Thüringen vor der Landtagswahl

Bild: Björn Höcke in einer Verhandlungspause vor dem Landgericht Halle, 14.5.2024 (IMAGO / dts Nachrichtenagentur)
Die politischen Verhältnisse in Thüringen im Vorfeld der Landtagswahlen im September können sich bundesweiter Aufmerksamkeit sicher sein. Hier regiert seit 2014 mit Bodo Ramelow der einzige Ministerpräsident der Linkspartei, der allerdings seit der Landtagswahl im November 2019 über keine eigene rot-rot-grüne (R2G) Mehrheit im Parlament mehr verfügt. Die unklaren Mehrheitsverhältnisse führten zu dem Tabubruch vom 5. Februar 2020, als CDU, FDP und AfD gemeinsam Thomas Kemmerich (FDP) zum Kurzzeit-Ministerpräsidenten wählten und damit einen Sturm der Entrüstung in der Bundespolitik auslösten. Seit dessen Rücktritt und der erfolgten Wiederwahl von Ramelow wird Thüringen von einer R2G-Minderheitsregierung geführt, die bei allen parlamentarischen Entscheidungen auf die punktuelle Unterstützung von CDU und FDP angewiesen ist. Zuerst in der Linkspartei als demokratische Innovation gefeiert, hat die Minderheitsregierung zu einer langjährigen politischen Handlungsschwäche des Bundeslands geführt, von der nicht zuletzt auch die AfD in Thüringen profitiert. Der rechtsextreme Landesverband unter Björn Höcke hat die Radikalisierung der Bundespartei vorangetrieben.
Thüringen ist in Fragen der Faschisierung ohnehin ein historisch kontaminiertes Feld.[1] Angesichts der enormen Stärke der AfD stellt sich nun die Frage, ob Thüringen – wie bereits in der Weimarer Republik – erneut zum Exerzierfeld und Vorreiter der Rechtsentwicklung der deutschen Gesellschaft wird. Nach allen bisherigen Umfragen ist die AfD die stärkste politische Kraft im Bundesland, sodass sich für die Landtagswahlen neue Fragen einer demokratischen Mehrheitsbildung ohne die AfD stellen.
Vor diesem Hintergrund erklärt sich das überregionale mediale Interesse an den Thüringer Zuständen. Die Berichterstattung schwankt dabei zwischen katastrophischen Szenarien, die vor einer Regierungsbeteiligung von Björn Höcke warnen, und Signalen der Entwarnung, wenn – wie bei den jüngsten Kommunalwahlen – der befürchtete blaue Siegeszug ausbleibt. Die tektonischen Verschiebungen in der politischen Kultur des Bundeslands und die damit verbundenen demokratischen Gefährdungen lassen sich jedoch in diesem Muster nicht erfassen.
Das Problem mit der AfD im Thüringer Parteiensystem ist ihre Stabilität auf hohem Niveau. Auch die Landtagswahlen werden ihr keinen „Durchmarsch“ bringen, möglicherweise aber eine Stärkung in einem fundamental veränderten Parteiensystem, das Thüringen weitere Jahre der politischen Lähmung bescheren könnte.
Wie die AfD bei den Kommunalwahlen verliert – und doch gewinnt
Rückblick: Die Wahl des ersten Landrats der radikalen Rechten nach 1945 bei den vorgezogenen Landratswahlen am 26. Juni 2023 in Sonneberg zeigte die regionale Stärke der AfD, doch sie erwies sich nicht als der von ihr erhoffte Startschuss einer Serie von kommunalen Amtsübernahmen. Im September 2023 konnte in Nordhausen die Wahl eines geschichtsrevisionistischen AfD-Bürgermeisters in der Stichwahl verhindert werden. Das Thüringer Wahljahr begann im Januar 2024 mit einer weiteren vorgezogenen Landratswahl im Saale-Orla-Kreis, die zwar ebenfalls mit einer Niederlage der AfD endete, aber zugleich die ganze Tiefe der Rechtsentwicklung in Thüringen dokumentierte.[2] Der AfD-Kandidat lag in beiden Wahlgängen mit 45,7 bzw. 47,6 Prozent nur knapp unter der 50 Prozent-Marke, musste sich am Ende aber dem CDU-Kandidaten geschlagen geben, der seinen Wahlkampf allerdings ebenfalls mit AfD-Frames – mehr Abschiebungen, Abschaffung des Bürgergelds und keine Windkraft im Wald – geführt hatte.
