öffentlich-rechtlichen Sender ebenso wenig erreicht werden wie von der regionalen Tageszeitung. Bürgerforen auch und gerade in kleinen Orten, gezielte Arbeit mit Multiplikatoren im vorpolitischen Raum, sind dafür gute Anfänge. Ganz entscheidend aber ist es, die erprobten Formen regionaler Gemeinwesenarbeit zu stärken, damit die vor Ort handelnden demokratischen Akteure unter dem Druck der AfD nicht alleingelassen werden. Für all das ist – immerhin – bis zu den Wahlen 2024 noch ein gutes Jahr Zeit. Sie muss aber jetzt unbedingt genutzt werden.

[1] Vgl. Benedikt Kaiser, Dammbruch in Thüringen, www.dereckart.at, 27.6.2023.

[2] Vgl. Oliver Decker u.a., Autoritäre Dynamiken und die Unzufriedenheit mit der Demokratie, Leipzig 2023, www.efbi.de.

[3] Vgl. MDR, Deutschlands erster gewählter AfD Bürgermeister: Wer ist Hannes Loth?, www.mdr.de, 3.7.2023.

[4] Vgl. Peter Reif-Spirek, AfD oder die Krise der Repräsentation, in: „Blätter“, 5/2016, S. 25-28.

Aktuelle Ausgabe Oktober 2025

In der Oktober-Ausgabe wertet Seyla Benhabib das ungehemmte Agieren der israelischen Regierung in Gaza als Ausdruck einer neuen Ära der Straflosigkeit. Eva Illouz ergründet, warum ein Teil der progressiven Linken auf das Hamas-Massaker mit Gleichgültigkeit reagiert hat. Wolfgang Kraushaar analysiert, wie sich Gaza in eine derart mörderische Sackgasse verwandeln konnte und die Israelsolidarität hierzulande vielerorts ihren Kompass verloren hat. Anna Jikhareva erklärt, warum die Mehrheit der Ukrainer trotz dreieinhalb Jahren Vollinvasion nicht zur Kapitulation bereit ist. Jan Eijking fordert im 80. Jubiläumsjahr der Vereinten Nationen mutige Reformen zu deren Stärkung – gegen den drohenden Bedeutungsverlust. Bernd Greiner spürt den Ursprüngen des Trumpismus nach und warnt vor dessen Fortbestehen, auch ohne Trump. Andreas Fisahn sieht in den USA einen „Vampirkapitalismus“ heraufziehen. Und Johannes Geck zeigt, wie rechte und islamistische Rapper Menschenverachtung konsumierbar machen.

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