Ausgabe April 2024

Generationengerechtigkeit statt Schuldenbremse

Für eine finanzpolitische Zeitenwende

Die Schuldenuhr Deutschlands vom Bund der Steuerzahler Deutschland e.V. Berlin am 5.1.2024 (IMAGO / photothek / ThomasxTrutschel)

Bild: Die Schuldenuhr Deutschlands vom Bund der Steuerzahler Deutschland e.V. Berlin am 5.1.2024 (IMAGO / photothek / ThomasxTrutschel)

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. November 2023 hat den Streit über Sinn und Unsinn der seit 2009 im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse massiv verschärft.[1] Dieser Streit hat eine lange politische wie wissenschaftliche Vorgeschichte. Schon der britische Nationalökonom David Ricardo verunglimpfte zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Staatsverschuldung als die „schrecklichste Geißel, die jemals zur Plage der Nationen erfunden wurde“.[2] Dieses vernichtende Urteil prägt auch heute noch den Diskurs. So haben Kenneth Rogoff und Carmen Reinhart mit ihrer 2010 vorgelegten Studie den Befürwortern der Schuldenbremse den Rücken gestärkt. Auf der Basis eines internationalen Vergleichs zwischen 66 Ländern behaupteten sie: Ab einem Schuldenstand von 90 Prozent – im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt – würden die privatwirtschaftlichen Investitionen derart verdrängt, dass das Wirtschaftswachstum zu schrumpfen beginne.[3]

Obwohl schwere methodische Fehler der Studie belegt sind, haben diese „fake news“ die Befürworter der Schuldenbremse beflügelt. Sie argumentieren, der Parlamentarismus führe unweigerlich zu einer über Kredite finanzierten Verschwendungspolitik. Die Schule der sogenannten Neuen Politischen Ökonomie schuf dafür die Figur eines mittels Wahlgeschenken lediglich die eigene Wiederwahl sichernden Parlamentariers. Während dieses amputierte Politikwesen zwar über Bildung und Wissenschaft entscheiden dürfe, müsse es im Bereich der Staatsschulden völlig entmündigt werden: Deshalb dürften Parlamente bis auf einen Minirest nicht mehr über Kreditaufnahmen entscheiden. Indem das Grundgesetz mit der Schuldenbremse – unterstützt durch das Verfassungsgericht – Investitionen in den öffentlichen Kapitalstock prinzipiell verbietet, zwingt es den Staat faktisch dazu, auf eine ausreichende Zukunftsvorsorge zu verzichten. Folgerichtig stehen diesem theoriegeschichtlichen „Contra Staatsverschuldung“ von Beginn an die Befürworter einer verantwortungsvollen Schuldenpolitik gegenüber. Zu erwähnen ist insbesondere der Nationalökonom und Soziologe Lorenz von Stein, der in seinem Lehrbuch der Finanzwissenschaft bereits 1875 auf die intergenerative Wirkung der Staatsverschuldung hingewiesen hat: „Ein Staat ohne Staatsschuld tut entweder zu wenig für seine Zukunft oder er fordert zu viel von seiner Gegenwart.“[4] Auch der deutsche „Kathedersozialist“ Adolph Wagner forderte 1879 die Staatsverschuldung zur öffentlichen Investitionsfinanzierung. Der Vorreiter für modern begründete schuldenfinanzierte Investitionen zugunsten der Gesamtwirtschaft ist John Maynard Keynes: Er erklärte mit seiner „General Theory“ von 1936 erstmals theoretisch-systematisch die Notwendigkeit, gezielt staatliche Defizite einzusetzen. Dies gelte, wenn die geplanten privatwirtschaftlichen Investitionen insgesamt geringer ausfielen als das geplante gesamtwirtschaftliche Sparen.[5] Schließlich hat der Nestor der modernen Finanzwissenschaft, Richard Abel Musgrave, die über Kredite finanzierten Investitionen mit dem „investment approach“ begründet: Danach ist es das Ziel, die gesamtwirtschaftliche Leistungsfähigkeit auch für die kommenden Generationen zu stärken. Aus den später anfallenden Wohlstandsgewinnen werden, vergleichbar dem privatwirtschaftlichen Investitionskalkül, Zinsen und Tilgung refinanziert. Über diese intertemporale Wirkungskette leitet sich das Prinzip „pay as you use“ bei der Finanzierung öffentlicher Investitionen ab.[6] Dabei geht es um eine Finanzpolitik, die auf Generationengerechtigkeit abzielt.

