
Bild: Menschen laufen mit einem Spruchband »AfD-Verbot Jetzt« bei einer Demo in Essen, 11.5.2025 (IMAGO / Markus Matzel)
Angenommen, es käme so, wie es sich viele Menschen derzeit wünschen und es ginge plötzlich ganz schnell: Die Bundesregierung stellt einen Antrag auf ein Parteiverbot beim Bundesverfassungsgericht. Woraufhin man zunächst eine Weile nichts mehr von dort hört. Bis nach etwa zwei Jahren[1], an einem Vormittag im Juni 2027, eine Frau in einem Saal in Karlsruhe ihren roten Hut abnimmt. „Die Partei Alternative für Deutschland ist verfassungswidrig“, verkündet die Vorsitzende des Zweiten Senats[2] vor Fernsehkameras. Die AfD ist verboten.
Die erste Folge wäre, dass mit sofortiger Wirkung alle Mandate der AfD nichtig wären. Das heißt, dass die Vertreter der Partei aus allen Parlamenten hinausflögen, aus dem Bundestag, aus den Landtagen, aus jedem Kreistag, jedem Stadtrat; gemäß Paragraf 46 des Bundeswahlgesetzes und den entsprechenden Landeswahlgesetzen.[3]
Mehrere hundert Personen wären das, plus ihre Beschäftigten. Wer nicht freiwillig gehen will, der wird von der Polizei hinausgezerrt – sicher würden es sich etliche AfD-Vertreter nicht nehmen lassen, dabei dramatische Bilder zu produzieren. Der eine klebt sich am Boden fest wie ein Klimaaktivist, schreit etwas von Diktatur, bäumt sich auf, wenn die Polizei ihn wegträgt. Der andere verschanzt sich vielleicht in seinem Büro und streamt live, wie draußen die Bundestagspolizei an die Tür hämmert.
Das sind dann Bilder, die um die Welt gehen und auch in Russland genüsslich publiziert werden würden. Von den USA ganz zu schweigen, wo Vizepräsident JD Vance sicher nicht der Einzige wäre, der die Demokratie in Deutschland in Zweifel ziehen würde. „Das ist keine Demokratie – das ist verkappte Tyrannei“, schrieb US-Außenminister Marco Rubio jüngst schon in den sozialen Medien, da ging es noch gar nicht um ein Parteiverbot, sondern nur um die Beobachtung der AfD durch den Verfassungsschutz. Aber auch Liberale in den USA, die „New York Times“ etwa, die schon oft mit Befremden darüber berichtet hat, wie die deutsche Polizei Razzien wegen „bloßer“ Onlinekommentare veranstaltet, würden sicher staunend dastehen – und intensiv berichten.
In ganz Deutschland müssten noch am selben Tag auch Razzien in allen Büros der AfD stattfinden. Also in den Parteizentralen in sämtlichen 16 Bundesländern, in den Stadtteilbüros, sogar in den heimischen Arbeitszimmern. Nötig wäre eine koordinierte Polizeiaktion, die man freilich schon vor dem Urteil des Verfassungsgerichts diskret würde vorbereitet haben müssen. Spätestens zwei Wochen vorher würde der Termin für die Verkündung eines Urteils kommuniziert werden, dann könnte sich die Polizei auf alle Eventualitäten vorbereiten. Dabei würde es gelten, alle Unterlagen, alle Vermögenswerte, alle Computer der Partei zu beschlagnahmen, bevor sie jemand beiseiteschaffen kann. Vermummte Beamte würden Kisten hinausschleppen, Journalisten würden filmen, wie sie Parteischilder abschrauben; die Partei wäre ja dann eine illegale Organisation. Gleichzeitig würden alle Konten der AfD eingefroren. Die Partei würde kein Geld mehr abheben, auch keine Anwälte mehr bezahlen können. Jedenfalls nicht mehr selbst.