An diesem lokalen Beispiel zeigt sich, dass die AfD auch ohne Landratsamt ein wirksamer politischer Pol der Rechtsentwicklung ist, indem sie die Positionen ihrer Mitbewerber nach rechts verschiebt. Die AfD darf daher nicht nur an ihren aktuellen Wahlergebnissen gemessen werden, sondern man muss die schleichende Vergiftung der politischen Alltagskultur im Blick behalten.
Das in allen vorgezogenen Wahlgängen erkennbare Grundmuster – erstarkende radikale Rechte und Marginalisierung der Mitte-links-Parteien – sollte sich bei der Thüringer Kommunalwahl im Mai bzw. Juni 2024 reproduzieren. Zwar konnte die AfD in keiner Wahl Mehrheiten und weitere Landratsämter erobern, doch es gelang ihr eine erhebliche soziale Terrainerweiterung. Dabei zeigen die Ergebnisse zwar ein Stadt-Land-Gefälle, aber eben auch, dass die AfD nicht nur eine Partei der abgehängten ländlichen Regionen ist.
Stärkste kommunalpolitische Kraft blieb die CDU mit 27,2 Prozent. Sie konnte zwar symbolpolitisch wichtige Erfolge erzielen, insbesondere bei den OB-Wahlen in den kreisfreien Städten, aber insgesamt bewegt sie sich auf dem Niveau ihres schwachen Wahlergebnisses von 2019. Aber mit deutlichen Zugewinnen und einem Gesamtergebnis von 25,8 Prozent konnte sich die AfD als zweitstärkste politische Kraft auch in den Kommunalparlamenten etablieren. Damit schreitet auf der Ebene der Stadträte und Kreistage die kommunale Faschisierung voran. Nur in Weimar und Jena erhielt die AfD unterdurchschnittliche Ergebnisse um die 13 Prozent. In Erfurt und Suhl stellt sie die zweitgrößte Fraktion, in Gera ist sie mit über 35 Prozent sogar die stärkste Kraft. Gera zeigt sich damit erneut als städtisches Zentrum des ostdeutschen Faschismus.[3]
In neun Kreistagen wurde die AfD stärkste Kraft mit Ergebnissen zwischen 23,7 und 34,7 Prozent (in Sonneberg); in acht Landkreisen erreichte sie Werte über 30 Prozent. Eine Sondersituation herrschte dabei im Landkreis Saalfeld-Rudolstadt, in dem eine lokale AfD-Liste 18,6 Prozent erzielte und eine gegnerische, von Höcke unterstützte, Alternativliste 13,7 Prozent.
All das ist ein eindeutiger Rechtsruck, eine deutliche Stärkung kommunaler, extrem rechter Organisationsmacht, der nicht beschönigt werden sollte, auch wenn er sich – noch nicht – bei den Stichwahlen um die OB- und Landratsfunktionen niederschlug. Für erfolgreiche Direktwahlen auf kommunaler Ebene verfügt die AfD noch über zu wenig vorzeigbares, kommunalpolitisch erfahrenes Personal. Aber immerhin gelang ihr in neun von elf Wahlkreisen bereits der Einzug in die Stichwahl um das Landratsamt. Hinzu kommt der Sonderfall des Landkreises Hildburghausen. Dort schaffte es der bundesweit bekannte Nazi-Kader Tommy Frenck mit 24,9 Prozent in die Stichwahl – auch weil die AfD in diesem Landkreis auf eine eigenständige Landratskandidatur verzichtet hatte.
Die Linkspartei als Wahlverlierer
Der Stärke der Rechten entspricht auf der anderen Seite der Zerfall von R2G und die Schwächung der Mitte-links-Parteien. Alle drei Parteien zusammengenommen erreichten landesweit 24,8 Prozent, also weniger als der Stimmenanteil der AfD. In weiten Teilen des Landes gelingt es nicht mehr, auch nur ein Drittel der Wählerinnen und Wähler zu mobilisieren. Nur noch in Weimar und Jena kommt man gemeinsam auf Werte von über 40 Prozent.