Drei fundamentale Fehlurteile zum Verhältnis von Wirtschaft und Staat

Die Bewertung der Staatsverschuldung spiegelt, theoriegeschichtlich betrachtet, letztendlich die ordnungspolitische Auffassung über das Verhältnis von einzelwirtschaftlich betriebener Privatwirtschaft und dem Staat wider. Während die eine Seite ganz auf das sich angeblich selbststabilisierende Marktsystem schaut, sieht die andere in der Staatsverschuldung ein unverzichtbares Instrument, um die Zukunft für nachfolgende Generationen zu sichern. Der Streit um öffentliche Kredite für Investitionen entpuppt sich so am Ende als Stellvertreterkrieg: Während der Sack Staatsverschuldung geprügelt wird, ist der Esel Staat gemeint. Dabei ziehen sich, was die angeblichen negativen Wirkungen der Staatsverschuldung anbelangt, drei fundamentale Fehlurteile durch die gesamte theoriegeschichtliche Kontroverse.

Das erste Fehlurteil besteht darin, dass die Anforderungen an das fiskalische Handeln des Staates auf das einzelwirtschaftliche Kalkül der Unternehmen und der privaten Haushalte reduziert werden. Beispielhaft dafür steht die Aufforderung Angela Merkels aus dem Jahr 2008: „Man hätte einfach die schwäbische Hausfrau fragen sollen. […] Sie hätte uns eine Lebensweisheit gesagt: Man kann nicht auf Dauer über seine Verhältnisse leben.“ Was für die schwäbische Hausfrau mit ihren einzelwirtschaftlich eingeschränkten Haushaltseckwerten Ausgaben, Einnahmen, Ersparnisse, aber auch für den teilweise per Kredit finanzierten „Häuslebau“ gilt, lässt sich aber auf den Staat nicht anwenden. Der Grund ist seine strategische Rolle in der Gesamtwirtschaft. Wenn der Staat etwa seine Ausgaben zurückfährt, dann folgt ein sich verstärkender Ausfall an gesamtwirtschaftlicher Nachfrage. Dies zeigt das Beispiel der Konjunkturkrise: Reagiert der Staat auf sinkende Einnahmen infolge des konjunkturellen Rückgangs mit Ausgabeneinsparungen, dann werden aufgrund der rückläufigen Nachfrage sich verstärkende Einnahmenausfälle in der Wirtschaft folgen. Diese kontraproduktive Wirkung wird auch als das Sparparadoxon bezeichnet (John Maynard Keynes und Erich Preiser). Spart die Politik an den Ausgaben, sinkt die Staatsverschuldung nicht, sondern sie steigt sogar kontraintentional an, da es infolge der Produktionsreduktion zu Steuereinnahmeverlusten kommt. Also kann sich der Staat aus dieser konjunkturellen Krise nicht heraussparen. Im Gegenteil: Nur der Staat kann mit seiner antizyklischen Politik des deficit spending die Investitionszurückhaltung der Wirtschaft durchbrechen. Das heißt, die systemisch erzeugte Nachfragelücke muss durch staatliche Politik geschlossen werden, und zwar mittels produktiver Investitionen, nicht mittels konsumtiver Ausgaben. Immerhin sieht die im Grundgesetz vorgeschriebene Schuldenbremse diese antizyklische Kreditpolitik durchaus vor. Allerdings sind die dazu erforderlichen Konjunkturbereinigungsverfahren oftmals viel zu eng gehalten.

Das zweite Fehlurteil lautet, dass durch die wachsende Aufnahme von Krediten auf den Finanzmärkten privatwirtschaftliche Investitionen verdrängt und die Inflation angeheizt würden. Der Blick auf die Empirie zeigt, dass davon in den vergangenen Jahren nicht die Rede sein konnte. Trotz des schockartigen Anstiegs der Staatsschulden infolge der Coronakrise und des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine sind die Kapitalmarktzinsen erst einmal extrem niedrig geblieben. Offensichtlich werden die Zinssätze auf den Kapitalmärkten also nicht primär durch die Höhe der Staatsschulden, sondern durch die Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Investitionen im Verhältnis zum Sparen beeinflusst sowie durch internationale Einflüsse und die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank.