Ein großer demokratischer Neustart
In so gut wie allen deutschen Parlamenten würde sodann eine Lücke klaffen. Im Bundestag etwa würden die 151 Sitze der AfD leer stehen, die bisherigen Mandatsträger dürften sich auch nicht durch einen Parteiwechsel in andere Fraktionen hinüberretten; diesen Ausweg versperrt ihnen das Bundeswahlgesetz ausdrücklich.[4]
Und das hieße für den Bundestag, Rot-Rot-Grün und Schwarz-Grün hätten auf einmal eine Mehrheit, obwohl das dem Wählerwillen bei der vergangenen Bundestagswahl in keiner Weise entspricht. Verfassungsrechtlich gibt es keine fixe Regel dafür, wie mit dem entstehenden Repräsentationsproblem umzugehen wäre. Lediglich für die Fälle der direkt gewählten Abgeordneten, die einen Wahlkreis repräsentieren, ist im Bundeswahlgesetz vorgeschrieben, dass in ihren Wahlkreisen neu gewählt werden müsste. Das wiederum würde zu einer Komplikation führen: Nach dem 2023 reformierten Wahlrecht, das keine Direktmandate mehr kennt, sondern nur noch „Erststimmensieger“, die aber nicht in jedem Fall auch ins Parlament einziehen, wäre eine neue, komplizierte Rechnung anzustellen. Die Nachwahl der 42 von der AfD im Februar gewonnenen Direktmandate könnte Auswirkungen auf andere haben und beispielsweise dazu führen, dass auch einzelne Abgeordnete demokratischer Parteien ihr Mandat einbüßen.
Die wahrscheinlich sauberste Lösung, auf die sich die verbleibenden Parteien der Republik indes erst einmal einigen müssten, hieße: Neuwahlen in Bund, Ländern und Kommunen. Ein gemeinsamer Neustart auf allen politischen Ebenen, auf denen sich der Rauswurf von AfD-Mandatsträgern bemerkbar gemacht haben würde. Es wäre eine große demokratische Disruption – auch mit dem Ziel, zu unterstreichen, dass der Staat nicht weghören und die Stimme des Volkes ignorieren, sondern im Gegenteil die Demokratie verteidigen und hochhalten möchte.
Der Weg dorthin wäre allerdings gar nicht so einfach: Friedrich Merz müsste, um den Bundestag aufzulösen, erst eine Vertrauensfrage stellen – und verlieren. Das wäre schwierig, weil er seine Mehrheit im Bundestag ja gar nicht verloren hätte, sondern im Gegenteil sogar über eine größere Mehrheit als zuvor verfügen würde. Das heißt: Er müsste, wie einst Gerhard Schröder, den Abgeordneten seines Lagers vorab sagen, dass sie gegen ihn stimmen sollen – und hoffen, dass das Bundesverfassungsgericht dies billigt.[5]
Aber auch in den 14 Landesparlamenten, in denen die AfD sitzt, besteht in etlichen Fällen kein Recht, sich selbst aufzulösen. Dort wären vergleichbare Tricks nötig, mit ungewissem Ausgang, wenn jemand vor den jeweiligen Landesverfassungsgerichten klagt. Und davon wäre auszugehen, so selbstverständlich wie auch davon auszugehen wäre, dass die Akteure der AfD sich auch an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, den EGMR, wenden würden – in dem Wissen, dass sich die Richterinnen und Richter dort schon einige Male die Freiheit genommen haben, Staaten wie Belgien, Spanien oder die Türkei dafür zu rüffeln, dass sie bei Parteiverboten allzu pauschal alle Abgeordneten aus den Parlamenten warfen, anstatt ihnen noch eine „Einzelfallprüfung“ zuzugestehen.[6] In der Bundesrepublik ist diese harte, klare Rechtsfolge eines Parteiverbots zwar im Bundeswahlgesetz vorgeschrieben, aber eine Überprüfung aufgrund der Europäischen Menschenrechtskonvention ist trotzdem nicht ausgeschlossen. Kurz gesagt: Dieser Streit und diese juristische Unsicherheit würden mindestens die ersten paar Wochen nach einem Karlsruher Parteiverbot prägen.
Das ist überhaupt das Wichtigste, was es in diesem Szenario zu bedenken gäbe: Die bisherigen Mitglieder und Funktionäre der AfD wären nicht verschwunden. Sie säßen auch nicht in Haft. Sie würden nicht nur den EGMR anrufen, sondern auch weiter reden, twittern, politisieren dürfen. Im plötzlich aufziehenden Wahlkampf würden die AfD-Leute thematisch wohl im Mittelpunkt stehen. Eine neue Partei zu gründen, wäre ihnen auf die Schnelle nicht möglich, laut Paragraf 46, Absatz 3 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes sind sogenannte Ersatzorganisationen verboten. Nach dem Verbot der KPD im Jahr 1956 etwa hat es eine lange Abkühlzeit gebraucht, bis die alten Kader im Jahr 1968 die DKP gründen durften.
