Ausgabe September 2014

Schottland vor der Gretchenfrage

„Soll Schottland ein unabhängiges Land sein?“ Über diese folgenreiche Frage wird am 18. September in einem historischen Referendum im Norden Großbritanniens abgestimmt. Damit steht nicht nur die Zukunft Schottlands zur Wahl, zugleich fällt auch eine Richtungsentscheidung über den Fortbestand des Vereinigten Königreichs – mit erheblichen Auswirkungen auch für die EU.

Seit im Jahr 2007 die Schottische Nationalpartei (SNP) im Regionalparlament von Edinburgh die Regierungsgeschäfte übernahm, steuert Schottland auf das Unabhängigkeitsreferendum zu. Die Zustimmung zu einer staatlichen Eigenständigkeit hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen: Waren jahrzehntelang nur rund 25 bis 35 Prozent der insgesamt 5,3 Millionen Schotten für die Unabhängigkeit, so pendelte der Zustimmungswert in den Monaten vor dem Referendum zwischen 40 und 47 Prozent.

Zwar wird es für einen Erfolg der Unabhängigkeitsbefürworter wohl nicht reichen. In den Umfragen der letzten Monate liegen sie konstant hinter den Unabhängigkeitsgegnern – primär eine Allianz aus Labour, Tories und Liberalen. Doch völlig ausgeschlossen ist ein Sieg der Befürworter nicht, da viele Wähler erst im letzten Moment endgültig entscheiden werden. Und allein dass es zu dem Referendum kommt, ist eine kleine Sensation, denn ein solches oder eine SNP-Regierung galten lange als undenkbar.

Doch der Trend in Richtung Unabhängigkeit ist eindeutig: Noch 1979 ignorierte Margaret Thatcher ein knappes „Ja“ in einem Referendum für eine vergleichsweise schwache schottische Regionalversammlung. Die Ignoranz hatte langfristige Konsequenzen: 20 Jahre später stimmte eine große Mehrheit der Schotten für ein vergleichsweise einflussreiches Regionalparlament. Damals, 1999, galt die SNP noch nicht als stark genug für eine Regierungsbeteiligung, doch bereits acht Jahre später kam sie zunächst als Minderheitsregierung in Edinburgh an die Macht; 2011 wurde sie für ihre Politik mit der absoluten Mehrheit belohnt.

Unter ihrem charismatischen Partei- und Regierungschef Alex Salmond hat die SNP die politische Realität in Schottland, aber auch im gesamten Vereinigten Königreich spürbar verändert. Niemand bestreitet mehr das Recht des kleinen Landes im Norden der Britischen Inseln, das Vereinigte Königreich auf demokratischem Wege zu verlassen. Und unabhängig davon, wie das Referendum ausgeht, die Machtbefugnisse Edinburghs werden ausgeweitet werden. Selbst die Unabhängigkeitsgegner fordern dies inzwischen als Zugeständnis an die Wähler.

Regionalmacht SNP

Gründe für das deutlich angestiegene Verlangen der Schottinnen und Schotten nach staatlicher Eigenständigkeit sind auf mehreren Ebenen zu finden. Zum einen hat sich seit den Tagen von Margaret Thatcher ein enormes Unbehagen gegen die als unsozial und anti-schottisch empfundene neoliberale Politik der Tories in London entwickelt. Der politische Mainstream in Schottland ist hingegen wesentlich sozialdemokratischer und grüner geprägt als im restlichen Vereinigten Königreich. Die Verteidigung des staatlichen Gesundheitssystems, ein Studium ohne Studiengebühren, eine Umweltpolitik ohne Atomkraft sowie der Abzug der britischen Atom-U-Boote sind in Schottland weitgehend Konsens. Viele Schottinnen und Schotten fühlen sich von der britischen Regierung in ihren Wünschen oftmals übergangen und fürchten um ihre sozialpolitischen Errungenschaften.