Der große Wahlverlierer ist die Linkspartei. Flächendeckend fuhr sie Verluste ein, besonders deutlich in den früheren Bezirksstädten und ehemaligen Hochburgen Suhl und Gera. In keiner Stichwahl der Landrats- und OB-Wahlen war die Linkspartei vertreten. Wo das BSW kandidierte, war es auch erfolgreich, in drei Fällen reichte es sogar für ein zweistelliges Ergebnis.
Ein ähnliches Bild zeigt sich für die Grünen, die in allen Wahlkreisen verloren haben. Selbst in ihren einzigen Hochburgen Weimar und Jena mussten sie – mit Ergebnissen um die 15 Prozent – deutliche Einbußen verzeichnen. Sie sind im ländlichen Raum nicht präsent und erreichten nur entlang der Städtekette Erfurt, Weimar, Jena und dem Ilm-Kreis (mit der TH Ilmenau) Ergebnisse über der Fünfprozentmarke.
Die Sozialdemokratie hatte nur leichte Verluste und erzielte ein knapp zweistelliges Ergebnis von 11,6 Prozent. In den kreisfreien Städten Gera und Suhl ist die SPD marginalisiert, in der Städtekette Erfurt-Weimar-Jena liegt sie jeweils um die 15 Prozent. Nur in vier Landkreisen erreicht sie überhaupt noch Wahlergebnisse über 20 Prozent. Kurzum: In weiten Teilen Thüringens ist die Sozialdemokratie heute eine sozial unsichtbare Partei, die sich im Bereich einstelliger Wahlergebnisse bewegt. Selbst in Erfurt, ihrer einstigen Hochburg, wurde der langjährige SPD-OB Andreas Bausewein deutlich abgewählt, weil er in der Stichwahl das Mitte-links-Potenzial nicht mehr mobilisieren konnte. Dieser Verlust bedeutet nicht nur eine schwere Niederlage für die Thüringer SPD, sondern dokumentiert auch den Zerfall des R2G-Projekts in Thüringen, dessen Vorreiter Erfurt einst war. Mit dieser Wahl ist nun keine einzige kreisfreie Stadt in Thüringen mehr durch Mitte-links repräsentiert, die wenigen sozialdemokratischen Landräte können sich zudem nicht auf Mitte-links-Mehrheiten im Kreistag stützen.
Insgesamt zeigt sich in dieser Wahl die fortschreitende kommunale Erosion des Parteiensystems der Berliner Republik. Noch bis in den Anfang der 2000er Jahre dominerten CDU, SPD und Linkspartei die kommunalen Parlamente und repräsentierten zusammen über drei Viertel der Bevölkerung. Bei der Kommunalwahl 2024 fiel der Anteil dieser drei Parteien mit 47,9 Prozent erstmals unter die 50-Prozent-Marke – Tendenz weiter fallend. Die politisch sehr heterogene Gruppe der „Sonstigen“ – Freie Wähler, Kleinparteien, lokale Personenlisten – wurde mit einem Ergebnis von 19,5 Prozent dagegen deutlich stärker. Sie werden in vielen Kreistagen die Mehrheiten mitbestimmen. Für die meisten Abgeordneten dieser Gruppe hat die „Brandmauer gegen rechts“-Rhetorik auf Landes- und Bundesebene keine Bedeutung.
Nach den Europawahlen: Das BSW als Gamechanger
Damit fügt sich der Ausgang der Kommunal-, aber auch der Europawahl in ein Gesamtbild ein, das bereits in den Ergebnissen der repräsentativen Studie der FES-Thüringen „Wie tickt Thüringen? Lebenszufriedenheit im Freistaat vor dem Superwahljahr“ zum Ausdruck kam.[4] Die Studie zeigt, dass R2G weit von einer parlamentarischen Mehrheit entfernt und der parlamentarische Wiedereinzug von FDP und Grünen in den Landtag ausgesprochen unsicher ist. Dagegen vermag die AfD gut ein Drittel der Wählerinnen und Wähler anzusprechen. Ja, mehr noch: Mit 47,5 Prozent kann sich fast jeder Zweite in der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen grundsätzlich vorstellen, AfD zu wählen. Die kommunalen Wahlerfolge der AfD sind auch auf diese überdurchschnittliche Resonanz in den Jungwähler-Kohorten, die sich in der Coronakrise nach rechts radikalisiert haben, zurückzuführen. In allen Politikbereichen weisen sie der AfD die größte Problemlösungskompetenz zu.