Spannend wäre, ob die AfD-Abgeordneten und -Mitglieder eine andere Partei empfehlen würden und ob es vorerst einer anderen Partei – etwa der Werteunion von Hans-Georg Maaßen und Jörg Meuthen oder dem Bündnis Sahra Wagenknecht – gelingen könnte, deren Wähler aufzusammeln, oder wo diese zehn Millionen Menschen sonst hingingen mit ihrer Wut.
Die Alternative: Weiter so?
Das alles wäre also eher eine Schocktherapie für die Demokratie als etwas Schonendes. Dieses Szenario muss man vor Augen haben, wenn man die Idee eines Parteiverbots erwägt. Und man muss es dem anderen, dem alternativen Szenario gegenüberstellen, um abwägen zu können. Dieses zweite Szenario besteht darin, dass es, grob gesagt, so weitergeht wie bisher. Dass also die AfD bald nicht nur jene drei oder vier ostdeutschen Bundesländer prägt, in denen sie zur stärksten Kraft heranwächst oder dies schon ist, sondern auch im Rest der Bundesrepublik weiter an Macht gewinnen würde.
Die AfD macht sich nicht unberechtigte Hoffnungen, die kommenden Landtagswahlen als stärkste Partei zu gewinnen. Nicht ausgeschlossen ist, dass sie anschließend sogar allein regieren könnte. Die Partei arbeitet bereits ein Regierungsprogramm für die ersten 100 Tage aus[7] – mit einer Abschiebeoffensive, einem „Rückgewinnungsprogramm für deutsche Fachkräfte“ und der Ankündigung, demokratischen Initiativen wie Miteinander e.V. und dem Programm „Schule ohne Rassismus“ die Förderung zu streichen, um die „linke Umerziehungspolitik“ zu beenden. Wie sich diese Aussicht politisch bekämpfen lässt, muss ab sofort auf den Tagesordnungen aller demokratischen Parteien stehen – ganz unabhängig davon, ob man ein Parteiverbotsverfahren befürwortet oder nicht.
Denn nur einmal angenommen, man würde den bisherigen politischen Vektor, also die stete Aufwärtsbewegung der AfD, einfach verlängern, ins Jahr 2028, 2030, 2032, zeigt sich eines ganz deutlich: Angesichts der föderalen Konstruktion der Bundesrepublik führt über die ostdeutschen Bundesländer sogar ein besonders schneller Weg hin zu einer blauen Blockade, einer Dysfunktionalität der gesamten Republik. Der Schlüssel dafür ist der Bundesrat. Die Länderkammer kann Gesetze stoppen und Verfassungsrichter ernennen. Und dort sind die ostdeutschen Bundesländer überrepräsentiert. Fünf Ostländer (ohne Berlin) verfügen dort gemeinsam über 20 von 69 Stimmen; das deutlich bevölkerungsreichere Nordrhein-Westfalen auf der anderen Seite verfügt nur über sechs Stimmen. Das Stimmgewicht für Ostdeutsche ist somit mehr als dreimal so groß wie jenes der Menschen an Rhein und Ruhr.[8]
Die Angst als Verbündete der AfD
Dieses Bild der Zukunft basiert natürlich auf der Annahme, dass die AfD weiter so wächst wie bisher. Dafür spricht immerhin, dass es für dieses Wachstum neben anderen einen Grund gibt, der sich mit den Jahren selbst verstärkt und beschleunigt – nämlich der, dass die Gegner der AfD es mit der Angst zu tun bekommen. Das überrascht nicht, zumal einige in der AfD inzwischen immer offener mit der grausamen Fantasie spielen, Staatsbürger, die ihnen nicht genehm sind, aus dem Wahlvolk zu vertreiben oder ihnen das Wahlrecht zu entziehen.
Die vielen Geländegewinne, die diese Partei in der Fläche macht, in Landkreisen, in denen sich kaum noch ein Politiker außerhalb der AfD beim Feuerwehrfest blicken lässt, die macht sie auch deswegen, weil viele andere sich dort schon nicht mehr hintrauen – so wie Menschen mit Migrationsgeschichte oft schon nicht mehr wagen, für Ämter zu kandidieren. Und so wie auch gestandene Bürgermeisterinnen oder Ratsherren sich immer öfter zurückziehen, weil sie regelmäßig bedroht werden und Angriffen auch gegen ihre Familien fürchten.
