Die Fallstricke der ostdeutschen Identität

Bild: Fanschal des 1. FC Magdeburg mit der Aufschrift »Wir haben Euch kämpfen und siegen sehen – in Ostdeutschland!«, 20.9.2020 (IMAGO / Jan Huebner)
Identität zu definieren und konzeptionell genau festzulegen, ist notorisch schwierig. Klar ist, Identität hat etwas mit sozialer Verortung, Gruppengrenzen, Zugehörigkeitsgefühlen und kollektiven Bewusstseinsformen zu tun. Ostdeutsche Identität galt lange Zeit als Problemfall, als mögliche Bremse im Prozess hin zur „inneren Einheit“. Sie wurde in den 1990er und auch noch in den 2000er Jahren mit Ostalgie, Rückwärtsgewandtheit, sozialistischen Prägungen und dem Wirken der PDS in Verbindung gebracht. Ostdeutsch vergemeinschaftende Selbstverständnisse wurden im öffentlichen Diskurs daher häufig negiert und als Bewusstseinsform der Ewiggestrigen zurückgewiesen, die es zu überwinden gelte. Politisch wollte man meist eher die regionalen Identitäten der neuen Bundesländer stärken, die neben einem Bezug auf Gesamtdeutschland Bindekräfte entfalten sollten.
Nun, das Verschwinden einer Ostidentität hat sich als falsche Erwartung herausgestellt. Wir beobachten eine Verstetigung und so etwas wie eine nachholende Bewusstseinsbildung. Ostdeutsche Identität ist alive and kicking, allerdings hat sie sich von den alten Anhaftungen gelöst und ist mit neuen Inhalten gefüllt worden, wobei sie anders funktioniert als (Selbst-)Zuschreibungen wie „norddeutsch“ oder „süddeutsch“. Für die erste Zeit nach der Vereinigung hat Claus Offe einmal ironisch von einer „sekundären Ethnifizierung“ der Ostdeutschen gesprochen, motiviert durch Marginalisierung und kollektive Herabsetzung, die ein Wir-Gefühl hervorbrächten. In der Tat lässt sich die ostdeutsche Identitätsbildung teilweise auf ein so empfundenes „Kollektivschicksal“ zurückführen, das neben der Herkunft aus der DDR auch mit der Transformation sowie der Position in der sozialen, politischen und diskursiven Geografie Gesamtdeutschlands zu tun hat. Das Gefühl der Zurücksetzung war zumindest in den Jahren unmittelbar nach der Wiedervereinigung omnipräsent. Damals herrschte eine verbreitete „Angst vor Mindereinschätzung“, die durch die Entwertung von Biografien, berufliche Deklassierung und das so oft beschworene „Anerkennungsdefizit“ verursacht wurde. Auch für die mediale Berichterstattung lässt sich zeigen, dass es eine Art Negativitätsbias gibt und Ostdeutschland eher mit bestimmten Problemen in Verbindung gebracht wird. Besonderheit und Abweichung sind wiederkehrende Topoi der massenmedialen Repräsentation des Ostens. Dirk Oschmann hat solche Befunde und Eindrücke zu der These einer „dreißigjährige[n] Geschichte individueller und kollektiver Diffamierung, Diskreditierung, Verhöhnung und eiskalter Ausbootung“[1] vergröbert und vergrößert.
Damit etikettiert Oschmann aber nicht nur die „real existierenden Unterschiede“ im Ost-West-Vergleich zu einem vornehmlich diskursiv hergestellten Phänomen um. Unterschlagen werden dabei zugleich andere Quellen von Gefühlen sozialer Unterlegenheit. Der mit Mecklenburg eng verbundene Literat Uwe Johnson hat einmal sehr klug von der „Einbildung der eigenen Minderwertigkeit“ geschrieben, „mit der die DDR ihre Leute angesteckt“ habe. Für die Zeit vor 1989/90 kann man zumindest annehmen, dass der Systemvergleich bei Konsum und Wohlstand auf ganzer Linie zuungunsten Ostdeutschlands ausging. Die krassen Unterschiede waren einfach zu offensichtlich, niemand hätte seinen Trabi oder Wartburg behalten, wenn er die Chance gehabt hätte, diesen gegen einen Dreier-BMW oder einen VW-Golf zu tauschen. Womöglich ist das Gefühl der gesellschaftlichen Zweitklassigkeit also nicht allein in der vereinigten Bundesrepublik entstanden, sondern schon in der DDR-Erfahrung angelegt. Und womöglich kann man für einige Regionen mit schwacher Wirtschaftsstruktur Ursachen ausmachen, die bis in die Weimarer Republik und ins Kaiserreich zurückreichen.
