
Bild: New Yorker leiden unter dem Rauch der kanadischen Waldbrände, am East River in New York, 8.6.2023 (IMAGO / Xinhua / Michael Nagle)
Der Sommer auf der Nordhalbkugel hatte noch nicht begonnen, El Niño die Pazifikregion noch nicht zusätzlich aufgeheizt, da schien der Planet schon zu glühen und zu brennen. In den kanadischen Wäldern erstreckten sich bereits im Frühjahr gewaltige Feuer vom Atlantik bis zum Pazifik, quer durch das zweitgrößte Land der Erde. Thailand verwandelte sich im April in einen regelrechten Glutofen; angesichts einer ungewöhnlichen Hitze von 45 Grad im Schatten schickte die Regierung ihre Bürger in den Lockdown. Und aus dem Irak wurde gemeldet, dass die seit Jahrhunderten so fruchtbare Region zwischen Euphrat und Tigris vertrocknet und damit ausgerechnet jene Gegend, die in der biblischen Überlieferung als der blühende Garten Eden beschrieben wird.
Schon ein oberflächlicher Blick in die Nachrichten zeigt also, wie bedrohlich der Klimawandel für die Menschen inzwischen geworden ist – und wie nah er uns angesichts von Überflutungen in Norditalien, Dürren in Spanien und Waldbränden in Brandenburg inzwischen kommt. Selbst im wohlhabenden Westeuropa müssen bereits scharfe Maßnahmen ergriffen werden, weil sich die Probleme endgültig nicht mehr aufschieben lassen. In den Niederlanden sah sich die (kürzlich zerbrochene) rechtsliberal geführte Regierung gezwungen, ein Drittel der Bauernhöfe zur Aufgabe zu drängen, um die viel zu hohen Stickstoffwerte zu senken. In Frankreich haben erste dürregeplagte Kommunen in ländlichen Regionen damit begonnen, den Bau neuer Eigenheime zu untersagen – weil das Wasser vielerorts schon jetzt kaum reicht.
Doch die gesellschaftlichen Reaktionen auf diese enormen Herausforderungen sind oft paradox. Während beispielsweise eine Mehrheit der Bundesbürger in Umfragen immer wieder bekennt, dass dem Klimaschutz mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden müsse, so wächst doch der Widerstand, sobald es um konkrete Maßnahmen geht. Das ist nicht bloß Ausdruck massiver Kampagnen der fossilen Industrien, es ist auch nicht allein mit Fehlern der Klimabewegung oder der Grünen zu erklären. Vielmehr zeigt sich hier ein unglückliches Bewusstsein: Die meisten Menschen wissen um die grundsätzliche Notwendigkeit des Klimaschutzes, aber andere Dinge wiegen schwerer: materielle Verlustängste, Schuldabwehr angesichts des eigenen Anteils an der Erderhitzung oder schlicht die Unwilligkeit, seinen Lebensstil zu ändern. Dabei haben dieselben Bürger während der Coronapandemie mehrheitlich noch weit drastischere, wenn auch zeitlich beschränkte, staatliche Eingriffe in ihr Privatleben akzeptiert. Einen wesentlichen Anteil an der damaligen Einsicht in die Notwendigkeit dürften die Bilder von Armeelastwagen voller Särge aus dem norditalienischen Bergamo gehabt haben. Wer diese und ähnliche Aufnahmen gesehen hatte, musste die Krise als akut wahrnehmen.
Angesichts dessen stellt sich die Frage: Welches Bild machen wir uns vom Klimawandel? Begreifen wir seine Dringlichkeit – oder halten wir ihn für ein Problem kommender Generationen,? Sehen wir in ihm ein schicksalhaftes Verhängnis – oder erkennen wir noch Möglichkeiten, zu handeln und zu gestalten?