Das ist eine Angst, die den politischen Wettbewerb verzerrt, eine Angst, die in einer Demokratie nichts verloren haben sollte und an die man sich nicht gewöhnen darf. Dagegen könnte es, gewiss, eine sehr viel stärkere Kraftanstrengung der Polizei und anderer Sicherheitsbehörden geben. Personenschutz nicht nur für Bundespolitiker, sondern auch für Stadträte – das ist theoretisch denkbar, praktisch aber auch eine Ressourcenfrage.
Wahlkampfstände unter ständiger Bewachung – theoretisch ebenfalls vorstellbar –. allerdings würde sich die politische Atmosphäre stark verändern, und zugleich würden viele, nicht der AfD zuneigende Menschen, die sich in früheren Jahren noch gern engagiert hätten, dauerhaft von einem politischen Engagement abgeschreckt. Auch ohne jeden Defätismus muss man wohl davon ausgehen, dass sie mit der Polizei nicht ganz zu besiegen sein wird, diese Angst. Und dass sich die Regeln der politischen Ökonomie, die Regeln der Wahlkämpfe weiter verschieben würden, in Richtung eines Rechts des Stärkeren, Skrupelloseren.
[1] Wie lange ein solches Verfahren dauern würde, lässt sich kaum präzis vorhersagen, aber es gibt Anhaltspunkte: Beim jüngsten Parteiverbotsverfahren gegen die NPD brauchte das Gericht vier Jahre, von 2013 bis 2017. Damals waren die juristischen Maßstäbe allerdings noch in Teilen ungeklärt, das kostete viel Zeit. Auch der Druck der politischen Ereignisse, die Gefahr im Verzug gewissermaßen, war äußerst gering; die NPD dümpelte bei Wahlen unter einem Prozent. Auch das wäre nun im Fall der AfD ganz anders und würde sich in der Prioritätensetzung und Eile des Gerichts wahrscheinlich niederschlagen.
[2] Das wäre dann nicht mehr Doris König, die derzeitige Amtsinhaberin, die 2026 ausscheidet.
[3] Ein Abgeordneter „verliert die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag bei […] Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Partei oder der Teilorganisation einer Partei, der er angehört, durch das Bundesverfassungsgericht“ (Paragraf 46, Abs. 1, Nr. 5 Bundeswahlgesetz).
[4] Nach dem Paragrafen 46, Absatz 4, Satz 1 verlieren alle Abgeordneten ihren Sitz, „sofern sie dieser Partei oder Teilorganisation in der Zeit zwischen der Antragstellung […] und der Verkündung der Entscheidung […] angehört haben“. Das heißt, ein Parteiwechsel, der erst nach Beginn des Parteiverbotsverfahrens erfolgt, rettet sie nicht mehr.
[5] Das hat das Bundesverfassungsgericht in der Vergangenheit nur unter der Bedingung akzeptiert, dass eine politisch instabile Lage herrscht. Nach Gerhard Schröders Vertrauensfrage im Jahr 2005 unterstrich das Gericht diesen Maßstab in seinem Urteil vom 25. August 2005.
[6] Lesenswert dazu: Katharina Pabel, Parteiverbote auf dem europäischen Prüfstand, in „Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht“, 2003, S. 921-944, hier: 940 f.
[7] Michael Bock, AfD Sachsen-Anhalt peilt absolute Mehrheit an, in: „Volksstimme“, 17.5.2025, S. 2.
[8] Aus deutscher Sicht ist das (düstere) Zukunftsmusik, aber die strukturell parallele Situation in den USA (dort sind die ländlichen Räume und bevölkerungsarmen Staaten sogar noch stärker überrepräsentiert) haben Steven Levitsky und Daniel Ziblatt in ihrem Buch „Die Tyrannei der Minderheit“ lesenswert durchbuchstabiert. Vgl. auch: Dies., Trump vor dem Comeback? Wie das US-Wahlsystem die Tyrannei der Minderheit ermöglicht, in: „Blätter“, 11/2024, S. 39-48.