Der Osten: »verandert« und anders
Das Bewusstsein, ein kollektives ostdeutsches Wir zu sein, ist mit dem Ende der DDR nicht kollabiert, sondern hat sich in gewisser Weise erst damals verfestigt, weil man mit seinen Erfahrungen auf sich und eine Bezugsgruppe zurückverwiesen wurde – ein Phänomen, das auch von migrantischen Gruppen bekannt ist. Selbstvergewisserung der Zugehörigkeit, Fremdzuschreibungen seitens einer (westdeutschen) Mehrheitsgesellschaft, wahrgenommene symbolische Abwertungen und der Griff nach einem biografischen Anker waren dabei entscheidende Faktoren, ebenso lebensweltlich immer wieder bedeutsame Differenzerfahrungen. Klischees, welche die Ostdeutschen als „rückständig“ oder „noch nicht angekommen“ beschreiben, können zur Ausbildung eines Gruppengefühls beitragen, das sich über die Zeit verselbstständigt. Aber es sind eben auch die Besonderheiten kollektiver Erfahrungslagen und der sozialstrukturellen Verfasstheit, die ein Unterschiedsempfinden hervorrufen. Der Osten wird nicht nur durch gewisse westdeutsche Medien „verandert“, er ist auch anders.
Heute finden ostdeutsche Identitätsdiskurse nicht mehr nur im Trümmerfeld der Partei Die Linke, in den Wärmestuben der Volkssolidarität und auf Ostrock-Partys statt, sondern ebenso in den Räumlichkeiten von Stiftungen, auf Theaterbühnen, bei Literaturfestivals, beim Ostdeutschen Wirtschaftsforum (OWF), auf den Heckscheiben PS-starker Fahrzeuge im Brandenburger Land, als Thema in Führungskräfteseminaren und in Fußballstadien, wenn in den Fankurven Ostdeutschland-Banner entrollt werden. Man könnte die Liste immer weiter verlängern, und auch der „Spiegel“ hat jüngst ein „neues Selbstbewusstsein Ost“ festgestellt. Diese Vielfalt an Erscheinungsformen, Kontexten und Initiativen macht es noch schwieriger festzulegen, was denn nun genau mit ostdeutscher Identität und Zugehörigkeit gemeint sein könnte.
Haltegriff der Identität
Aus meiner Sicht muss man sich mit einer Minimaldefinition begnügen, die wie folgt lauten könnte: Ostdeutsche Identität bezieht sich auf den Osten als spezifischen Erfahrungs-, Sozial- und Kulturraum, der als subjektiv erlebter und gedeuteter kollektiver Zusammenhang zum Thema wird. Die Ostdeutschen sind durch Gemeinsamkeiten verbunden, die sie mit anderen – den Westdeutschen zum Beispiel – nicht teilen. Das muss nicht bedeuten, dass damit eine Selbstidentifikation oder ein Selbstkonzept als Ostdeutscher einhergeht (dass man sich also selbst aktiv zum Ostdeutschen macht), aber doch, dass es ein Merkmal gibt, das einen von anderen unterscheidet. Eine Ostidentität kann dabei interessanterweise ohne den Westen nicht existieren – sie entsteht als Bezugnahme auf eine westdeutsche Referenzgesellschaft, in deren Normalität die eigene Andersheit gespiegelt und die Gemeinsamkeit mit anderen (Ostdeutschen) erst erkannt wird. Es handelt sich dabei aber weder um einen exklusiven Bezug noch um eine Abgrenzungsidentität. Man kann sich als Ostdeutscher fühlen und zugleich Thüringer oder Mecklenburger, Deutscher und Europäer sein. Ostdeutsch-Sein ist also nicht nur in sich heterogen, es ist auch in den allermeisten Fällen lediglich eine Identitätsfacette unter anderen. Allerdings gaben in einer jüngeren Umfrage über 40 Prozent der im Osten lebenden Menschen an, sich eher als Ostdeutsche denn als Deutsche zu fühlen. Von einem Ausschleichen des „Ostdeutschen“ als Haltegriff der Identität kann angesichts dieser Daten für einen beachtlichen Bevölkerungsanteil keine Rede sein.
