Ausgabe August 2024

Trump über alles

Wie der Oberste Gerichtshof den Präsidenten über das Gesetz stellt

Donald Trump bei einer Wahlkampfveranstaltung in Chesapeake, Virginia, 28.6.2024 (IMAGO / Newscom World / The Virginian Pilot)

Bild: Donald Trump bei einer Wahlkampfveranstaltung in Chesapeake, Virginia, 28.6.2024 (IMAGO / Newscom World / The Virginian Pilot)

Fast zu Beginn ihrer weitreichenden, gesetzeswidrigen Entscheidung im Fall Trump v. United States am 1. Juli wiederholen Donald Trumps Verteidiger unter den Obersten Richtern eines der grundlegendsten Prinzipien des amerikanischen konstitutionellen Regierungssystems: „Der Präsident steht nicht über dem Gesetz.“ Nur um anschließend daranzugehen, dieses Prinzip auszulöschen.

Obwohl die Pro-Trump-Richter versuchen, die Reichweite ihrer Entscheidung in juristische Wendungen zu betten, bedeutet ihr Urteilsspruch, dass der Präsident für „offizielle Handlungen“ juristisch nicht belangt werden kann und dass der größte Teil von Trumps Bemühungen, sich an der Macht zu halten, in diese Kategorie fällt. Die Richter legalisieren damit praktisch die Weigerung eines unterlegenen Präsidenten, sein Amt aufzugeben, genau wie Trump es nach der Wahl 2020 versucht hat.

Die Entscheidung des Gerichts stellt ein absurdes Paradox dar, durch das eine von Rechtsstaatlichkeit geleitete Verfassungsdemokratie ihren Sinn verliert. In der Verfassung oder in den Aussagen der Verfassungsväter findet sich kaum eine Basis dafür. Sie ist das Resultat, das dem vom Gericht bevorzugten Präsidentschaftskandidaten am meisten zugutekommt und das zugleich den Richtern erlaubt, vor sich selbst das Gesicht zu wahren, obwohl sie die Verfassung und das Konzept der demokratischen Selbstbestimmung bis zur Unkenntlichkeit entstellt haben.

In ihrem abweichenden Votum spricht die Richterin Sonia Sotomayor es klar aus. In Bezug auf die Frage, „ob ein früherer Präsident Immunität vor Strafverfolgung durch Bundesbehörden genießt“, schreibt Sotomayor: „Die Mehrheit denkt, er sollte dies, und erfindet deshalb eine textfremde, ahistorische und nicht zu rechtfertigende Immunität, die den Präsidenten über das Gesetz stellt.“ Genau so ist es.

Bezüglich Trumps Plan, Anklagen wegen Stimmenfälschung zu fabrizieren, um sie als Vorwand dafür zu nutzen, seine Niederlage in der Wahl 2020 zu kippen, schreibt das Gericht: „Trump genießt absolute Immunität vor Strafverfolgung wegen ihm vorgeworfener Handlungen in Bezug auf seine Diskussionen mit Beamten des Justizministeriums, weil der Präsident nicht wegen Handlungen im Rahmen seiner besonderen verfassungsmäßigen Machtbefugnisse juristisch verfolgt werden kann“. Dies bezieht sich auf Diskussionen, bei denen Trump – der von seinen eigenen Beratern gewarnt worden war, dass seine Behauptungen über Wahlfälschung Unfug seien –, das Justizministerium aufforderte: „Sagen Sie einfach, dass die Wahl manipuliert war, + überlassen Sie den Rest mir und den R[epublikanern] im Kongress“, wie ein Beamter des Justizministeriums es damals in seinen Notizen vermerkte.