Auch kann von einer durch die finanzpolitische Macht des Staates verursachte Verdrängung der privatwirtschaftlichen Investitionen – einem „Crowding out“ – nicht die Rede sein. Die Wahrheit ist vielmehr: Erst durch Kredite zur Finanzierung der staatlichen Ausgaben gegen die diversen Krisenfolgen sind die Gesamtwirtschaft stabilisiert, der soziale Ausgleich in Angriff genommen und die ökologische Modernisierung vorangetrieben worden. Die Schuldenbremse hat dagegen seit vielen Jahren krisenverschärfend gewirkt. Denn sie führt dazu, dass sich das Verhältnis der gesamtwirtschaftlichen Ersparnisse gegenüber den Sachinvestitionen zunehmend auseinanderentwickelt. Hier hat sich seit Jahren ein Übersparen durchgesetzt, sprich: Die Sparsumme liegt deutlich über den Realinvestitionen. Die Ursache dieses Übersparens besteht darin, dass infolge wachsenden Wohlstands die Geldvermögensbildung stark unterschiedlich verteilt zunimmt, während sich die gesamtwirtschaftliche Produktion abschwächt („Wohlstandsfalle“). Diesen sich stetig verfestigenden Trend zur relativen Entkoppelung der Gewinne gegenüber Sachinvestitionen hat die „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik“ bereits 1984 in ihrem „Memo-Forum“ untersucht.[7] Zugleich kann der Außenhandel mit seinen Ex- und Importen das im Inland wachsende Übersparen im langfristigen Trend nicht kompensieren, sondern erzeugt auf diese Weise immer größere Handelsbilanzüberschüsse, was wiederum internationale Verwerfungen zeitigt. Während die privaten Haushalte wachsendes Einkommen immer schon per Sparen der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage entziehen, kommen jetzt die nicht investierten Überschüsse, die Gewinne, der Produktionswirtschaft hinzu. Am Ende bleibt nur noch der Staat, der mit entsprechenden Krediten zur Finanzierung von Investitionen die binnenwirtschaftliche Lücke füllen muss. Daraus folgt: Der durch die privaten Haushalte und die Unternehmenswirtschaft erzeugte Spielraum für volkswirtschaftliche Ausgaben kann nur der Staat und muss dieser per öffentlicher Investitionen ausschöpfen. Daher sind staatliche Defizite gegen den durch das Übersparen getriebenen Trend zur stagnativen Wirtschaftsentwicklung höchst rational. Zugleich wird die Wirtschaft durch die über Kredite finanzierten Investitionen in deren nachhaltigen Umbau ökologisch fundiert.

Der verfassungsrechtliche Vorrang der Generationengerechtigkeit

Das dritte Fehlurteil gegen die Staatsverschuldung ist die Behauptung, dass heutige Schulden eine fatale Erblast produzierten, die die nachfolgenden Generationen zu tragen hätten. Das staatliche Schuldenmachen wird so zur angeblichen Amoralität gegenüber den künftigen „Lastenträgern“ deklariert. Gegen diese Erblastthese stehen die möglichen positiven ökonomischen, aber auch ökologischen Wirkungen der mit Krediten finanzierten öffentlichen Investitionen in die Zukunft. Öffentliche Investitionen in der Gegenwart können nachfolgenden Generationen zukünftig nicht zu bewältigende Kosten ersparen, die infolge des klimapolitischen Nichtstuns entstehen. Die aktuell gängige Reduktion auf die Erblast des „Kapitaldienstes“ ist daher schlichtweg ein Trugschluss. Denn auf der Einnahmenseite des Staates gibt es nur die Staatsverschuldung, mit der sich die Finanzierungskosten für öffentliche Investitionen zugunsten nachfolgender Generationen intergenerativ, also zwischen Alt und Jung, aufteilen lassen. Wenn heute nicht gehandelt wird, werden die Freiheitsrechte der zukünftig Lebenden massiv eingeschränkt, etwa durch Dürren, Unwetter, Überschwemmungen und Flächenbrände. Denn jetzt unterlassene Maßnahmen gegen die Klimakrise werden so auch zum „Feind“ der Freiheits- und Eigentumsrechte. Diese heutige Verantwortung für die Gerechtigkeit zwischen den Generationen fordert das Grundgesetz: Der Schutz der Freiheitsrechte gilt nicht nur für die derzeit lebende Bevölkerung. Damit kommt der Generationengerechtigkeit Verfassungsrang zu. Insofern muss es Ziel der Politik sein, künftige Verluste an individuellen Freiheitsrechten zu verhindern – genau wie es das Bundesverfassungsgericht in seiner epochalen Entscheidung vom April 2021 begründet hat.[8] Die heutige Politik, die ihre Möglichkeiten der CO2-Reduktion nicht voll ausschöpft und damit zum Teil irreparable Lasten auf nachfolgende Generationen verlagert, ist damit im Ergebnis verfassungswidrig.