Ähnlich offen wie die nach einem ostdeutschen Selbstverständnis ist die Frage, wer eigentlich als Ostdeutscher oder Ostdeutsche gelten kann. Will man nicht den allereinfachsten Weg gehen und diejenigen als „Ossis“ zählen, die in den neuen Bundesländern leben – dann wären die Potsdamer Günther Jauch und Kai Diekmann als ostdeutsch zu klassifizieren –, gibt es einen zweiten Weg über die biografische Herkunft. Hier wird das Ostdeutsch-Sein ähnlich wie der Migrationshintergrund konzipiert: Eine Person hat einen „Osthintergrund“, wenn sie selbst mit DDR-Staatsangehörigkeit geboren wurde oder mindestens ein Elternteil diese besaß.
Bei den Ostdeutschen handelt es sich jedenfalls weder um eine Ethnie noch um einen Stamm, die bzw. der sich über eindeutige Gruppenmerkmale abgrenzen ließe. Gemeinsam ist ihnen vielmehr ein Erfahrungszusammenhang, der zumindest für einen Teil von ihnen identitätsprägend ist. Hier überlagern sich persönliche Geschichte (Biografie und Herkunft als Anker) und Gegenwart (soziale und politische Geografie), sodass sowohl ältere Menschen mit DDR-Vergangenheit als auch die verschiedenen Jahrgänge der Nachwendegeneration ein inneres Band teilen. Heutzutage sehen wir unter jungen Ostdeutschen eine schon längst von der DDR losgelöste Bezugnahme auf den Osten. Das kann sehr unterschiedliche Färbungen annehmen: Heimat- und Regionalverbundenheit, Selbstvergewisserung, Ressentimentkultur, rechtsnationales Gegröle, neuer Oststolz, gepflegtes Underdog-Image oder auch eine zunehmend kritische Reflexion der rechten Gewalt der Postwendezeit. Zu beobachten ist außerdem eine Art Osttrotz, bei dem in Reaktion auf Unterlegenheitserfahrungen eine Selbstaufwertung stattfindet. Dem stehen Projekte wie die Plattform „3te Generation Ost“ gegenüber, auf der sich jüngere Menschen mit Ostherkunft – in der Selbstbeschreibung: „Wendekinder“ – vernetzen. Mit „Wir sind der Osten“ hat sich eine Initiative gegründet, die Menschen in und aus Ostdeutschland sichtbarer machen will. Das „Ostbewusstsein“ existiert also nur im Plural, auch wenn es immer wieder Versuche der Vereindeutigung und der politischen Instrumentalisierung gibt. Wenn jemand „Wir Ostdeutsche“ sagt, sollte man jedenfalls genau hinhören, welche Kollektivkategorie da aufgerufen wird und welche nicht.
Die Wahrnehmungsdifferenz zwischen Ost und West
Zusammen mit meinen Kollegen Julian Heide und Thomas Lux habe ich eine bundesweite repräsentative Umfrage zur Wahrnehmung von Unterschieden und Konflikten zwischen Ost- und Westdeutschen ausgewertet. Zunächst zeigt sich, dass die Aussage „Ostdeutsche und Westdeutsche unterscheiden sich heute immer noch in vielen Dingen“ unter denen mit Osthintergrund viel höhere Zustimmung erfährt (60 Prozent Zustimmung, davon 36 Prozent „stimme voll und ganz zu“) als unter Personen mit westdeutscher Biografie (41 Prozent Zustimmung, davon 18 Prozent „voll und ganz“). Ganz ähnlich fallen die Antwortmuster bei der Frage „Wie stark sind die Konflikte zwischen Ost- und Westdeutschen?“ aus: Immerhin 50 Prozent der Ostdeutschen halten die Beziehung für konfliktreich (21 Prozent „sehr stark“, 29 Prozent „eher stark“), aber nur 25 Prozent der Westdeutschen (7 Prozent „sehr stark“, 18 Prozent „eher stark“). Es gibt also eine deutliche Differenz in der Wahrnehmung sowohl hinsichtlich einer Unterschiedlichkeit als auch hinsichtlich der Konflikthaftigkeit. Dinge, die im Osten für bedeutsam gehalten werden, sind für Westdeutsche eher nachrangig. Die Daten liefern zunächst keine Hinweise auf die populäre Othering-These, wonach die Westdeutschen die symbolischen Grenzen zwischen Ost und West immer wieder reproduzieren und in den Ostdeutschen vor allem „die Anderen“ sehen, die demnach für die westdeutsche Referenz und Mehrheitsgesellschaft so etwas wie „Fremde“ oder „symbolische Ausländer“ wären.
