
Bild: Zwei Männer unterhalten sich in Teheran vor einem Plakat der »Fattah«, der ersten iranischen Hyperschallrakete, 7.6.2023 (IMAGO / NurPhoto)
Nach dem direkten Angriff des Iran auf Israel am 13. April lautet die bange Frage der Menschen in der Region: Kommt es zu einem Flächenbrand oder kann das Schlimmste noch abgewendet werden? Das gilt ganz besonders für den Libanon. Schon bisher hatten der terroristische Angriff der Hamas auf Israel und der anschließende Gazakrieg hier verheerende Folgen: Fast täglich kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Hisbollah. 330 Menschen wurden bei israelischen Angriffen im Südlibanon, aber auch in der östlichen Bekaa-Ebene getötet, darunter mindestens 66 Zivilisten. In Israel kamen 18 Menschen bei Angriffen der Hisbollah ums Leben, darunter sechs Zivilisten. Im Norden Israels wurden aufgrund der ständigen Angriffe 60 000 Menschen dauerhaft evakuiert, im Süden des Libanon sind es 90 000 Zivilisten, die ihre Wohngebiete verlassen mussten.
In der libanesischen Hauptstadt ist in den Tagen unmittelbar vor dem iranischen Angriff die Angst, dass der Konflikt zwischen Israel und der Hisbollah erneut in einen zerstörerischen Krieg münden könnte, mit Händen zu greifen. Zwar sind die Menschen hier einiges gewohnt, sehen sich selbst als „resilient“ und krisenerprobt. Doch hinter der Fassade stecken vor allem Erschöpfung und der Frust über die Entwicklung der letzten Jahre, wenn nicht Jahrzehnte.
Das Land erlebt eine schwere politische und wirtschaftliche Krise. Wer heute in Beirut durch die Straßen geht, sieht einen deutlichen Unterschied zu früheren Tagen. Die Preise sind astronomisch hoch, viele Geschäfte geschlossen, die Armut hat allerorten sichtlich zugenommen. Im April 2023 erreichte die Inflation 270 Prozent. Nicht nur die fünfeinhalb Millionen Libanesen, sondern auch eineinhalb Millionen syrische Flüchtlinge leiden unter der Situation – der Libanon beherbergt damit die in Relation zur Einwohnerzahl größte Zahl an Flüchtlingen weltweit. Dazu kommen aktuell die Binnenvertriebenen aus dem Süden. Drei Viertel aller Einwohner des Libanon gelten inzwischen als arm. Das ist eine enorme Zahl im einstigen Vorzeigeland der Region, in dem trotz aller Konflikte eine überdurchschnittlich gebildete und wirtschaftlich erfolgreiche Mittelschicht existierte.
Ausgangspunkt der Krise war das Scheitern der 2019 mit großen Hoffnungen gestarteten libanesischen „Revolution“ – damals gingen Zehntausende Menschen aus verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen auf die Straße, um gemeinsam ein Ende des korrupten politischen Systems zu fordern. Die Regierung trat zurück, unabhängige Bewegungen und Kandidaten schienen auf dem Vormarsch. Doch die Coronakrise legte den Tourismus lahm und ließ die Wirtschaft implodieren. Außerdem waren die herrschenden Eliten, allen voran die Hisbollah, nicht bereit, ihre Pfründe aus den Händen zu geben. Um diese zu verteidigen, setzte sie auch immer wieder Gewalt ein – wie 2021, als sie den Intellektuellen Loqman Slim, einen der schärfsten Kritiker der Hisbollah, ermordete. Die gewaltige Explosion im Beiruter Hafen 2020 markierte einen weiteren Tiefpunkt, über 200 Menschen starben dabei, 300 000 wurden obdachlos. Die enormen Zerstörungen sind bis heute nicht beseitigt. Die Aufklärung wurde ebenso behindert wie politische Reformen. Seit 2022 ist das Amt des Präsidenten vakant und die Regierung nicht mehr handlungsfähig.