Wer könnte darüber Aufschluss geben, wenn nicht die Literatur? Schließlich finden in ihr gesellschaftliche Stimmungen und gedankliche Strömungen einen verdichteten Ausdruck – oft noch bevor etwa die Soziologie sie methodisch zu definieren vermag. Doch umso mehr erstaunt der Blick auf die Neuerscheinungen der vergangenen Jahre. Fast könnte es scheinen, als spiegele die Literatur bloß das unglückliche Bewusstsein unserer Gesellschaften. Zwar avancierten einzelne Romane, die sich der Erderwärmung widmen, zu Bestsellern, darunter das „Klima-Quartett“ der norwegischen Schriftstellerin Maja Lunde, das mit „Die Geschichte der Bienen“ begann und dessen vierter Teil „Der Traum von einem Baum“ soeben auf Deutsch erschienen ist. Aber dieser und andere Verkaufserfolge können nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Klimawandel weder in der Breite noch in der Spitze der Literaturszene angekommen ist: Noch erscheinen vergleichsweise wenig Romane zu dieser existenziellen Menschheitsfrage und wenn, dann werden sie selten von bekannten Autoren verfasst; Margaret Atwood („Orxy und Crake“, 2003) und T.C. Boyle (zuletzt „Blue Skies“, 2023) markieren mit ihren Büchern hier eher die Ausnahmen.
Dieser auffällige Mangel veranlasste den indischen Schriftsteller Amitav Ghosh schon 2016 zu einem fulminanten kulturkritischen Großessay. Das Grundproblem unserer modernen Rationalität bestehe darin, so Ghoshs These, dass wir verlernt haben, das Unwahrscheinliche zu denken. Wir gehen derart von stabilen ökologischen Zuständen aus, die sich allenfalls graduell verändern, dass wir die Möglichkeit außergewöhnlicher Ereignisse – wie Jahrhundertstürme – weitgehend ausblenden. Das präge auch den zeitgenössischen Roman: „Der Gestus, mit dem er Realität hervorzaubert, dient in Wirklichkeit dem Verbergen des Realen.“ Denn tatsächlich bricht in Zeiten des Klimawandels das Außergewöhnliche immer wieder über uns herein. Vorstellungen einer geordneten Normalität erweisen sich zunehmend als trügerisch. Das nicht erkennen zu können, verweise auf eine „Krise der Kultur und [...] der Imagination“ – auf eine „große Verblendung“.[1]
Doch zeigt ein zweiter Blick auf die aktuelle Lage: Ganz so düster ist es um unsere Kultur nicht bestellt. In den wenigen Jahren, die seit Ghoshs Kritik ins Land gegangen sind, haben neue literarische Stimmen von sich hören lassen, die sich der Herausforderung des Klimawandels stellen. Im englischen Sprachraum laufen diese Bücher längst unter einem Label, das auch in der deutschen Debatte zunehmend verwendet wird: Der Begriff „Climate Fiction“ nimmt sprachlich eine Anleihe bei Science Fiction, dient hier aber als Sammelbegriff für alle Romane, die sich mit der Erderwärmung befassen.[2]
Es ist eine Bewegung, die noch eher vom Rand des Literaturbetriebes kommt: Unter den entsprechenden Titeln findet sich so manches Debüt, oft verfasst von Frauen, zuweilen auch von Autoren, die sich in den vermeintlichen Niederungen der Genre-Literatur tummeln. Doch gerade sie zeigen zunehmend ein mutigeres, da realistischeres Bild der Klimakrise. Oft gehen sie dabei weg von den reinen, wenn auch aufrüttelnd gemeinten Schreckensbildern oder Dystopien, hin zu einer Reflexion über den veränderten Alltag unter den Bedingungen des Klimawandels – und sogar zu ersten konkreten Utopien.
Apokalypse als Gemeinplatz
Unter den neueren eher dystopischen Vertretern der „Climate Fiction“ sticht ein Roman besonders heraus: „Die Töchter des Nordens“ von Sarah Hall.[3] Die britische Schriftstellerin ruft darin einen Zusammenhang in Erinnerung, der in tagespolitischen Debatten um die Erderwärmung oft untergeht: Ein kollabierendes Klima führt auch zum Verlust von Ernten wie Ressourcen und untergräbt damit die wirtschaftliche Stabilität selbst noch der reichsten Länder – und ökonomische Unsicherheit hat bekanntlich schon oft den Nährboden für antidemokratische Bestrebungen bereitet. Im England der nahen Zukunft, das Hall entwirft, ist das Parlament aufgelöst worden und die Regierung betreibt eine durch militärische Repression gestützte Mangelverwaltung mit strikter Rationierung von Arbeitsplätzen, Wohnraum und Lebensmitteln sowie strenger Geburtenkontrolle, zu deren Zweck Frauen eine Zwangsverhütung auferlegt wird.