Maßt sich der Westen wirklich an, wie es bei Dirk Oschmann heißt, „den Osten identitätspolitisch zu interpretieren“, kann er ihn nur als „Abweichung, Abnormalität, Abnormität“ begreifen? Solche Aussagen darf man getrost in Zweifel ziehen. Auch wenn Oschmann beispielsweise sagt, „den Osten“ gebe es gar nicht, dieser sei vielmehr eine „Erfindung des Westens“, verkennt er kolossal das komplexe Zusammenwirken von Ostdeutschland als spezifischem Sozial- und Erfahrungsraum, ostdeutscher Bewusstseinsbildung und westdeutschen Bildern des Ostens. Bezieht man die These einer Erfindung des Ostens durch den Westen nicht auf – zugegebenermaßen oft pauschalisierende – öffentliche Diskurse und mediale Bilder, sondern auf die Köpfe der Menschen, bleibt wenig davon übrig. Die Westdeutschen haben die Ostdeutschen mehrheitlich stillschweigend eingemeindet, trotz „So isser, der Ossi“-Überschriften in großen Wochenzeitungen und trotz der vielen Diskussionen über den „braunen Osten“. Wir haben diesen Befund etwas pompös „Negation von Alterität“ genannt, man könnte auch von einer Egal-Haltung sprechen, die nur durchbrochen wird, wenn in Ostdeutschland mal wieder etwas geschieht, das bundesweit zum Thema wird. Aus der Perspektive einer Mehrheitsgesellschaft fällt es häufig schwer, andere Erfahrungen überhaupt zu registrieren. Der Fisch kennt das Wasser nicht, in dem er schwimmt.
Die Schere geht weiter auf
Der eingemeindete, zahlenmäßig kleinere und statusschwächere Bevölkerungsteil – die Ostdeutschen – ist mit einem besonderen Sensorium für Gruppendifferenzen ausgestattet. Das ist auch nicht überraschend, wenn man bedenkt, dass die Wichtigkeit einer Unterscheidung immer davon abhängt, ob man sich auf der privilegierten oder auf der nichtprivilegierten Seite eines Konflikts befindet. Fragt man also die Bevölkerung, begreift nicht der Westen den Osten als anders, sondern der Osten sich selbst. Westdeutsche verneinen tendenziell die Differenz, auf welcher die Ostdeutschen mehrheitlich beharren: Sie fühlen sich anders, werden aber nicht als anders (an)erkannt.
Vertieft man diese Analyse etwas, treten weitere Aspekte hervor, die uns bei der Othering-These zur Vorsicht mahnen. So zeigt sich im Westen unter den jüngeren Jahrgängen eine zunehmende Irrelevanz der Ost-West-Dichotomie. Die Mauer im Kopf wird immer kleiner, je jünger die Menschen sind. Während sich bei denen, die die deutsche Teilung miterlebt haben, durchaus noch bedeutsame Teilgruppen finden, für die Ost und West einen Unterschied machen, ist dies bei jenen unter dreißig kaum noch der Fall. Im Osten sieht das ganz anders aus: Hier liegen die Bejahungsraten der jüngsten Kohorten sogar noch über denen der Älteren. Mit anderen Worten: Die Nachwendegeneration stimmt beiden Aussagen stärker zu als die Jahrgänge, die in der DDR sozialisiert wurden. In der Gruppe der jungen Ostdeutschen sagen 65 Prozent, es gäbe Unterschiede, in der entsprechenden West-Kohorte nur 32 Prozent. Ost-West-Konflikte nehmen 61 Prozent wahr, im Westen sind es nur noch 16 Prozent. Die Schere geht bei den jüngeren Jahrgängen also immer weiter auf und nicht zu. Ein auch für uns verblüffendes Ergebnis, das einerseits damit zu tun haben könnte, dass junge Ostdeutsche dem Ost-West-Unterschiedsdiskurs, den es in dieser Form erst seit 1989 gibt, über einen längeren Zeitraum ihres Lebens ausgesetzt waren als ihre Eltern und Großeltern. Andererseits kann man vermuten, dass die ersten Einheitsgenerationen noch stark auf die Anpassung und das Einfädeln in die Bundesrepublik setzten und die Ostherkunft zuweilen auch verschleierten, während die nachfolgenden Generationen selbstbewusster damit umgehen. Außerdem sind sie womöglich weniger bereit, Benachteiligung und Formen der Missachtung zu akzeptieren.