Als Hauptgarant für den schottischen „Wertekanon“ gilt inzwischen die SNP. Viele sehen in ihr die einzige Regionalpartei, die nicht auf einen Wahlerfolg in London schielt, sondern sich allein auf die Belange Schottlands konzentriert. Den Liberalen wurde in Schottland bei den letzten Wahlen ihre Beteiligung an der Regierung Cameron zum politischen Verhängnis und auch Labour musste für die Jahre unter Tony Blair und Gordon Brown Stimmenverluste in Schottland hinnehmen.

Für die Glaubwürdigkeit der SNP steht insbesondere Alex Salmond – das einzige Schwergewicht in der schottischen Politik. Er kann zwar recht arrogant wirken, aber man nimmt ihm sofort ab, dass für ihn Schottland die einzige politische Bühne von Belang ist.

Salmond war es auch, der das Wahlprogramm der SNP „referendumstauglich“ gemacht hat. Ende 2013 legte die schottische Regierung in einem 670 Seiten starken „White Paper“[1] ihre Vorstellungen für die Unabhängigkeit dar: So soll die Queen Staatsoberhaupt und das britische Pfund Gemeinschaftswährung bleiben. Auch die Bank of England soll weiter eine zentrale fiskalische Rolle spielen. Kritiker sprechen deshalb von einer „Unabhängigkeit light“. Auch der bislang von der SNP geforderte Nato-Austritt wurde gestrichen, aber die vier britischen Atom-U-Boote sollen vom Clyde bei Glasgow abgezogen werden. Für März 2016 ist dann nach Verhandlungen mit der britischen Regierung und der EU der Austritt aus dem Vereinigten Königreich anvisiert.

Whisky, Öl und Gas

Gerade in den Bereichen der Wirtschafts- und Sozialpolitik hat sich eine intensive Debatte über die Frage entspannt, ob Schottland eher ein reiches oder ein armes Land sei. Die schottische Regierung zeichnet ein optimistisches Bild: Die milliardenschweren Einnahmen aus der Öl- und Gasgewinnung sowie der Whisky-Produktion sollen den Haushalt stützen. Auch hofft sie auf eine „Friedensdividende“, wenn die Schotten nicht mehr die britische Atomstreitmacht mitfinanzieren müssen. Das Bruttoinlandsprodukt liege in Schottland pro Kopf 2300 Pfund über dem britischen Durchschnitt, womit Schottland Platz 14 der reichsten Länder der OECD einnehmen würde.[2]

Die Unabhängigkeitsgegner warnen demgegenüber vor sozialen Einschnitten und wirtschaftlichem Abschwung: Eine unabhängige schottische Regierung müsse im Sozial-, Kranken- und Rentenbereich Kürzungen von rund sechs Mrd. Pfund vornehmen. Die Öl- und Gaseinnahmen seien rückläufig und zudem zeitlich begrenzt. Außerdem sollen laut einer Umfrage rund 700 000 Schotten im Falle der Unabhängigkeit über eine Auswanderung nachdenken, das Gleiche gelte für internationale Firmen. Zudem verweist die britische Regierung darauf, dass Schottland zwar „eine erfolgreiche und wachsende Wirtschaft“ besitze,[3] der britische Staat aber 2008 die Royal Bank of Scotland mit 45 Mrd. Pfund aus öffentlichen Kassen habe retten müssen. Schottland alleine hätte einen solchen Rettungsschirm niemals aufspannen können. Außerdem weigert sich die britische Regierung derzeit strikt, im Falle der Unabhängigkeit eine gemeinsame Währung mit Schottland aufrechtzuerhalten.

Das Königreich vor dem Zerfall?

Tatsächlich stellt sich die Frage nach sozialen Einschnitten und Bedeutungsverlust auch dem restlichen Großbritannien. Nur langsam dämmert es den Menschen dort, was ein positives Unabhängigkeitsvotum Schottlands für sie bedeuten würde. Zunächst einmal würde sich der Ausfall der Öl-, Gas- und Whisky-Einnahmen negativ auf den gesamtbritischen Haushalt auswirken.