Gegen diese Zustände rebelliert die Ich-Erzählerin, die sich einer rein weiblichen Widerstandsgruppe in den Bergen anschließt – teils landwirtschaftliche Kommune, teils Guerillaarmee. Selbst in einem gekippten Klima, in dem der legendär kühle englische Sommer längst subtropischen Verhältnissen gewichen ist, dient die Natur Halls Protagonistin noch als Quelle der Erleichterung, als Ort des Trostes in trostlosen Zeiten. Ihre persönliche Befreiung vollzieht sich dann aber über die Vorbereitung eines bewaffneten Aufstandes.
Mit diesem rebellischen Grundton kontert Sarah Hall jenes Problem, vor dem alle Dystopien angesichts des Klimawandels stehen: Während George Orwell („1984“) oder Margaret Atwood („Der Report der Magd“) einst Szenarien entwarfen, in denen sie gefährliche Entwicklungen der Gegenwart bewusst extrem zuspitzten, um so mit ihren literarischen Warnungen die geschilderte düstere Zukunft vielleicht doch noch abzuwenden, wirken klassische Klima-Dystopien heute oft nicht aufrüttelnd, sondern abstumpfend. Denn wo alle Hoffnung vergebens erscheint, wächst nicht das Engagement, sondern die Apathie. Insofern ist es durchaus unklug, wenn gerade ökologisch besonders sensibilisierte Menschen zunehmend von „Klimakatastrophe“ statt von „Klimawandel“ sprechen: Die „Katastrophe“ lähmt, der „Wandel“ hingegen ist gestaltbar. Auch auf einem sich erhitzenden Planeten sind es weiterhin die Menschen, die ihre Geschichte machen. Im Anthropozän gilt das sogar umfassender denn je – im Guten wie im Bösen.
Ganz anders klingt das hingegen bei einer nicht minder bemerkenswerten Dystopie: In seiner „Southern Reach“-Trilogie beschwört der US-Schriftsteller Jeff VanderMeer einen ganz besonderen Horror herauf – eine Natur, die sich gegen den Menschen wendet.[4] An der Südküste der USA bildet sich ein Ökosystem heraus, in dem Menschen auf mysteriöse Weise scheinbar aktiv abgestoßen und bekämpft werden. Den Rätseln dieser sich wuchernd ausbreitenden Zone versucht eine staatliche Behörde auf den Grund zu gehen, deren Alltag VanderMeer beklemmend kafkaesk schildert. Zwar fällt die Erklärung für dieses geheimnisvolle Phänomen am Ende hinter die interessanteren Fährten zurück, die er im Lauf der Handlung legt; bis dahin aber schlägt VanderMeer seine Leser mit der Beschreibung eines Ökosystems in den Bann, das einerseits keinen Platz für Menschen hat, aber andererseits äußerst lebendig ist. Die für Menschen „unbewohnbare Erde“, vor der Autoren wie David Wallace-Wells warnen,[5] begegnet uns in dieser Trilogie einmal nicht als lebensfeindliche Wüste, sondern in voller Blütenpracht.
Doch auch bei anregenden Dystopien wie diesen, in denen der Klimawandel nicht bloß ein narrativer Vorwand für eine actiongetriebene Handlung à la „Mad Max“ ist, bleibt ein entscheidendes Manko: Solche Phantasien verlagern die Folgen des Klimawandels in eine entfernte Zukunft. Selbst Autorinnen und Autoren, die in warnender Absicht schreiben, bedienen damit jene Verdrängungsleistung, die darin besteht, den Klimawandel nur als Belastung kommender Generationen zu sehen. Das schwächt den kritischen Impuls von Dystopien entscheidend: Wer das veränderte Klima als Zukunftsproblem schildert, lenkt die Aufmerksamkeit – wohl unfreiwillig – weg von den drängenden Erfordernissen der Gegenwart. Im schlimmsten Fall schlägt der kritische Gestus so in einen antiaufklärerischen Impuls um.