Auch hier kennen wir ähnliche Phänomene von migrantischen Gruppen, die in der zweiten oder dritten Generation eine stärkere Herkunftsvergewisserung und Sensibilität für Nachteilslagen entwickeln als ihre Eltern oder Großeltern, was in der Summe zu einer Rekulturalisierung oder einem selbstbewussteren Auftreten im öffentlichen Raum führen kann. Die Ergebnisse deuten also zum einen auf das sukzessive Verschwinden eines kognitiv präsenten Ost-West-Gegensatzes im Westen und auf seine anhaltende Relevanz in Ostdeutschland hin. Man kann vermuten, dass entsprechende Bezüge narrativ hergestellt werden, in lokalen Kontexten, Freundschaftsnetzwerken und am Abendbrottisch, in einer Art nach innen gerichtetem Gespräch. So ist bekannt, dass die Wiedervereinigung in den Familien der ostdeutschen Nachwendegeneration deutlich öfter thematisiert wird als in Westdeutschland. In dieser Binnenkommunikation werden vor allem dann Selbst- und Fremdzuschreibungen reproduziert, wenn diese in ein Hierarchieverhältnis eingebettet sind, etwa in strukturelle oder diskursive Ungleichheiten.
Erfindet sich der Osten selbst?
Im Osten bleibt der Westen präsent, im Westen spielt der Osten eine viel geringere Rolle, was schon an den quantitativen Größenverhältnissen liegt. Festzuhalten ist zudem, dass es auf dem Feld der Identitäten kein Pendant zum Ostdeutsch-Sein gibt, kein westdeutsches Gegenüber. Ein starkes Identitätsgefühl als Westdeutscher oder Westdeutsche lässt sich nicht feststellen, die allermeisten mit diesem Herkunftsbezug können mit diesem Label wenig anfangen und ziehen es vor, regionale oder bundeslandspezifische Selbstverständnisse zu pflegen. Die „Ossi / Wessi“-Unterscheidung, in Ostdeutschland tatsächlich eine wichtige Leitcodierung, findet im Westen jedenfalls keine Entsprechung. Daher könnte man die Aussagen von Dirk Oschmann vielleicht sogar umkehren und sagen: Der Osten hat den Westen erfunden – und zwar in Reaktion auf gesellschaftliche Dominanzverhältnisse. Und möglicherweise erfindet er sich sogar selbst – in Reaktion auf einen imaginierten und monolithisch gedachten Westen sowie ein wahrgenommenes oder unterstelltes Ostdeutschland-Bild der Westdeutschen.
Jedwede identitätspolitische Mobilisierung braucht eine kategoriale Differenz, aber was sind die Ostdeutschen eigentlich in diesem Spiel: eine deklassierte Großgruppe, ein Herkunftskollektiv, ein Merkmalsbündel im Raum der Ungleichheit, „Sonderdeutsche“? Essentialistische Kollektivbehauptungen führen regelmäßig in die Irre. Jedes Sprechen von den „Ostdeutschen“ unterschlägt die innere Diversität der Referenzgruppe selbst. Jede weitergehende Essentialisierung und alle Versuche, ein solches Selbstverständnis in der Breite zu einer starken Identität mit klar definierten Zugehörigkeiten und Gruppengrenzen zu stilisieren, laufen ins Leere, da es sich zumeist um eine Erfahrungsschicht neben anderen handelt. Zudem sind ostdeutsche Eindrücke des Nichtdazugehörens kaum mit der Ausgrenzung anderer marginalisierter Gruppen vergleichbar. Einen „Ossismus“ als gruppenbezogene Diskriminierung gibt es bis auf wenige Ausnahmen nicht. Die zwar vorhandene, im Vergleich zu anderen (beispielsweise religiösen oder ethnischen) Gruppen aber doch geringere Identitätsbedeutung hat auch damit zu tun, dass „das Ostdeutsche“ kein äußerlich sichtbares Merkmal ist, auf das man, gewollt oder ungewollt, immer wieder zurückverwiesen wird. Diese Art von Unsichtbarkeit ist ein wirksamer Schutz vor Diskriminierung, allerdings sind die Ungleichheiten damit auch weniger gut zu erkennen.