In der ganzen Entscheidungsbegründung klingt der Vorsitzende Richter John Roberts oft eher wie Trumps Anwalt denn als der unparteiische Richter, als welcher er sich präsentiert. Roberts schreibt, dass diese Immunität absolut sein muss, „wo sie Handlungen im Kernbereich der verfassungsmäßigen Rechte des Präsidenten betrifft“. Wenn dies für einen amtierenden Präsidenten zutrifft, der einen Plan entwickelt, um nach einer verlorenen Wahl die Macht nicht abgeben zu müssen, wie es das Gericht feststellt, dann gibt es keine rechtliche Beschränkung für einen Präsidenten, der sich schlicht weigert, das Amt abzugeben, und seine Autorität dazu nutzt, einen Vorwand dafür zu finden. Wir können die Feinheiten der Geschichte diskutieren, die Absichten der Verfassungsväter oder den Text der Verfassung. Was die Gründer der Vereinigten Staaten nicht wollten, als sie ein System von checks and balances (der gegenseitigen Kontrolle der Verfassungsorgane) entwarfen, war eine Regierungsform zu schaffen, die es jemandem erlaubt, sich zum Präsidenten auf Lebenszeit zu erklären, wenn ihm der Sinn danach steht.

Eine auf Trump zugeschnittene Entscheidung

Das Gericht schreibt, Präsidenten könnten nicht für den „Gebrauch“ ihrer offiziellen Machtbefugnisse angeklagt werden, aber das bedeutet tatsächlich, dass sie nicht für deren offenkundigen Missbrauch belangt werden können. Dies verwandelt die klare Einschränkung, die die Basis für die Entscheidung ist – dass der Präsident nicht über dem Gesetz steht – in eine Lüge. Noch bedeutsamer ist, dass die Entscheidung einen unausgesprochenen Glauben voraussetzt, dass Trump die einzige Person sei, die so dreist handeln würde, und dass er vor Strafverfolgung geschützt werden muss, weil die Mehrheit der Richter ihn unterstützt und ihn als Präsidenten haben will. Auf diese unredliche Weise anerkennen Trumps Richter, dass dieser eine einzigartige Bedrohung für die verfassungsgemäße Regierung darstellt, der sie aber nicht entgegenwirken, weil er ihr Kandidat ist. Dies sind keine Richter, dies sind Trumps Spießgesellen. Dies ist keine juristische Abwägung, dies ist Vandalismus.

Wie viele Entscheidungen dieses Gerichts verschleiert auch diese ihre Radikalität mit vorgeblicher Mäßigung – Präsidenten können wegen „nicht offizieller“ Handlungen belangt werden –, aber sie würde trotzdem Präsidenten ermöglichen, auch bei den schlimmsten Fällen von Machtmissbrauch der Strafverfolgung zu entgehen. Das Gericht weist zwar Trumps Behauptung zurück, dass ein früherer Präsident zunächst entsprechend dem verfassungsgemäßen Impeachmentverfahren seines Amts enthoben werden muss, bevor er überhaupt angeklagt werden kann, es führt aber gleichzeitig einen Maßstab ein, der es unmöglich macht, dass ein nach der Macht greifender Präsident deswegen strafrechtlich belangt werden kann.

„Es kann schwierig sein, die offiziellen Handlungen des Präsidenten von seinen nichtoffiziellen zu unterscheiden“, schreibt Roberts. Dann erschwert er dies zusätzlich, wenn er schreibt, dass „Gerichte nicht den Beweggründen eines Präsidenten nachspüren dürfen, um offizielles von nichtoffiziellem Verhalten zu unterscheiden“.

Genau darum geht es: Indem Roberts die Möglichkeit jeglicher Strafverfolgung auf diese Unterscheidung stützt, es dann aber praktisch unmöglich macht, die Unterscheidung vorzunehmen, beseitigt er jede Möglichkeit, die zugrundeliegenden rechtlichen Fragen der laufenden bundesstaatlichen Strafverfolgung zu lösen, bevor Trump möglicherweise wieder die Macht übernimmt. Sollte Trump die Wahl gewinnen, kann er – mit dem Schwert der „absoluten Immunität“, das ihm das Gericht zur Verfügung gestellt hat –, die Strafverfolgung gegen ihn einstellen. Sotomayor schreibt, dass „die von der Mehrheit definierte Trennlinie zwischen ‚offiziellem‘ und ‚nichtoffiziellem‘ Verhalten das als ‚nichtoffiziell‘ betrachtete Verhalten fast so weit verengt, das nichts übrigbleibt“.