Das liegt sicher nicht in der Absicht einer Autorin wie Sarah Hall, es verweist eher darauf, wie Diskurs und gesellschaftliches Bewusstsein sich weiterentwickelt haben: Halls Roman erschien im englischen Original 2007, also weit vor dem Pariser Weltklimavertrag von 2015 und vor dem Auftreten einer globalen Klimabewegung. Dennoch erweisen sich Klima-Dystopien letztlich als Teil der von Ghosh diagnostizierten „Krise der Imagination“. Statt einer spektakulären Apokalypse gehen wir schließlich eher einer neuen Normalität – oder zumindest einer postnormalen Zwischenzeit – entgegen, in der nicht mehr der Untergang der menschlichen Zivilisation droht, aber doch die Unbewohnbarkeit ganzer Regionen.
Schöne neue Normalität
Angesichts dessen braucht es Erzählungen, die – in Anlehnung an Ghosh – das Reale nicht länger verbergen. Wie das gelingen kann, zeigt brillant verdichtet eine Kurzgeschichte der irischen Schriftstellerin Caoilinn Hughes: Eine Klimaforscherin verlässt, überwältigt von den verheerenden Erkenntnissen, eine Fachkonferenz in Andorra und unternimmt spontan einen nos-talgisch gemeinten Skitrip in die Berge: „Sie schloss die Tür vor den Teilantworten auf absolute Fragen.“[6] Doch die kleine Flucht misslingt, selbst hoch oben ist die Schneedecke dünn, abschalten kann sie nicht. Die Wissenschaftlerin erfährt, was sie doch längst weiß: Es gibt für sie kein Außen im Angesicht des Klimawandels und wenig Hoffnung auf einen Rest unbeschwerter Gegenwart. Die dramatischen Veränderungen sind schon da.
Diese Erkenntnis lässt sich ganz unterschiedlich in Literatur ummünzen, aber alle gelungenen Versuche zeigen einen durch den Klimawandel massiv veränderten Alltag – und ergründen so die Lebensweise im Anthropozän. Das Wissen um die Dringlichkeit der Klimakrise, so lässt sich dabei lernen, treibt Menschen allerdings keineswegs zwangsläufig zum Handeln. Im Gegenteil kann es sogar lähmen, besonders dann, wenn man seine Lebensumstände eigentlich radikal ändern müsste, das aber nicht schafft – oder nicht schaffen kann.
Das schildert die deutsche Schriftstellerin Franziska Gänsler in ihrem Debüt „Ewig Sommer“. Ihre Ich-Erzählerin Iris hat vom Großvater ein Hotel in einem Kurort übernommen, der aber aufgrund regelmäßiger sommerlicher Waldbrände inzwischen kaum noch Besucher anzieht. Die einst gute Luft ist nun über lange Wochen beißend und gesundheitsschädlich. Doch veräußern lässt sich das Hotel genau deswegen auch nicht mehr. So existenzgefährdend die Lage für die Protagonistin also ist, so distanziert zeigt sie sich doch: „Obwohl ich das Feuer durch die Fenster sehen konnte, die Situation im Wald blieb für mich ungreifbar. Meine eigene Auseinandersetzung mit dem Brand erschöpfte sich im Beseitigen der Flugasche, im Instandhalten meiner kleinen Welt. [...] Leute wie ich, die keine Kinder hatten, die sich nirgendwo anders ein Leben vorstellen konnten, waren geblieben. Alles, was mir gehörte, war hier, und so ging es vielen.“[7] Diese Ausweglosigkeit spiegelt Gänsler gekonnt in der Lage des einzigen Hotelgastes: Dori, die mit ihrer kleinen Tochter aus einer toxischen Beziehung geflüchtet ist, aus der sie sich aber schließlich doch nicht lösen kann. Womöglich ist das auch ein Sinnbild für das toxische Verhältnis, das viele von uns an eine Lebensweise bindet, von der wir wissen, dass sie unsere Existenzgrundlage zerstört.