Gerade als eine vorsichtige Erholung der Wirtschaft einzusetzen schien, begann der Krieg in Gaza. Zwar gibt es Solidarität mit den Menschen dort. Doch die Angst vor einem Krieg im Libanon wiegt für die meisten schwerer, zumal das Thema der Palästinenser im Libanon aufgrund des Bürgerkriegs mit der PLO als Kriegspartei historisch belastet ist. Außerdem sind die Lager, in denen Hunderttausende weitgehend rechtlose palästinensische Flüchtlinge leben, Horte der Armut und politischer Konflikte. Bei den meisten Libanesen weckt der Krieg im Süden Erinnerungen an 2006. Damals hatte die Hisbollah mit einem Angriff über die Grenze einen israelischen Gegenschlag provoziert. Dieser fiel massiv aus, erwies sich aber als strategisches Desaster für Israel, weil es die heftigen Raketenangriffe der Hisbollah nicht stoppen konnte.
Das gefährliche Kalkül der Hisbollah, Israels und des Iran
Und so steht für den Libanon auch jetzt wieder viel auf dem Spiel; kommt es zu einer Eskalation mit Israel, droht erneut eine harte militärische Reaktion und eine landesweite Bombardierung. Und so zögert bisher auch die Hisbollah, die Hamas mit allen Mitteln zu unterstützen. Beide sind zwar Teil der „Achse des Widerstands“, aber im aktuellen Konflikt gibt es durchaus gegensätzliche Interessen.
Ein Krieg könnte auch die innerlibanesischen Konflikte wieder aufbrechen lassen. Derzeit bestimmt die Hisbollah nahezu im Alleingang das Schicksal des Landes. Und so folgt auf die Reden ihres Chefs, Hasan Nasrallah, die aus Sicherheitsgründen stets an unbekannten Orten gehalten werden, regelmäßig die Exegese, wie hoch seine Konfrontationsbereitschaft gerade sein könnte. So auch bei seiner Rede am diesjährigen 5. April, dem sogenannten Al-Quds-Tag, den Islamisten weltweit zur Mobilisierung nutzen. „Das war ein Wendepunkt. Da ist das, was vorher war, und das, was danach kommt“, sagte er in Bezug auf den israelischen Angriff wenige Tage zuvor auf ein Konsulargebäude der iranischen Botschaft in Damaskus.
Bei diesem kamen 16 Menschen, darunter Mohammad Reza Zahedi, Brigadegeneral der iranischen Revolutionsgarden, ums Leben – der schwerste Schlag für die auch im Ausland agierende Eliteeinheit seit der gezielten Tötung ihres Kommandeurs Qassim Soleimani 2020 im Irak durch die USA. Nasrallah kündigte ebenfalls an, dass diesmal Iran „ohne Zweifel“ gegen Israel vorgehen werde. Der Punkt war bemerkenswert: Einerseits konnte man ihn so lesen, dass er die islamistische Hisbollah, die wichtigste der mit Iran verbündeten Milizen, nicht in der Pflicht sah, direkt auf den Angriff zu reagieren. Andererseits kündigte Nasrallah bereits die Attacke an, die zehn Tage später Wirklichkeit werden sollte: den direkten Angriff des Iran auf Israel. Über 300 Drohnen, ballistische Raketen und Marschflugkörper schickte Teheran in Richtung Israel, um dann, während diese noch in der Luft waren, über seine Vertretung bei den Vereinten Nationen zu erklären, die „Angelegenheit könne damit als abgeschlossen betrachtet werden“.
Die wenigen Raketen, die durchkamen, richteten kaum Schäden an – abgesehen davon, dass in der Negevwüste im Süden Israels ein siebenjähriges Mädchen aus einer Beduinenfamilie lebensgefährlich verletzt wurde und in einer Militärbasis leichter Sachschaden entstand. Lag das an der „dosierten“ und frühzeitig bekanntgegebenen Attacke, wie manche Analysten glauben, oder lediglich am massiven koordinierten Einsatz israelischer, jordanischer, amerikanischer, britischer und französischer Abwehrsysteme?