Ihre Ernennung auf Lebenszeit bedeutet, dass die Richter des Obersten Gerichtshofs machen können, was auch immer sie wollen, wenn sie in der Mehrheit sind. Als die Richter Colorado zwingen wollten, Trump wieder auf den Wahlzettel für die Präsidentschaftswahl zu setzen, nachdem der Staat zu dem Ergebnis gekommen war, dass seine versuchte Machtergreifung am 6. Januar 2021 ein Verstoß gegen den 14. Verfassungszusatz war und er deshalb kein Bundesamt ausüben könne, handelten sie so schnell wie möglich. Als sie Trumps Strategie, jede mögliche Strafverfolgung auf Bundesebene zu verzögern, unterstützen wollten, ließen sie sich Zeit.

Solche Bemühungen stehen im Widerspruch zu der Vorstellung, dass die Richter unvoreingenommen sind. Es sollte inzwischen klar sein, dass das ein Märchen ist. Die derzeitige Zusammensetzung des Gerichts ist das Ergebnis jahrzehntelanger Arbeit von rechten Aktivisten, um eine dauerhafte konservative Vormachtstellung zu erreichen, und das Verhalten der Mehrheit bringt dieses Ziel ständig zum Ausdruck. Wie andere rechte Institutionen ist das Gericht völlig durch seine Huldigung des Anführers der Republikanischen Partei korrumpiert, ein Prinzip, dem alle anderen nun untergeordnet werden. Es ist nicht das Gericht der Republikanischen Partei, es ist das Trump-Gericht.

Trumps Anspruch war offensichtlich absurd: dass nämlich frühere Präsidenten Immunität für alle Verbrechen genießen, die unter dem Deckmantel des Gesetzes verübt werden, solange sie nicht in einem Impeachmentverfahren verurteilt worden sind. Das Körnchen Logik dieses Arguments, dass die Machtbefugnisse des Präsidenten für bestimmte Handlungen ein gewisses Maß an Immunität verleihen, ist bis zur Unkenntlichkeit ausgeweitet worden, um Trump vor Strafverfolgung zu schützen. In einem offensichtlich hypothetischen Fall, der oft von Kritikern angeführt wurde, würde dies bedeuten, dass ein Präsident im Namen der nationalen Sicherheit einen Rivalen ermorden könnte, dann dem Amtsenthebungsverfahren entgeht, indem er die Abgeordneten und Senatoren ebenfalls mit dem Tode bedroht, und dadurch für immer vor Strafverfolgung geschützt wäre.

Die Entscheidung des Gerichts bestätigt dieses apokalyptische Szenario, und selbst wenn durch ein Wunder ein Präsident, der seine politischen Feinde hat ermorden lassen, aus dem Amt entfernt würde, könnten die Strafverfolgungsbehörden ihn weder anklagen noch seine Unterhaltungen mit Offiziellen der Exekutive als Beweismittel gegen ihn verwenden. „Wenn [der Präsident] seine offiziellen Machtbefugnisse in irgendeiner Weise nutzt, ist er gemäß der Argumentation der Mehrheit vor Strafverfolgung geschützt“, schreibt Sotomayor. „Er befiehlt dem Seal Team Nummer 6 der Marine, einen politischen Rivalen zu ermorden? Immun. Er organisiert einen Militärputsch, um an der Macht zu bleiben? Immun. Er lässt sich bestechen, um eine Begnadigung auszusprechen? Immun. Immun, immun, immun.“