Aber nicht nur der lokal gebundene Mensch kann den Folgen des Klimawandels nicht entrinnen, sondern auch der Kosmopolit mit Wohnsitzen auf mehreren Kontinenten. Nicht zuletzt davon erzählt Amitav Ghosh, selbst der Inbegriff eines Kosmopoliten, in „Die Inseln“.[8] Er greift dabei auf eine alte bengalische Legende zurück, die der New Yorker Antiquar Dinanath Datta erforschen will: Ein hochmütiger Kaufmann zieht sich den tödlichen Zorn der Schlangengöttin zu, flieht vor ihr über die Weltmeere, entgeht ihren Heimsuchungen aber nicht. Bei seinen Recherchen bemerkt der eigentlich streng westlich-rationale Datta zunehmend beunruhigende Parallelen zwischen dem Mythos und seinem Leben: Ob in den indischen Mangrovenwäldern der Sundarbans, an der Küste Kaliforniens oder in Venedig, stets wird er mit den Folgen des Klimawandels konfrontiert. Unaufdringlich nutzt Ghosh die intellektuelle Abenteuerreise seines Protagonisten, um den alten Stoff zu aktualisieren: Da steht der Kaufmann aus der Legende für den modernen Menschen, der sich über die Natur erhebt, und die Schlangengöttin für die Naturkräfte, die zurückschlagen. Im furiosen Ende sind es aber ausgerechnet diese Naturkräfte, die ein Schiff mit jenen Menschen retten, die sich ob der Erderwärmung zwangsweise auf den Weg machen: Klimaflüchtlinge.
Jene wiederum, die angesichts des Klimawandels nicht resignieren, sind allerdings auch keineswegs frei von Widersprüchen, so eine schöne Pointe aus „Doggerland“ von Élisabeth Filhol. Der Roman der französischen Schriftstellerin spielt an vier Tagen, in denen ein schwerer Sturm von West nach Ost über die Nordsee zieht. Er trifft im schottischen Aberdeen auf Land, wo zwei der drei Protagonisten sich gerade auf den Weg zu einer Konferenz im dänischen Esbjerg machen. Einer ist Stephen Ross, Leiter für Umweltstudien bei einem Windenergieproduzenten mit Offshoreanlagen in der Nordsee. Ihn, und damit ausgerechnet einen Vertreter der grünen Energiewirtschaft, zeichnet Filhol als Repräsentanten eines entfremdeten technischen Machbarkeitsdenkens: „Schon eine schöne und große Sache, dieser Sturm, der alles durchschüttelt, aber nichts beherrscht, meint Stephen, der meint, der Mensch habe den Kampf gegen die Naturgewalten endgültig für sich entschieden. Er liebt die Idee, diese vergeudete Kraft in Antriebskraft zu verwandeln, aus dieser Entfesselung, dieser blinden Gewalt eine Ressource zu machen.“[9] Der betreffende Windpark, den Ross dabei im Sinn hat, liegt ausgerechnet auf der Doggerbank, der Ruhestätte einer von einem Klimawandel vor rund 7500 Jahren unter Meer und Sedimenten begrabenen Zivilisation. Am Beispiel Doggerlands – das im Roman Margaret Ross, Geologin und Stephens Frau, erforscht – weist Filhol auf einen beunruhigenden Umstand hin: Auch ein klimatischer Umschwung, der über lange Jahre erfolgt und zunächst beherrschbar erscheint, kann verheerende Folgen haben.
Umso drängender stellt sich die Frage: Kann das Anthropozän, wenn schon nicht zum Guten, so doch wenigstens zum Besseren gestaltet werden? Das auszumalen wäre die Aufgabe für eine klassische literarische Gattung: die Utopie.