Genau auf diesen Wirkungszusammenhang hin muss auch die Schuldenbremse überprüft werden. Werden infolge der Schuldenbremse notwendige Investitionen, die die Freiheitsrechte künftiger Generationen schützen würden, unterlassen, dann widerspricht das dem Verfassungsgrundsatz der Generationengerechtigkeit. Hier liegt der große Widerspruch bzw. das Spannungsverhältnis zwischen dem Bundesverfassungsgerichtsurteil zur Schuldenbremse und dem zur Generationengerechtigkeit. Angesichts des Verfassungsranges der Generationengerechtigkeit ist das Urteil vom 15. November 2023 zur strengen Einhaltung der Schuldenbremse höchst problematisch.

Zurück zur »Goldenen Regel«

Fest steht: Die aktuellen Herausforderungen – aufgrund der Klimanotlage, aber auch der anderen Krisen, vom Krieg in der Ukraine bis hin zur Erosion der deutschen Infrastruktur – lassen sich unter dem Regime der Schuldenbremse fiskalisch nicht bewältigen. Im Gegenteil: Das grundsätzliche Verbot staatlicher Kreditfinanzierung bei gleichzeitiger neoliberaler Verweigerung von Steuererhöhungen zwecks gerechterer Lastenverteilung lässt den Handlungsdruck immer größer werden und verschärft damit die Krise. All das macht eine finanzpolitische Zeitenwende unausweichlich.

Während die „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik“ bereits in der von Bundestag und Bundesrat eingesetzten Föderalismuskommission II zwischen 2007 und 2009 gegen die vom Mainstream behauptete „Erfolgsstory Schuldenbremse“ argumentierte,[9] vollzieht sich jetzt endlich auch in der beratenden Wirtschaftswissenschaft ein Paradigmenwechsel – auf der Basis empirisch abgesicherter Analysen. Selbst die Deutsche Bundesbank, die immer wieder als Gralshüterin einer strengen Schuldenbremse auftrat, betont mit ihrem Monatsbericht vom April 2022 erneut den Kurswechsel, und zwar mit ihrer Forderung, den „Neuverschuldungsspielraum insbesondere bei niedrigen Schuldenquoten moderat auszuweiten“.[10] Ende Januar dieses Jahres folgte dem der „Sachverständigenrat zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“, der ebenfalls über viele Jahre stur die „schwarze Null“ gefordert hatte, jetzt aber – endlich – davon Abstand nimmt.[11]