Eine perverse Verdrehung der Verfassung

Die Entscheidung des Trump-Gerichts ist nicht nur ein Schutz für seine Handlungen nach der Wahl 2020. Sie muss auch so verstanden werden, dass Trump eine schriftliche Genehmigung für die despotische Machtausübung bekommen hat, die er für den Fall seiner Wiederwahl angekündigt hat. Es ist nicht nur die Gewährung der Immunität für Verbrechen der Vergangenheit, sondern eine begeisterte Billigung der Verbrechen, die er begehen wird, wenn er die Gelegenheit dazu bekommt. Trump hat gesagt, dass er „am ersten Tag ein Diktator” sein würde und er hat seinen politischen Gegnern „Vergeltung” geschworen. Rechte Denkfabriken schmieden Pläne, um sicherzustellen, dass die Bundesregierung aus loyalen Spießgesellen besteht, die deren enorme Machtmöglichkeiten dazu verwendet, Trump zu schützen, seinen Reichtum zu mehren und ohne rechtliche Beschränkungen ein extremes Programm durchzusetzen.[1]

Mit dieser Entscheidung sagt das Trump-Gericht, dass Trump Immunität für Verbrechen genießt, die er bereits begangen hat, und für Verbrechen, die er in der Zukunft zu begehen beabsichtigt. Der ganze Zweck der Verfassung war es, eine Regierung zu begründen, die nicht den Launen eines Königs unterworfen ist. Die selbsterklärten „Originalisten“[2] des Gerichts haben in einer perversen Verdrehung der Geschichte und der Verfassung, die sie angeblich verehren, entschieden, eine Krone in Trumps Reichweite zu platzieren, in der Hoffnung, dass er sie sich im November greift.

Der Text erschien zuerst auf Englisch unter dem Titel „The Supreme Court Puts Trump Above the Law“ in „The Atlantic“. Die Übersetzung stammt von Thomas Greven.

[1] Vgl. den Beitrag von Jon D. Michaels in dieser Ausgabe.

[2] Gemeint sind Juristen, die sich auf die ursprüngliche Absicht der Verfassungsväter oder das mutmaßliche Textverständnis zum Zeitpunkt der Normenentstehung berufen. Die konservativen Verfassungsrichter gelten als Anhänger dieser Denkrichtung. – D. Red.

Aktuelle Ausgabe Oktober 2025

In der Oktober-Ausgabe wertet Seyla Benhabib das ungehemmte Agieren der israelischen Regierung in Gaza als Ausdruck einer neuen Ära der Straflosigkeit. Eva Illouz ergründet, warum ein Teil der progressiven Linken auf das Hamas-Massaker mit Gleichgültigkeit reagiert hat. Wolfgang Kraushaar analysiert, wie sich Gaza in eine derart mörderische Sackgasse verwandeln konnte und die Israelsolidarität hierzulande vielerorts ihren Kompass verloren hat. Anna Jikhareva erklärt, warum die Mehrheit der Ukrainer trotz dreieinhalb Jahren Vollinvasion nicht zur Kapitulation bereit ist. Jan Eijking fordert im 80. Jubiläumsjahr der Vereinten Nationen mutige Reformen zu deren Stärkung – gegen den drohenden Bedeutungsverlust. Bernd Greiner spürt den Ursprüngen des Trumpismus nach und warnt vor dessen Fortbestehen, auch ohne Trump. Andreas Fisahn sieht in den USA einen „Vampirkapitalismus“ heraufziehen. Und Johannes Geck zeigt, wie rechte und islamistische Rapper Menschenverachtung konsumierbar machen.

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

80 Jahre UNO: Auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit?

von Jan Eijking

Am 24. Oktober feiern die Vereinten Nationen ihr 80. Jubiläum – doch Anlass zum Feiern gibt es kaum. Das UN-System befindet sich in einem bespiellos schlechten Zustand. In der aktuellen Krise zeigen sich strukturelle Probleme, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der UN ziehen.