Doch nicht nur die Dystopie ist heute fragwürdig geworden, sondern die Utopie gleich mit. Wenn das Unheil nicht in eine ferne Zukunft verlagert werden kann, weil es schon da ist, so kann das Morgen auch nicht mehr die Verheißung des revolutionär Anderen bieten: An der Realität des Klimawandels kommt kein noch so kühner Zukunftsentwurf vorbei. Das bedeutet aber nicht, dass Utopien undenkbar wären, sie müssen nur anders gedacht werden, als wir es seit Thomas Morus kennen. Eine andere Welt ist nach wie vor möglich, sie müsste aber die Last unserer ökologisch verheerten Gegenwart tragen, könnte also nicht perfekt sein.[10]
Wie utopisches Denken heute aussehen kann, zeigt am besten der Vergleich zwischen Ernest Callenbachs umweltbewegtem Klassiker „Ökotopia“ von 1975, kürzlich bei Reclam in einer Neuausgabe erschienen,[11] und Kim Stanley Robinsons „Das Ministerium für die Zukunft“ von 2020, der Referenz schlechthin für alle, die sich nach einem klimagerechten Zukunftsentwurf sehnen.[12] Beiden Romanen ist gemeinsam, dass sie nichts imaginieren, was in ihrer jeweiligen Zeit nicht technisch oder gesellschaftlich als möglich galt oder zumindest als realisierbare Option diskutiert wurde: Sie verzichten bewusst darauf, die Probleme der Menschheit durch eine nur in der Phantasie der Autoren existente Wundertechnologie lösen zu wollen.
Davon abgesehen zeigt sich jedoch ein fundamentaler Unterschied zwischen beiden Entwürfen, der viel über die dazwischen liegenden knapp vier Jahrzehnte verrät: Callenbach siedelt seine Utopie noch ganz zeittypisch in einem räumlich begrenzten Gebiet an, mehreren Bundesstaaten an der US-Westküste, die sich abgespalten haben und nun eine Republik namens Ökotopia bilden. Dort sind Verbrennungsmotoren ebenso verboten wie Flugzeuge, die öffentlichen E-Busse verkehren gratis, die Arbeitszeit wurde auf 20 Wochenstunden reduziert und die Landwirtschaft verstaatlicht – wie radikal und frisch sich diese Vision teils immer noch liest, sagt nicht zuletzt viel über unsere Gegenwart.
Utopie in planetaren Grenzen
Wo Callenbach also der langen Tradition seit Morus folgt und eine im Entstehen begriffene Mustergesellschaft auf begrenzter Fläche zeichnet, geht Robinson von den Bedingungen der Weltgesellschaft aus. Statt wie Callenbach eine ideale Gemeinschaft zu zeigen – irgendwo zwischen großer Hippiekommune und unabhängig gewordener Kolonie –, beschreibt er einen globalen Wandel, der nicht zentral gesteuert wird und den höchst unterschiedliche Akteure tragen: eine UN-Behörde, Regierungen, soziale Bewegungen, Dorfgemeinschaften, selbst die Finanzindustrie und das Militär. Es geht dem erklärten Linken Robinson um das Mögliche und Machbare, nicht um das Reine und Ideale. Verluste – an Biodiversität, an bewohnbaren Lebensräumen oder kulturellen Gewohnheiten, nicht zuletzt an Menschenleben – spart er nicht aus, sie erden seine konkrete Utopie.[13]
Auf die Spitze treibt den Zug in die konkrete Utopie der amerikanische Schriftsteller Andrew Dana Hudson. Er nutzt sein Wissen als Nachhaltigkeitsforscher, um ein Gedankenexperiment des Weltklimarates literarisch auszugestalten. Der IPCC hatte 2021 fünf Szenarien präsentiert, wie sich die Welt entwickeln könnte, abhängig davon, wie hoch die Hürden für Emissionssenkungen und/oder Anpassung an den Klimawandel sind. Hudson übersetzt das in seinem Roman „Our Shared Storm“ in fünf Geschichten, die alle auf der Weltklimakonferenz 2054 in Buenos Aires spielen. Vier Personen treten in allen Episoden auf, und jedes Mal fegt ein Jahrhundertsturm über die argentinische Hauptstadt. Aber die Biografien der Protagonisten unterscheiden sich je nach Szenario radikal, ebenso wie die Folgen des Unwetters: Mal erleben wir eine Verlängerung gegenwärtiger Halbherzigkeiten, mal hyperkapitalistische oder militaristische Dystopien. Utopisch ist aber immerhin eine von Hudsons Geschichten, angelehnt an den Nachhaltigkeitspfad des IPCC. Dort zeichnet er das Bild einer resilienten Gesellschaft: Durch das Zusammenwirken von nachbarschaftlichen Solidaritätsnetzwerken und einem vorausschauend agierenden Staat kommt Buenos Aires glimpflich durch den Jahrhundertsturm. Es entstehen nur geringe Schäden, mit denen niemand allein gelassen wird.