Noch dramatischer wären die politischen Auswirkungen auf andere Landesteile: Auch in Wales gibt es ein Regionalparlament, das dem Vorbild Schottlands folgen könnte. Zudem ist der Norden Englands schon seit längerem mit der wirtschaftlichen und politischen Dominanz der südlichen Landesteile unzufrieden. Und ganz sicher würde es in Nordirland zu neuen Diskussionen kommen, denn der Abstand zum Vereinigten Königreich würde schon geographisch deutlich größer.[4] Forderungen nach einem Anschluss an die katholisch geprägte, unabhängige Republik Irland würden daher auf katholischer Seite sicher wachsen. Es kommt nicht von ungefähr, dass die schottischen Ableger des protestantischen Orange Order aus Nordirland mit ihren Paraden für ein „Nein“ beim Referendum werben. Denn die nordirischen Protestanten sehen sich bereits als mögliche Verlierer einer schottischen Unabhängigkeit, wollen sie doch unbedingt weiter zu Großbritannien gehören. Das verbleibende Vereinigte Königreich wäre also alles andere als ein stabiles politisches Gebilde.

Gravierende Folgen hätte auch der mögliche Abzug der Atom-U-Boote aus Schottland. Es mehren sich die Zweifel, ob das restliche Großbritannien andernorts einen ähnlichen Standort finden kann. Gelänge dies nicht, verblieben in Europa nur noch Frankreich und Russland als Länder mit Atom-U-Booten. Für die ehemals imperiale Weltmacht Großbritannien käme dies einem weiteren Bedeutungsverlust gleich, der Auswirkungen auf ihren Einfluss in der Nato und der EU hätte.

Und damit betritt man ein weiteres politisches Feld, das derzeit besonders unübersichtlich ist: Während der britische Premier David Cameron den Schotten den Verbleib im Vereinigten Königreich schmackhaft machen möchte, hat er den Briten auf Druck der EU-Gegner in der eigenen Partei sowie der UKIP für 2017 ein Referendum über die weitere EU-Mitgliedschaft in Aussicht gestellt.

Somit müssen die eher EU-freundlichen Schotten am 18. September eine sehr weitreichende Wahl treffen, bei der viele Fragen offen sind: Verbleiben sie im Vereinigten Königreich, werden dann aber „zum Dank“ 2017 von einer englischen Mehrheit gegen ihren Willen zum EU-Austritt gezwungen? Lohnt der Verbleib im Vereinigten Königreich, um 2015 bei den Westminster-Unterhauswahlen wieder eine EU-freundlichere Labour-Regierung an die Macht zu bringen und damit sowohl im Vereinigten Königreich als auch in der EU zu bleiben? Oder ist die staatliche Unabhängigkeit doch der beste Garant, um nicht unter die Räder einer primär in England geführten EU-Debatte zu geraten? Denn wenn internationale Firmen angeblich Schottland verlassen wollen, falls das Land selbstständig wird, so werden diese Firmen auch Großbritannien den Rücken kehren, sollte das Land tatsächlich die EU verlassen.

Die gesamtbritische Lage ist also mehr als komplex und macht den Schotten die Entscheidung nicht leicht.Fakt ist jedenfalls, dass bei einem Austritt Schottlands in Rest-Großbritannien Mehrheiten links der Tories in Zukunft deutlich unwahrscheinlicher werden, weil Schottland bislang immer einen soliden Labour-Block ins Unterhaus nach Westminster entsandt hat. Das würde die neoliberale und EU-skeptische Ausrichtung Großbritanniens weiter verstärken. Und spätestens hier kommt die europäische Dimension des Referendums ins Spiel.