Abschreckung allein genügt nicht
Eines jedenfalls ist klar: Sich darauf zu verlassen, dass es auf Dauer bei „berechenbaren“ Angriffen und Gegenangriffen bleibt, wäre fahrlässig. Seit dem 7. Oktober eskaliert nicht nur der israelisch-palästinensische Konflikt, sondern die ganze Region erlebt die schwerste Krise seit Jahrzehnten. Israel steht dabei der selbsterklärten „Achse des Widerstands“ Irans und seiner Verbündeten in der Region gegenüber. Die aktuelle israelische Regierung setzt seit dem Überfall der Hamas darauf, mit massiver Abschreckung Stärke zu demonstrieren – und damit bisher vor allem auf eine zerstörerische Kriegsführung im Gazastreifen[1] und gezielte Schläge in der Region. Die Folgen waren ein permanenter Kleinkrieg mit der Hisbollah und eine indirekte regionale Auseinandersetzung mit Iran. Diese droht nach der Attacke auf das Konsulat und dem massiven iranischen Gegenschlag außer Kontrolle zu geraten.
In Israels Kriegskabinett unter Führung Benjamin Netanjahus stand die Sorge vor einer Eskalation, welche die Sicherheit des Landes weiter gefährden könnte, offensichtlich nicht im Vordergrund. Das könnte verschiedene Gründe haben: Netanjahus eigener Legitimationsverlust und der Wunsch nach „Vorwärtsverteidigung“; das Wissen, im Zweifel durch den mächtigsten Partner, die USA, geschützt zu werden; oder die Überzeugung, regionale Akteure wie die Hisbollah oder Iran hätten ihrerseits kein Interesse an einer großangelegten militärischen Eskalation. Dabei sind auf beiden Seiten ideologische Elemente im Spiel, welche die Eskalationsgefahr begünstigen: Auf iranischer Seite die Staatsdoktrin einer „Befreiung Palästinas und der Beendigung des zionistischen Regimes“, womit die Zerstörung Israels gemeint ist. Nach dem Angriff postete der iranische Staatsführer Ali Khamenei Bilder eines von Geschossen und Abwehrraketen erleuchteten Himmels über dem Tempelberg und kündigte an, Jerusalem werde „in den Händen der Muslime“ sein. In Israel führt Netanjahu eine radikale rechtsnationale Koalition an, die jeden Ausgleich mit den Palästinensern ablehnt und deren radikale Vertreter ebenfalls den Tempelberg für sich beanspruchen. Nach dem iranischen Angriff in den Morgenstunden des 14. April erklärte der Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, Israel als „Hausherr“ im Nahen Osten müsse jetzt auf den Putz hauen.[2]
Dabei hat Teheran mit seinem Angriff den israelischen Hardlinern in die Hände gespielt. Zwar begründete die iranische Regierung die Attacke mit einem angeblichen „Selbstverteidigungsrecht“ laut Artikel 51 UN-Charta, aber in Wirklichkeit war sie ein illegitimer Vergeltungsschlag – wenn auch provoziert durch den ebenfalls widerrechtlichen Angriff Israels auf das iranische Konsulatsgebäude. Tatsächlich kann sich Israel nun wieder zu Recht auf die Notwendigkeit der eigenen Landesverteidigung berufen. Dabei war zuvor der Druck auf Israel gestiegen, die Militäraktion im Gazastreifen zu beenden, bei dem übermäßig viele Zivilisten getötet und große Teile des Gebiets weitgehend zerstört wurden. Der Ruf von Menschenrechtsorganisationen und Völkerrechtlern, Waffenlieferungen nach Israel zu unterbinden, um weitere Kriegsverbrechen zu verhindern und einen Waffenstillstand in Gaza zu erreichen, der zuletzt zunehmend Widerhall fand, dürfte jetzt wieder in den Hintergrund treten.