Die Welt, die Hudson da skizziert, ist alles andere als perfekt, aber sie ist eine, in der wichtige Weichen richtig gestellt wurden: Bei allem weltweiten Austausch wurden Wirtschaftskreisläufe regionalisiert und auf Nachhaltigkeit orientiert, für die Anpassung an den Klimawandel erhebt eine massiv gestärkte UN drastische globale Vermögenssteuern, CO2 wird mit technischen Verfahren der Atmosphäre entzogen und gespeichert. Darauf lässt sich trotz aller verbleibenden Unsicherheiten und nach wie vor drohenden Katastrophen aufbauen: „Ein weiter Raum an Möglichkeiten hatte sich vor uns geöffnet. Wir mussten nicht mehr im Schatten des anstürmenden Verhängnisses leben [...].“[14]
Kim Stanley Robinson hat jüngst einen Arbeitsauftrag an seine Zunft formuliert: „Um realistisch zu bleiben, muss man über den Klimawandel schreiben.“[15] Damit hat die Literatur in den vergangenen Jahren zumindest begonnen und sie übersetzt dies in Geschichten, in denen die Dringlichkeit der Aufgabe aufscheint und zuweilen sogar menschliche Handlungsmacht erkennbar wird. Wie stark sich diese Bilder verbreiten, wird darüber mitbestimmen, ob die Menschheit das Ruder rechtzeitig herumzureißen vermag – oder ob die Dystopien von heute nicht morgen schon als Realitätsbeschreibung durchgehen können.
[1] Amitav Ghosh, Die große Verblendung. Der Klimawandel als das Undenkbare. München 2017, S. 39, S. 19 und S. 22.
[2] Rebecca Tuhus-Dubrow, Cli-Fi: Birth of a Genre, www.dissentmagazine.org, Sommer 2013; Thekla Dannenberg, Auf der Sturmhöhe der Zeit: Wie Climate Fiction vom aufgeheizten Planeten erzählt, www.deutschlandfunk.de, 13.3.2022.
[3] Sarah Hall, Die Töchter des Nordens. Roman. München 2021.
[4] Jeff VanderMeer, „Auslöschung“, „Autorität“, „Akzeptanz“, München 2014, 2015 und 2015.
[5] David Wallace-Wells, Ausblick auf das Höllenjahrhundert, in: „Blätter“, 11/2019, S. 47-57.
[6] Caoilinn Hughes, Creep, in: „Granta” Nr. 153, Herbst 2020, S. 105-113, hier: S. 106.
[7] Franziska Gänsler, Ewig Sommer. Roman. Zürich und Berlin 2022, S. 44.
[8] Amitav Ghosh, Die Inseln. Roman. München 2019.
[9] Élisabeth Filhol, Doggerland. Roman. Hamburg 2020, S. 72.
[10] Mit dem „Solarpunk“ entsteht derzeit ein neues Subgenre, das auf dieser Grundlage höchst diverse Utopien entwirft. Vgl. Joey Ayoub, What if We Cancel the Apocalypse?, www.newlinesmag.com, 22.11.2022.
[11] Ernest Callenbach, Ökotopia. Roman. Stuttgart 2022.
[12] Kim Stanley Robinson, Das Ministerium für die Zukunft. Roman. München 2021.
[13] Vgl. auch Steffen Vogel, Das gute Anthropozän, in: „Blätter“, 2/2022, S. 121-123.
[14] Andrew Dana Hudson, Our Shared Storm. A Novel of Five Climate Futures. New York 2022, S. 204.
[15] Vgl. „Es wird Leid geben und Gewalt“. Interview mit Kim Stanley Robinson, www.taz.de, 28.11.2021.