Die europäische Dimension des Referendums

„Für uns ist Schottland naturgemäß ein aktives EU-Mitglied“, lautet einer der Leitsprüche der schottischen Regierung. Die vergleichsweise EU-freundliche Position spiegelte sich auch bei den EU-Wahlen im Mai 2014 wider: Erzielte die EU-feindliche UKIP in Großbritannien insgesamt 28 Prozent der Stimmen, so waren es in Schottland nur 10 Prozent. Die EU könnte sich also eines neuen europafreundlichen Mitglieds ausgerechnet von den Britischen Inseln erfreuen.

Doch die EU-Spitze scheint dies ganz anders zu sehen. Der scheidende EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso teilte im Februar mit, dass ein unabhängiges Schottland sich neu für die EU-Mitgliedschaft bewerben müsse und es unter Umständen sogar „unmöglich“ sei, der EU wieder beizutreten.[5] Die EU-Kommission fürchtet einen Domino-Effekt: Nicht nur in Nordirland, auch in Norditalien und Belgien gibt es Autonomiebestrebungen. Vor allem aber warten Katalonien und das Baskenland mit großer Spannung auf die Ergebnisse aus Edinburgh. Katalonien möchte gegen den entschiedenen Widerstand Madrids schon bald ein eigenes Unabhängigkeitsreferendum durchführen.[6]

Würde man Schottland den Verbleib in der EU ermöglichen, sähen dies Regionen wie Katalonien als Ansporn, die eigene Unabhängigkeit voranzutreiben. Deshalb unterstützt die EU derzeit die Bemühungen der britischen und spanischen Regierung, ihre Länder vereint zu halten. Dabei geht es auch darum, Premier Cameron und den britischen EU-Skeptikern den Verbleib in der EU zu erleichtern.

Die Verweigerungshaltung der EU-Führung mag zwar gute Gründe haben, würde aber nach einem positiven Referendumsergebnis am 18. September sicher schnell in sich zusammenfallen. Niemand kann sich vorstellen, dass die Europäische Union Teile von Mitgliedsländern, die sich demokratisch trennen, einfach ausschließt. Das wäre für sie ein politisches Fiasko. Wahrscheinlicher ist daher ein monate-, wenn nicht jahrelanges Tauziehen zwischen Brüssel, London und Edinburgh um die EU-Mitgliedschaft eines eigenständigen Schottlands. Das aber hätte verheerende Auswirkungen für die EU als Zukunftsprojekt.

Unabhängig von der europäischen Diskussion kann man jedoch davon ausgehen, dass selbst bei einem „Nein“ am 18. September die schottische Unabhängigkeitsfrage nicht endgültig vom Tisch ist. Spätestens wenn Großbritannien 2017 tatsächlich mit einer englischen Mehrheit aus der EU austreten sollte, stünde in Schottland ein nächstes Referendum sofort wieder ganz oben auf der Tagesordnung. Manche Beobachter gehen deshalb mit Blick auf die Entwicklung der letzten 35 Jahre davon aus, dass die schottische Eigenständigkeit auf lange Sicht eigentlich nicht mehr aufzuhalten ist. Die Frage nach einem unabhängigen Schottland wird daher nicht nur die Schotten, sondern auch die europäische Politik noch lange beschäftigen.

 

[1] Vgl. The Scottish Government, Scotland‘s Future, 26.11.2013. 

[2] Vgl. „The Guardian“, 27. 7.2014. 

[3] Vgl. Scotland Office, Scottish independence referendum: money and the economy, 26.3.2014. 

[4] So führen die wichtigsten Fährverbindungen von Nordirland auf das britische Festland nach Schottland. Für den Nordirland-Verkehr wäre also ein Transit nötig. 

[5] Vgl. „The Scotsman“, 17.2.2014. 

[6] Vgl. Raul Zelik, Kataloniens Unabhängigkeit, Spaniens Ende?, in: „Blätter“, 2/2014, S. 21-24.

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