Tatsächlich hat die Schuldenbremse verhindert, die produktiven Vorteile von über Kredite finanzierten Staatsinvestitionen auch für nachfolgende Generationen zu nutzen. Dabei wurden selbst dringendste Reparaturinvestitionen nicht vorgenommen. Diese Demontage des öffentlichen Kapitalstocks infolge unterlassener Reinvestitionen belegen marode Schulen genauso wie bröckelnde Brücken, was die volkswirtschaftlichen Kosten der geplanten ökologischen Transformation immer weiter nach oben treibt. Diese durch eine verfehlte Finanzpolitik erzeugte Notlage sollte Grund genug sein, parteiübergreifend der finanzpolitischen Vernunft wieder eine Chance zu geben. Wer eine lebenswerte Gegenwart und Zukunft verspricht, kann nicht an der Schuldenbremse festhalten. Mittlerweile liegen tatsächlich zahlreiche Vorschläge gegen die fortgesetzte Blockade einer gesamtwirtschaftlich nachhaltigen Entwicklung durch die Schuldenbremse vor. Sie reichen von partiellen Kleinstkorrekturen bis zur kompletten Abschaffung des Kreditfinanzierungsverbots. In jedem Falle wäre jedoch eine Grundgesetzänderung erforderlich. Schließlich hat das Bundesverfassungsgericht mit seinem Schockurteil vom 15. November 2023 selbst kleinste Abweichungen von der derzeit strengen Schuldenbremse mit dem Siegel der Verfassungswidrigkeit versehen. Deshalb braucht der Gesetzgeber nun den Mut, die 2009 ins Grundgesetz eingeführte Schuldenbremse mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit zurückzunehmen. Nur mit einem entsprechenden Konsens der demokratischen Parteien ließe sich eine zukunftsfähige Finanzpolitik, die Verantwortung für nachfolgende Generationen übernimmt, verfassungsrechtlich absichern.

Momentan darf der Schuldenstand eines Mitgliedstaates der EU laut Maastricht-Vertrag aus dem Jahr 1992 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht überschreiten. Gegenüber dieser starren Grenze ist die „Goldene Regel“ als angemessene Schuldenbegrenzung vorzuziehen: Danach wird die Kreditaufnahme durch die Höhe der öffentlichen Gesamtinvestitionen begrenzt. Auch die Finanzierung der Ersatzinvestitionen wird so nicht mehr von der Lage der regulären Haushalte abhängig gemacht, da dies, wie beschrieben, zur Demontage des öffentlichen Kapitalstocks führt. In der Sprache der klassischen Finanzwissenschaft wird der „werbende Zweck“ dieser Art von Staatsausgaben betont. So lautete die Schuldenregel von 1949 bis 1967 in der Verfassung: „Im Wege des Kredites dürfen Geldmittel nur bei außerordentlichem Bedarf und in der Regel nur für Ausgaben zu werbenden Zwecken beschafft werden.“ Entscheidend ist damit die positive Wirkung öffentlicher Investitionen für die Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Zielgröße ist der inhaltlich fundierte Beitrag des Staates zum Erhalt und Ausbau des volkswirtschaftlich nachhaltigen Kapitalstocks.

Allerdings muss die Frage beantwortet werden, inwieweit bei öffentlichen Investitionen auch konsumtive Ausgaben eine Rolle spielen. Während derzeit bei der allgemeinen Begrenzung der Schulden durch die Quoten – auf etwa 0,35 Prozent des BIP beim Bund – auch konsumtive Staatsausgaben per Kredit finanziert werden dürfen, bezieht sich die „Goldene Regel“ ausschließlich auf investive Staatsausgaben. Doch was heißt das konkret? Gelten etwa Personalausgaben in den Schulen als investiv oder konsumtiv? Die Antwort auf diesen ebenfalls schon alten Streit lautet: Entscheidend ist die Zukunftswirksamkeit der per Kredit finanzierten Projekte. Deshalb zählen etwa die Personalkosten im Bildungssystem zu den Investitionen in das Humankapital. Schon 1989 hatte das Bundesverfassungsgericht mit Blick auf die damals geltende „Goldene Regel“ die strenge Abgrenzung zwischen konsumtiven und investiven Staatsausgaben aufgeweicht.[12] Zukünftig sollte – durchaus in Fortschreibung des Grundgedankens des damaligen Gerichtsurteils – statt einer krampfhaften Unterscheidung zwischen investiv und konsumtiv das umfassende Ziel der Investitionen, nämlich die nachhaltige Entwicklung, das erforderliche Ausgabenbündel mit Sach- und Personalinvestitionen bestimmen. Würde man also mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit im Deutschen Bundestag die 2009 aufgekündigte „Goldene Regel“ reaktivieren, hieße das: Künftig ist die Kreditaufnahme von Bund und Ländern in Höhe der gut begründeten öffentlichen Investitionen wieder möglich. Allerdings stehen dem Union und FDP bislang aus rein ideologischen Gründen entgegen.