Die FES-Studie bot auch eine allererste Einschätzung über das mögliche Potenzial eines eigenständigen BSW-Wahlauftritts in Thüringen – während der laufenden Befragung wurde die Parteigründung von Wagenknecht angekündigt – und deren Schnittmengen zu Wählerpotenzialen der anderen Parteien. Obwohl das programmatische Profil zum Erhebungszeitraum noch vollkommen unklar war, zeigte sich bereits da sein enormes potenzielles Resonanzfeld in Thüringen. Das BSW ist offensichtlich Ausdruck eines Bruchs zwischen den politischen Eliten (einschließlich derer der Linkspartei) und Teilen der Thüringer Bevölkerung. Eines Bruchs, der auch durch die Ergebnisse der Europawahl bestätigt wurde. Dem BSW gelang es, mit 15 Prozent in Thüringen auf Anhieb zweistellig zu werden. Es konnte bundesweit aus allen politischen Lagern Wähler gewinnen, vor allem aber von SPD und Linkspartei. Demgegenüber sind die Zugewinne früherer AfD-Wähler fast marginal. In Thüringen spaltet das BSW vor allem das Potenzial der Linkspartei, was auch nicht verwundern kann, ist das Thüringer BSW in seinem Führungskern doch wesentlich eine Abspaltung der Linkspartei (zuzüglich einiger Aufmerksamkeitsunternehmer ohne politische Erfahrung wie beispielsweise der langjährige „Thüringen-Journal“-Moderator Steffen Quasebarth).
Die Linkspartei befindet sich damit in einer Existenzkrise, die in einem schnellen Zerfall enden kann. In den ostdeutschen Flächenländern lag sie bei der Europawahl durch die Verluste an das BSW unter der Fünfprozentmarke, nur in Thüringen mit 5,7 Prozent noch knapp darüber. Bodo Ramelow ist ihr einziger und letzter mobilisierungsstarker Politiker auf Landesebene.
Aktuelle Thüringen-Umfragen nach den Europawahlen zeigen, dass mit einem deutlich zweistelligen Landtagswahlergebnis der Linkspartei zu rechnen ist – auch 2019 lag ihr Resultat mehr als 17 Prozent über dem schon damals schwachen Europawahlergebnis. Angesichts der Stärke des BSW spricht jedoch wenig dafür, dass Ramelow ein solch gewaltiger Mobilisierungssprung noch einmal gelingen kann. Hinzu kommt: 2019 war Ramelow der stärkste Pol des R2G-Lagers, das eine gesellschaftliche Erneuerung verkörperte. Heute ist er der Repräsentant einer schwachen Minderheitsregierung. Sein teilweise cäsaristischer Regierungsstil hat jedenfalls weder zu einer stärkeren regionalen Verankerung der Linkspartei geführt noch ihren wahlpolitischen Niedergang aufhalten können.
In Thüringen profitieren weder SPD noch Grüne von der Krise der Linkspartei. Die SPD musste auch bei dieser Europawahl Verluste hinnehmen und erreichte nur 8,2 Prozent. Die Kombination aus bundesweitem Mobilisierungstief und ihrem schwachen Profil und Personal auf Landesebene könnte für die Thüringer SPD fatale Folgen haben. Da sie bei Landtagswahlen nie ihr überregionales Potenzial abrufen konnte, droht der 1. September zu einem Kampf um das politische Überleben im Landtag zu werden. Noch fataler ist bloß die Lage der Thüringer Grünen. Sie haben ihr Ergebnis ebenfalls halbiert und liegen mit 4,2 Prozent bereits deutlich unter der Fünfprozenthürde. Wie bei der SPD verbinden sich auch bei den Grünen bundesweite Mobilisierungsschwäche und fehlende Stärke im Land. Auf je eigene Weise führen die drei Parteien von R2G in Thüringen allesamt einen Kampf um das politische Überleben. Auch aufgrund dieser Schwäche repräsentieren die R2G-Parteien der Landesregierung bei der Europawahl nur noch 18,1 Prozent, die Parteien der Ampel-Regierung sogar nur noch 14,4 Prozent der Wähler in Thüringen. Diese doppelte Schwäche von Landes- und Bundesregierung ist selbst schon ein Treiber der Demokratiekrise und forcierten Rechtsentwicklung.