Nach dem barbarischen Angriff der Hamas vom 7. Oktober erklärten viele Regierungen ihre Solidarität mit Israel. „In diesem Moment gibt es für Deutschland nur einen Platz: den Platz an der Seite Israels“, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz. Das war angesichts des traumatischen Überfalls verständlich. Kritische Töne setzten sich erst langsam durch, obwohl sich bald zeigte, dass die militärische Reaktion Israels im Gazastreifen auf nahezu allen Gebieten kontraproduktiv war: mit Blick auf die palästinensische Zivilbevölkerung, die israelischen Geiseln, die Aussichten auf die Wiederaufnahme eines dringend benötigten politischen Prozesses sowie die rasant wachsende regionale Eskalationsgefahr.
Zwar wuchs die Kritik der Verbündeten Israels an dessen Vorgehen in Gaza – wenn auch die Ermahnungen zahnlos blieben –, aber das verschärfte militärische Vorgehen in der Region verurteilten sie gar nicht. Die USA bemühten sich lediglich im Hintergrund, eine Eskalation mit der Hisbollah und auch mit Iran zu verhindern. Rote Linien wurden der israelischen Regierung jedoch weder in Bezug auf Gaza noch auf die Region gezogen. Dabei war klar, dass ein Militärschlag auf ein iranisches Konsulargebäude und die Tötung eines der hochrangigsten iranischen Militärkommandeure eine neue Qualität darstellt und gravierende Folgen haben würde. Wer aber stets schweigt, wenn Verbündete Völkerrecht verletzen, verliert immer mehr an Glaubwürdigkeit. Zur Deeskalation gehört daher auch ein verantwortungsvollerer Umgang mit dem Völkerrecht.
Vor allem braucht es jetzt aber eine politische Strategie, die an die Stelle der militärischen Eskalationslogik tritt. Dafür gibt es zwei Ansatzpunkte: Erstens teilen nach dem iranischen Angriff mehrere arabische Staaten das Interesse, eine weitere Eskalation zu verhindern und den Einfluss Irans und seiner Verbündeten einzudämmen. So ist bemerkenswert, dass Jordanien, das sich in Bezug auf den Gazakrieg äußerst kritisch gegenüber Israel positioniert hat, seine Luftwaffe einsetzte, um iranische Drohnen auf dem Weg nach Israel abzufangen. Daher könnte das Land auch bei regionalen Verhandlungen eine zentrale Rolle spielen.
Deeskalation – aber wie?
Ein solcher Verhandlungsprozess unter Beteiligung arabischer Staaten müsste endlich wieder politische und wirtschaftliche Perspektiven für die Region in den Blick nehmen. Auch die vergessene Krise im Libanon sollte dann wieder auf die Tagesordnung. Im Zentrum solcher Deeskalationsbemühungen muss aber zunächst ein dauerhafter Waffenstillstand in Gaza stehen. Ein solcher würde es möglich machen, die israelischen Geiseln zu befreien und die Hungersnot, die aktuell Hunderttausende Palästinenser bedroht, zu beenden. Darüber hinaus könnte er sofort deeskalierend wirken, auf die Angriffe der Huthis im Roten Meer, die angespannte Lage an der israelisch-libanesischen Grenze wie auf jene in Syrien und im Irak. Für eine nachhaltige Lösung bedarf es allerdings einer neuen Vision für den Gazastreifen – mit einer Übergangsverwaltung, die eine wirtschaftliche Wiederbelebung und einen Wiederaufbau ermöglicht.
Wie im Libanon, so wollen die meisten Menschen in der Region keinen großangelegten Konflikt. Sie leiden bereits massiv unter der Unsicherheit und den wirtschaftlichen Folgen. Internationale Akteure müssen daher mit Nachdruck auf ein Ende aller Feindseligkeiten hinwirken und internationales Recht durchsetzen. Nur eine Politik, die an den Interessen, Rechten und der Sicherheit der Menschen in Israel, Palästina und den Staaten der Region ausgerichtet ist, kann dort langfristige Stabilität schaffen.
[1] Vgl. den Beitrag von Matthew Levinger in diesem Heft.
[2] Wörtliche Übersetzung aus dem Hebräischen: „richtig durchdrehen“.