Ein Sondervermögen als Einstieg in die Zeitenwende

Deshalb wird unterhalb der „Goldenen Regel“ intensiv nach einer eher durchsetzbaren Verfassungsänderung gesucht. Im Zentrum der Debatte steht die Forderung nach der Einrichtung eines „Sondervermögens“, das – dem „Sondervermögen Bundeswehr“ vergleichbar – in das Grundgesetz aufgenommen werden soll. Dafür ist zwar ebenfalls eine qualifizierte Mehrheit im Bundestag erforderlich, allerdings nicht zwecks grundsätzlicher Freigabe der Kreditfinanzierung, also ohne die Schuldenbremse ganz zu streichen, was eine Zustimmung wahrscheinlicher macht. Bei Sondervermögen werden für die gesamte Laufzeit die jährlich abrufbaren Kreditermächtigungen festgeschrieben. Der konkrete Abruf der Kredite erfolgt dann von Jahr zu Jahr.[13] Schwerpunkte sind die ökologische und digitale Transformation sowie wichtige weitere Infrastrukturprojekte. Gut begründete Projekte aus dem „Klima- und Transformationsfonds“ (KTF), der nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom November 2023 radikal zurückgefahren wurde, könnten so außerhalb des regulären Haushalts per Kreditfinanzierung gesichert werden.

Mittlerweile gibt es dafür vor allem aus der beratenden Wirtschaftswissenschaft konkrete Vorschläge. Am meisten Aufsehen erregte der gemeinsam von Clemens Fuest (ifo), Michael Hüther (DIW) und Jens Südekum (Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft) in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 12. Januar präsentierte Appell, der eine Ausnahme von der Schuldenbremse in Form eines „Sondervermögens für Investitionen“ fordert.[14] Michael Hüther schlägt für diesen „Transformations- und Infrastrukturfonds“ ein Gesamtvolumen von 400 bis 500 Mrd. Euro über zehn Jahre vor.[15] Ein vergleichbares Sondervermögen „Klima, Digitalisierung, Infrastruktur“ bringt auch die „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik“ im neuen „Memorandum 2024“ ins Spiel.[16] Dadurch sollen auch Unternehmen mittelfristig ihre Vorhaben besser planen und realisieren können; zugleich soll der Fonds über zielkonforme Projektanträge auch den Kommunen zugänglich sein. Auch der Bundeswirtschaftsminister plädierte für ein „Sondervermögen“ mit der Zielsetzung, die „strukturellen Probleme zu lösen“, und zwar in der Bundestagsdebatte zum Haushaltsfinanzierungsgesetz 2024. Und Ende Februar folgte dem auch seine Bundestagsfraktion.

Auch den Bundesländern, die derzeit außer im Rahmen der antizyklischen Verschuldung keine Kredite aufnehmen dürfen, sollten durch Ergänzung ihrer Landesverfassungen Sondervermögen ermöglicht werden. Derartige Sondervermögen stehen – auf der Bundes- wie auf der Landesebene – für den Einstieg in eine finanzpolitische Zeitenwende. Anstatt durch Nichtstun die Kosten der Klimakrise in die Zone der Unbeherrschbarkeit zu treiben, muss nachfolgenden Generationen eine lebenswerte Umwelt vererbt werden. Und da letztlich alle Parteien davon profitieren, sollten wenigstens hier die erforderlichen Zweidrittelmehrheiten in den Parlamenten zustande kommen.

Als erstes Bundesland hat Bremen nach der Streichung des Klimafonds Anfang März die erforderliche Mehrheit für eine Ergänzung der Landesverfassung in der Bürgerschaft zustande gebracht. Die rot-grün-rote Landesregierung einigte sich mit der CDU in der Opposition darauf, die Landesverfassung um ein per Kredit finanziertes Sondervermögen zu ergänzen. Von der Gesamtsumme über 450 Mio. Euro werden 250 Mio. Euro für finanzielle Hilfen zur Dekarbonisierung des Bremer Stahlwerkes (ArcelorMittall) sowie zum Aufbau einer Wasserstoffversorgungsstruktur investiert. Diese mit qualifizierter Mehrheit gesicherte Einrichtung eines Sondervermögens sollte Vorbild auch für den Bund sein.