Die dunkle Seite der ostdeutschen Identitätspolitik
Verstehen sich Menschen als Ostdeutsche, handelt es sich dabei nicht um eine Separationsidentität, wie wir sie in Katalonien oder Schottland finden. Wir haben es allenfalls mit einem eigenen, aber vielfältigen Reservoir an Bezügen zu tun, die je nach Gruppe und Person sehr unterschiedlich ausgedeutet werden. Aus meiner Sicht muss man in der Gesamtheit eher von einer dünnen und latenten Identität sprechen, die allenfalls für eine Teilgruppe oder in bestimmten Situationen stärker in den Vordergrund rückt. Versuche, ostdeutsche Selbstverständnisse parteipolitisch, beispielsweise durch die Gründung einer Partei, auszuschlachten, wären vermutlich nur begrenzt erfolgreich. Das Regional-Ostdeutsche wird bisweilen mitgeführt, beispielsweise bei der Linken und bei der AfD, aber nicht so, dass damit eine starke Abgrenzung einherginge. Eher integriert man entsprechende Aspekte in das eigene politische Angebot, sodass sich Ostdeutsche, denen das Thema wichtig ist, dort aufgehoben fühlen. Ziel dieser Parteien ist freilich der gesamtdeutsche Wahlerfolg, weshalb sie eine Ostidentität nur auf eine bestimmte Weise bewirtschaften können.
Die AfD hegt offenkundig Ambitionen, ein spezifisch ostdeutsches Zurücksetzungsgefühl für sich zu instrumentalisieren. Das hat zum einen mit der zunehmenden Einwurzelung der AfD in ostdeutschen Gemeinden und zum anderen damit zu tun, dass man den Osten als Gegenbild zum Westen versteht, als Bollwerk gegen liberale Strömungen oder als Avantgarde einer Entwicklung, die man sich gesamtdeutsch wünscht. Der Westen erscheint aus dieser Perspektive als verweichlicht, migrantisch, in den Fängen einer „linksgrünen“ und „woken“ Kulturelite, der Osten hingegen als „national befreite Zone“. Der Westen ist so, wie man nicht werden möchte. Das ist gewissermaßen die „dunkle Seite“ der ostdeutschen Identitätspolitik.
Es gibt aber auch noch eine andere, die an neuere Diversitätsdiskurse anschließt. Über einen längeren Zeitraum hat Ostdeutschland in Debatten um Fragen der Sichtbarkeit, Gleichstellung und der angemessenen Repräsentation marginalisierter Menschen nur eine Nebenrolle gespielt. Nun schwappen solche Aspekte verstärkt in die Ost-West-Diskurse hinein bzw. werden dort aufgenommen.
Selbst im Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung findet sich ein Bekenntnis zu dem Ziel, die Repräsentation Ostdeutscher in Führungspositionen und Entscheidungsgremien zu verbessern. Manche wünschen sich sogar eine Verschränkung ostdeutscher und migrantischer Perspektiven, die beide einen Anspruch auf Gleichstellung und Anerkennung durch die westdeutsche Mehrheitsgesellschaft für sich reklamieren. Daraus, so zumindest die Hoffnung, könnten dann auch neue Allianzen einer „Gesellschaft der Anderen“ entstehen.
Diversität im Plural oder Abgrenzung vom Westen
In unserer Umfrage befürwortet eine deutliche Mehrheit im Osten (65 Prozent) mehr Maßnahmen zur Gleichstellung von Ostdeutschen, während dies in Westdeutschland nur eine Minderheit tut (35 Prozent). Für die Ostdeutschen gilt wiederum, je jünger, desto stärker die Unterstützung für positive Diskriminierung. Anders ausgedrückt: Gerade jüngere Menschen formulieren einen Anspruch auf einen Nachteilsausgleich. Unter den nach 1989 Geborenen sind es schon 78 Prozent, die für Gleichstellungsmaßnahmen votieren. Eine andere Studie kam zu einem weiteren bemerkenswerten Ergebnis: Für verschiedene Gruppen wie Ostdeutsche, Frauen und Personen mit Migrationsbiografie konnte gezeigt werden, dass sie – letztlich erwartbar – Affirmative-Action-Politiken stärker unterstützen als Nichtbetroffene. Aber während die anderen Gruppen Regulierungen bejahen, die die gleiche Teilhabe all dieser Menschen befördern sollen, beschränken sich die Ostdeutschen auf die Besserstellung des eigenen „Kollektivs“. Als Diversitätsbeauftragte der Nation kommen sie daher nicht infrage.