Die CDU ist zugleich weit davon entfernt, wieder stärkste politische Kraft im Land zu werden. Ihr Ergebnis bewegt sich durchaus im Rahmen ihrer schwachen Resultate bei den Europa- und Landtagswahlen 2019 und zeugt von ihrer politischen Stagnation in Thüringen.
Die Macht der AfD und ihre Grenzen
Eindeutiger Wahlsieger der Europawahl und damit stärkste politische Kraft in Thüringen ist dagegen die AfD mit einem Ergebnis von knapp über 30 Prozent. Seit über einem Jahr liegt die AfD bei Thüringen-Umfragen auf diesem hohen Niveau. Ihre Stabilität zeigt sich auch in einer Resistenz gegenüber Skandalisierungen. Der Rechtsruck wird nicht zuletzt von Jungwählern getragen; in dieser Altersgruppe hat die AfD die höchsten Zuwachsraten.
Die Gefahr ist daher sehr groß, dass die AfD im September in Thüringen bis zu einem Drittel der Landtagsmandate erhält und damit eine politische Blockadefunktion ausüben kann. Allerdings ist auch die AfD mit einem Grundproblem eines pluralisierten Parteiensystems konfrontiert: Eigene Stärke allein reicht nicht aus; ohne Bündnisfähigkeit gibt es keine parlamentarischen Mehrheiten. Die AfD braucht für eine Regierungsbeteiligung eine kooperationswillige Union. „Historisch gesehen zeigt sich, dass die Faschisten immer nur mit Hilfe der Konservativen an die Macht gekommen sind“, stellt der ehemalige CDU-Generalsekretär Ruprecht Polenz zu Recht fest.[5]
Nach dem 1. September wird sich zeigen, ob die Konservativen dieser Versuchung ausgesetzt sind – und wie sie damit umgehen werden. Sollten sich die aktuellen Kräfteverhältnisse stabilisieren, gäbe es in Thüringen zwar eine rechnerische AfD/CDU-Mehrheit, aber der CDU wäre dabei die Rolle des Juniorpartners zugewiesen. Das wird die Bundes-CDU nicht zulassen können. Die Wunschkoalition der Thüringer CDU mit FDP und SPD ist dagegen so wenig mehrheitsfähig wie eine erneute R2G-Mehrheit. Damit aber wird das BSW zum Gamechanger für die Mehrheitsbildung in Thüringen; ohne dessen Beteiligung wird es vermutlich keine Landesregierung geben.
Die möglichen konkreten Regierungskonstellationen werden erst am Wahlabend sichtbar sein, wenn klar ist, welche Kleinparteien in den Landtag einziehen können. Fest steht aber schon heute: Eine politische Mehrheit gegen die AfD wird vermutlich nur mit Formen lagerübergreifender politischer Kooperation möglich sein. Nach den aktuellen Umfragen wäre eine Zusammenarbeit von CDU und BSW für eine Regierungsbildung unerlässlich, als dritten Partner bräuchte man SPD oder Linkspartei. Die koalitionspolitische „Ausschlusseritis“ der CDU erweist sich dabei als eine einzige Farce. Es ist nachgerade absurd, wenn die Thüringer CDU das BSW aufgrund dessen restriktiver Migrationspolitik für koalitionsfähig erklärt, während sie die Linkspartei von einer Regierungsbeteiligung ausschließt. Die Linkspartei in Thüringen befindet sich fest im Griff ihres Staatsadels[6], der Regieren weitgehend als Selbstzweck begreift; die brave Landespartei ist ohne politischen Eigensinn. Demgegenüber ist das gerade erst gegründete BSW ein absolut unsicherer Kantonist. Geplante Übertritte frisch gewählter BSW-Kreistagsmitglieder zur Werteunion zeigen, dass von einer Stabilität dieser neuen politischen Formation keine Rede sein kann.[7] Das ist nicht nur den üblichen Wirrnissen jeder politischen Neugründung geschuldet, die Querulanten und Heilsbringer jeder Couleur anzieht. Denn der rabiate Populismus des BSW potenziert diese Probleme noch. Jede soziale Wut wird geadelt, jede politische Unzufriedenheit, etwa mit den Coronaregelungen, eingesammelt. Die Inszenierung als politische Interessenvertretung der „normalen Thüringer“, die Klagen über Cancel Culture und fehlende Meinungsfreiheit und die unterschwellige, aber ständige Assoziation von Migration mit Kontrollverlust, Kriminalität und fehlender Integration haben de facto keinerlei Trennschärfe zu rechten Diskursen, obwohl man vorgibt, diese bekämpfen zu wollen. Wirtschaftspolitisch wird eine Mixtur aus FDP-Mittelstandsförderung und berechtigten sozialen Forderungen angeboten, deren Umsetzung aber nebulös bleibt. Hinzu kommt, dass die wichtigste Forderung des Landeswahlprogramms – die Beendigung des Ukrainekriegs durch einen Waffenstillstand – außerhalb jeder landespolitischen Kompetenz liegt.