Langfristig kommt es jedoch weiterhin darauf an, die Schuldenbremse ganz zu streichen und so wieder eine umfassendere staatliche Kreditaufnahme zu ermöglichen – für öffentliche Investitionen in eine Wirtschaftsentwicklung hin zu einem ökologisch nachhaltigen Wohlstand. Erst dadurch wird eine Finanzpolitik möglich, die dem verfassungsrechtlichen Ziel der Generationengerechtigkeit folgt und damit die ethische Verantwortung der Politik für künftige Generationen tatsächlich einlöst.

[1] Siehe dazu die Beiträge von Achim Truger, Die Ampel in der Haushaltskrise: Wie weiter mit der Schuldenbremse?, in: „Blätter“, 1/2024, S. 5-8; Albrecht von Lucke, Gegen Ampel und AfD: Die mobilisierte Republik, in: „Blätter“, 2/2024, S. 5-8; und Peter Bofinger, Kranker Mann und dummer Mann? Wie die Ampelkoalition uns in die Krise spart, in: „Blätter“, 3/2024, S. 87-93.

[2] David Ricardo, Grundsätze der Politischen Ökonomie, Band 1, 1817/1959, S. 233 ff.

[3] Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff, Growth in a Time of Debt, in: „The American Economic Review“, 2/2010, S. 573-578.

[4] Lorenz von Stein, Lehrbuch der Finanzwissenschaft, Leipzig 1875, S. 716.

[5] John Maynard Keynes, The General Theory of Employment, Interest and Money, London 1936, S. 211.

[6] Richard Abel Musgrave, The Theory of Public Finance: A Study in Public Economy, New York 1959.

[7] Rudolf Hickel und Gerd Brosius, Gewinne und Sachinvestitionen der Unternehmen im Lichte neuerer empirischer Informationen; in: „Memo-Forum“ (Zirkular der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik) Nr. 2, Bremen Februar 1984, siehe zur genaueren, auch stark empirisch unterlegten Analyse Rudolf Hickel, Ein neuer Typ der Akkumulation? Anatomie des ökonomischen Strukturwandels – Kritik der Marktorthodoxie, Hamburg 1987.

[8] BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 24. März 2021, 1 BvR 2656/18.

[9] Als Bundestagsabgeordneter hat Axel Troost die Kritik der „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik“ an der Schuldenbremse in die „Föderalismuskommission II“ eingebracht. In der Folge ist die „schwarze Null“ immer wieder in den „Memoranden“ kritisiert worden. Vgl. Axel Troost, Die Schuldenbremse – Wachstumsbremse und Generationenbetrug, bankkaufmann.com, 12.2.2009.

[10] Deutsche Bundesbank, Europäischer Stabilitäts- und Wachstumspakt: Zu einzelnen Reformoptionen, in: „Monatsbericht April 2019“; wieder aufgegriffen: Die Schuldenbremse des Bundes: Möglichkeiten einer stabilitätsorientierten Weiterentwicklung; in: „Monatsbericht April 2022“.

[11] Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Die Schuldenbremse nach dem BVerfG-Urteil: Flexibilität erhöhen – Stabilität wahren, „Policy Brief“ vom 30.1.2024.

[12] Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18.4.1989.

[13] Dieser Vorgabe des Grundgesetzes folgend wurde Art. 87 a Abs. 1a) Satz 1 hinzugefügt: „Zur Stärkung der Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit kann der Bund ein Sondervermögen für die Bundeswehr mit eigener Kreditermächtigung in Höhe von einmalig bis zu 100 Milliarden Euro errichten.“

[14] Clemens Fuest, Michael Hüther und Jens Südekum, Nach dem Haushaltsurteil: Sondervermögen für Investitionen schaffen, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 12.1.2024.

[15] Michael Hüther, Ein gesamtstaatlicher „Transformations- und Infrastrukturfonds“ zur Stabilisierung der Schuldenbremse; in: „Wirtschaftsdienst/Zeitgespräch“, 1/2024, S. 14-20.

[16] Arbeitsgemeinschaft Alternative Wirtschaftspolitik, Memorandum 2024: „Schuldenbremse lösen – Auftakt zum gerechten Klimaschutz“, Köln 2024.

Aktuelle Ausgabe September 2025

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