Man kann sich, blickt man auch auf politische Bewusstseinsformen im Osten, des Eindrucks nicht erwehren, dass sich die ostdeutsche Gesellschaft mindestens in Teilen stärker am tatsächlichen oder vermeintlichen Westen abarbeitet als an der eigenen Vergangenheit. Wie gesagt, „der Westen“ oder „die Westdeutschen / die Wessis“ sind für viele Ostdeutsche eine relevante Zuschreibungsgröße, auf die man sich bezieht, die Geschichte von Wiedervereinigung und Transformation bleibt eine grundlegende Referenz bei der Bestimmung der eigenen Position.
In den Mentalitäten und im kollektiven Bewusstsein hat das Hierarchie-verhältnis der Wiedervereinigung offenkundig einen langen Schatten hinterlassen. Das ist möglicherweise ein Grund, weshalb sich auch die ostdeutschen „Vergangenheitskämpfe“ viel stärker am Verhältnis zum Westen entzünden als an der DDR-Diktaturgeschichte, die irgendwie liegen bleibt. Kritik am „Westen“, der Gestus der Auflehnung oder etwa Versuche, Versatzstücke der postkolonialen Theorie in die innerdeutsche Debatte einzuführen, sind eventuell exemplarisch dafür, dass das Abarbeiten an Westdeutschland zeitlich verspätet neue Bewusstseinsformen hervorbringt.
Wenn man es – auch vor dem Hintergrund der Überlegungen zur Auseinandersetzung mit der Diktaturerfahrung – polemisch zuspitzen möchte: Die wachsende Kritik an den „Westdeutschen“ und ihrer Sicht auf die DDR sowie die Vereinigungsgeschichte steht in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zur selbstkritischen Befragung in Ostdeutschland selbst. Die Lautesten, die die „Wessis“ auf die Anklagebank setzen möchten, sind oft die Leisesten, wenn es um Fragen der Aufarbeitung geht. Womöglich – diese ketzerische Pointe sei erlaubt – sind die in den jüngeren Debatten an den Westen gerichteten Vorwürfe ein Ersatz-1968 des Ostens. Nicht nur die Bücher von Katja Hoyer und Dirk Oschmann stellen sich quer, wo es um eingespielte Perspektiven auf die DDR oder auf Ostdeutschland geht, auch sonst sind landauf, landab zunehmend Stimmen gegen einen dominanten, als westdeutsch empfundenen Diskurs zu hören. Manche sehen im „kometenhaften Aufstieg einer distinkten, erfahrungs- und erinnerungsgesättigten Ost-Identität“ eine Folge der bisherigen Verdrängung und Unterordnung ostdeutscher Erfahrungen und Sichtweisen.
Inzwischen gibt es sogar – als Pendant zur Critical Whiteness, die das Weißsein als unsichtbaren Maßstab der gesellschaftlichen Verhältnisse hinterfragt – die Forderung nach einer Critical Westdeutschness. Der Begriff hat auf den ersten Blick einiges an Satirepotenzial, gemeint ist aber die Kritik an der Setzung des Westdeutschen als Norm und des Ostdeutschen als Sonderfall. Diese Kritik an einer Verengung der sozialen Wirklichkeitswahrnehmung ist nachvollziehbar. Bemerkenswert ist hier aber die Wahl der Begrifflichkeit, wird doch versucht, damit an Diskurse über Rassismus und Diskriminierung anzuschließen, bei denen die (selbst)kritische Infragestellung und Sichtbarmachung von Privilegien und strukturellen Ungleichheiten im Zentrum steht. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass das Ausborgen solcher Konzepte mit strategischem Hintersinn erfolgt, um die ostdeutsche Erfahrung mehr oder weniger gleichberechtigt ins Register anderer Diskriminierungskategorien einzutragen.