Auch wenn der Hype um das BSW bis zu den Landtagswahlen vermutlich nicht mehr gebrochen werden wird und das Bündnis gewissermaßen aus dem politischen Nichts zur Regierungspartei aufsteigen könnte, bleiben erhebliche Zweifel an seiner Stabilität und Regierungsfähigkeit. Denn das widersprüchliche Potpourri, das das BSW anbietet, funktioniert vielleicht als populistische Sammlungsbewegung, aber nicht als reformpolitisches Regierungsprogramm. Der demoskopische Höhenflug des BSW täuscht nur darüber hinweg, dass diese Mischung aus Kader- und Honoratiorenpartei mit handverlesenen Mitgliedern selbst keine Lösung, sondern lediglich ein neuer Ausdruck der tiefen Krise der politischen Repräsentation ist. Insofern sind die politischen Enttäuschungen vorprogrammiert.
Eine breite Abwehrkoalition gegen die AfD, mit geschwächten alten und unsicheren neuen Bündnispartnern, könnte Thüringen daher weitere Jahre der politischen Lähmung bescheren. Und der AfD fröhliche Urständ: Denn in einer solchen Konstellation kann sie die Rolle der rebellischen Opposition ausspielen und sich als die einzig wahre Alternative inszenieren.
Die Landtagswahlen im September könnten sich daher nur als eine weitere Zwischenstation im Prozess einer fortschreitenden Faschisierung in Thüringen erweisen. Das aber hieße: Nicht das Bevorstehende, also die Landtagswahl, sondern „dass es ‚so weiter‘ geht, ist die Katastrophe“ (Walter Benjamin).
[1] Vgl. Peter Reif-Spirek, Gefährdete Demokratie. Die langen Linien des Thüringer Faschismus, in: „Blätter“, 11/2023, S. 83-90.
[2] Ausführlicher zu den vorgezogenen Wahlgängen siehe meinen Beitrag: Die langen Linien des Thüringer Faschismus. Ein Blick auf das Thüringer Superwahljahr aus historischer Perspektive, in: Rosa Luxemburg-Stiftung Thüringen: Thüringer Schicksalsjahr 1924. Der Rechtsruck in Thüringen. Damals und heute. Eine Textsammlung, Erfurt 2024.
[3] Dass die AfD in ihrer städtischen Hochburg nicht in die OB-Stichwahl gekommen ist, liegt einzig und allein an einer Konkurrenzkandidatur aus dem extrem rechten Milieu.
[4] Die Onlinebefragungen fanden bereits von Oktober bis November 2023 statt. Die Studie ist online verfügbar unter www.fes.de/landesbuero-thueringen.
[5] Gareth Joswig, Der Konservative in der Braunzone, in: „die tageszeitung“, 25.1.2014.
[6] Der Begriff „Staatsadel“ stammt ursprünglich von dem norwegischen Publizisten Magnus Marsdal; er diente ihm zur Kennzeichnung der Parteieliten in der skandinavischen Sozialdemokratie und zur Erklärung ihrer Verselbständigung gegenüber den ursprünglichen Herkunftsmilieus. Franz Walter hat den Begriff in die deutsche Diskussion eingeführt.
[7] „Nicht das, was ich gedacht habe“: Zwei Kreistagsmitglieder wollen vom BSW zur Werteunion, mdr.de, 21.6.2024.