Interessen vertreten ohne kulturalistischen Überschuss
Neuerdings kommen aber aus der Literatur – seltener aus der Publizistik und erst ansatzweise aus der Wissenschaft – Impulse, die die Debatte verschieben und reflexiver machen wollen. Getragen werden sie vor allem von der Nachwendegeneration. Autorinnen und Autoren wie Anne Rabe, Lukas Rietzschel, Hendrik Bolz oder Manja Präkels setzen sich auf eine neue Weise mit Ostdeutschland auseinander und tragen damit zu einer Selbstthematisierung bei, die auch gesamtdeutsch wahrgenommen wird – ähnlich wie postmigrantische Literatur Perspektiven vervielfältigen und pluraler machen kann. Diese, wie man in Anlehnung an Didier Eribon sagen könnte, Rückkehr nach Ostdeutschland entfaltet sich im Kontext einer Auseinandersetzung mit dem Nachwende-Osten (oder der DDR) als Sozial- und Erfahrungsraum. Themen wie Schuld und Verstrickung, Gewalt, die Entzivilisierung gesellschaftlicher Konflikte und das Zerreißen von Sozialformen nehmen dabei einen besonderen Stellenwert ein. Biografisches Erleben spielt hier ebenso eine Rolle wie die narrative Vermittlung über die Eltern- und Großelterngeneration. Aufschlussreich ist dabei, dass auch in dieser Literatur der „andere Osten“ mindestens als projiziertes Hintergrundbild sichtbar gemacht wird, was Forderungen nach einer Eingemeindung Ostdeutschlands und einer Nichtmarkierung von Unterschieden entgegenläuft. Es kann, so zeigen diese Bücher, sehr wohl eine Auseinandersetzung mit spezifischen Erfahrungen geben, die meilenweit von der Behauptung einer durch den Westen auferlegten Identität entfernt ist. Wir haben es hier eher mit einer selbstbewussten Aneignung und Neuartikulierung von Geschichte zu tun als mit einer De- oder Fremdthematisierung Ostdeutschlands.
Das ist inzwischen nicht mehr auf die Literatur beschränkt. Man findet ähnliche Impulse in der Vervielfältigung historischer Perspektiven, die sich daranmachen, eine „DDR im Plural“ zu erforschen. Der Osten, so scheint es, spricht auch durch die Stimme dieser Romane und wissenschaftlichen Publi-kationen, und nicht der „Westen versucht zu definieren, was zu sagen ist“.Wichtig scheint mir vor allem, dass die Selbstmumifizierung der Debatte aufgebrochen wird, dass Ostdeutsche in Sprecherpositionen gelangen und somit an der Ausbuchstabierung eines Verständigungsdiskurses über die Lage des Ostens zentral beteiligt sind. Nur so kommt es zu einer Selbstthematisierung, aus der im nächsten Schritt eine gesamtdeutsche Selbstthematisierung erwachsen könnte. Erkennbar ist, dass es sich neben allen literarischen Einzelleistungen um ein zunehmend kollektives Unterfangen handelt, bei dem sich die Autorinnen und Autoren dezidiert als ostdeutsch (oder mit „ostdeutschem Hintergrund“) positionieren. Ob eine solche Perspektivierung über die Literatur hinaus fruchtbar sein kann, ob sie jenseits enger Zirkel wahrgenommen wird und wie weit sie gesellschaftspolitisch trägt, muss man abwarten (und man darf auch Zweifel haben). Einmal mehr gilt es zu beachten, dass sich das Identitätsthema nicht für die progressive Seite reservieren lässt, sondern dass es inzwischen auch anderweitig politisch bewirtschaftet wird.
Um (ostdeutsche) Interessen zu organisieren und neue Verständigungsprozesse anzustoßen, braucht man allerdings keinen starken kulturalistischen Überschuss. Forderungen nach Gleichbehandlung und Repräsentation oder einer Öffnung des Diskurses können sich problemlos auf einen sozialen und geografischen Erfahrungsraum beziehen, ohne dass man diesen identitätspolitisch überhöhen oder essentialisieren muss. Das heißt, dass Ostdeutsche – wie andere Gruppen – Identitäten und Betroffenheiten zur Politisierung und (Selbst-)Thematisierung nutzen können und dass sie erwarten dürfen, dass die Mehrheitsgesellschaft ihrerseits ihren Blick hinterfragt und erweitert. Umgekehrt bleibt es geboten, immer wieder auf Distanz zur eigenen Identität zu gehen und sie nicht zum absoluten Maßstab werden zu lassen. Die Herstellung eines identitären und selbstbezüglichen Ostens führt in Sackgassen, aus denen man nicht so leicht wieder herauskommt.
Der Text beruht auf dem Buch „Ungleich vereint – Warum der Osten anders bleibt“, das gerade im Suhrkamp Verlag erschienen ist. Dort finden sich ausführliche Quellennachweise.
[1] Dirk Oschmann, Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung, Berlin 2023.