Ausgabe April 1994

Königsberg in Straßburg

Die Kaliningrad-Debatte des Europaparlaments am 8. Februar 1994 (Wortlaut)

Am 8. Februar d.J. debattierte das Plenum des Straßburger Europaparlaments über "Kaliningrad (Königsberg), eine russische Exklave in der baltischen Region: Stand und Perspektiven aus europäischer Sicht". Zugrunde lag ein Bericht, den die SPD-Europaabgeordnete Magdalene Hoff, Vorsitzende der Delegation des Europäischen Parlamentes für die Beziehungen zur GUS, im Auftrag des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten und Sicherheit erstellt hatte, sowie ein Entschließungsantrag mit 15 Forderungen. In dem Bericht spricht Frau Hoff von Kaliningrads "komplizierte(r) geopolitische(r) Situation".

Sie betont die Zugehörigkeit des Gebietes zur Russischen Föderation, plädiert aber gleichzeitig für "ein stärkeres Engagement der Europäischen Union zusammen mit Rußland und anderen interessierten Staaten in und für Kaliningrad", um einen "potentiell gefährlichen Konfliktherd" zu entschärfen. Rußland solle dem Gebiet einen eigenen Status einräumen, der es ihm ermögliche, selbständig mit der Weltbank, der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) und der EU zu verhandeln, Moskau müsse die "russische Militärpräsenz auf ein Niveau 'vernünftiger Hinlänglichkeit' (...) reduzieren", Kaliningrad sei verstärkt in die europäischen Verkehrs- und Telekommunikationssysteme z.B. durch den Bau einer "Hanse-Autobahn" zwischen Hamburg, Gdansk und Kaliningrad) einzubinden, und die EU solle eine EuroFakultät an der Kaliningrader Universität einrichten.

An der Debatte beteiligten sich neben der deutschen Berichterstatterin Hoff und dem britischen Labour-Abgeordneten Peter Crampton PPE/Sozialdemokraten) ausschließlich deutsche Abgeordnete: Marlene Lenz PPE/Christdemokraten), Hans-Günther Schodruch DR/Europäische Rechte) und die fraktionslose Johanna-Christina Grund - insofern fand die These des Hoff-Berichts vom besonders "niedrigen Profil" der Deutschen in dieser Sache keine rechte Bestätigung. Aus der Sicht der Kommission äußerte sich abschließend der Kommissar für Regionalpolitik in Brüssel, Bruce Millan, der vor einer Einmischung in innerrussische Angelegenheiten und jeglicher Infragestellung der Grenzen warnte. Bei der Abstimmung hingegen wurde der Antrag mit 245 Stimmen gegen 20 Stimmen der Europäischen Rechten angenommen. 42 Abgeordnete - überwiegend der Grünen - enthielten sich. Wir dokumentieren nachstehend den Wortlaut der Debatte nach der vorläufigen Ausgabe des Straßburger Sitzungsberichts vom 7./8.2.1994. D. Red.

Magdalene Hoff (PSE), Berichterstatterin : Herr Präsident, den Hintergrund für meinen Bericht bilden folgende Tatsachen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Herausbildung selbständiger Staaten auf deren Territorium ist das Gebiet Kaliningrad zu einer Exklave der russischen Föderation geworden, von ihr getrennt durch Litauen und Belarus. Die komplizierte geopolitische Situation wird dadurch verschärft, daß Kaliningrad nach dem Verlust der Militärhäfen und -anlagen in den baltischen Staaten in der Verteidigungspolitik Rußlands noch weiter an Bedeutung gewonnen hat und von einer überdimensionierten Militärpräsenz geprägt ist. Im zivilen Bereich ist die Region vom wirtschaftlichen Niedergang bedroht. Der russische Präsident und der Verwaltungschef des Gebietes sind daher um eine Belebung der Wirtschaft bemüht, nicht zuletzt deswegen haben sie das Gebiet zu einer freien Wirtschaftszone erklärt. Die Brisanz der Situation - überdimensionierte Militärpräsenz in der Exklave bei gleichzeitigem Verfall von Wirtschaft und sozialen Strukturen - liegt auf der Hand. Sie ist geeignet, den Ostseeraum politisch und militärisch zu destabilisieren. Entsprechende Befürchtungen, besonders in Polen und Litauen, scheinen gerade nach den jüngsten Wahlergebnissen in Rußland nicht ganz unbegründet. Angesichts dieser negativen Perspektive kann ein stärkeres Engagement der Europäischen Union zusammen mit Rußland und anderen interessierten Staaten in und für Kaliningrad ein wichtiger Faktor sein, um einen potentiell gefährlichen Konfliktherd zu entschärfen. Die Europäische Union könnte als Akteur, Koordinator und Moderator bei relativ geringem materiellen Aufwand einen wichtigen Beitrag leisten, zumal sie einen zentralen Bezugspunkt für alle Länder, einschließlich Rußland, bildet.

Allerdings möchte ich ganz nachdrücklich betonen, daß alle Überlegungen zur Entwicklung Kaliningrads von der Voraussetzung auszugehen haben, daß das Gebiet auch in Zukunft völkerrechtlich zu Rußland gehört und daß sein staatsrechtlicher Status innerhalb Rußlands ausschließlich zwischen den Verantwortlichen in Moskau und Kaliningrad geregelt wird. Wer den völkerrechtlichen Status Kaliningrads in Frage stellt, blockiert russische Kooperationsbereitschaft und schafft darüber hinaus ein gefährliches Präjudiz für all jene, die von einer Änderung der Nachkriegsgrenzen im Osten träumen.

Andererseits müßte Rußland seine Militärpräsenz an die im Ostseeraum laufenden Reduzierungen anpassen und auf ein Niveau hinlänglicher Verteidigung reduzieren, denn sonst würde die wirtschaftliche und soziale Kooperationsbereitschaft der Nachbarstaaten in Mißtrauen und Abgrenzung umschlagen. Ich will jetzt nicht detailliert auf sämtliche Felder eingehen, auf denen Aktivitäten sinnvoll und zugleich machbar erscheinen. Ich habe sie eingehend in der Langfassung meines Berichts beschrieben, den ich dem Parlament nach meinen Gesprächen in Moskau und Kaliningrad im März 1993 vorgelegt habe. Ich werde jetzt nur einige Punkte nennen, die mir für ein Engagement der europäischen Union besonders wichtig und erfolgversprechend scheinen. Das sind die Verbesserung der Telekommunikationssysteme und Verkehrsinfrastruktur sowie die Unterstützung bei der Konversion des Militärindustriekomplexes und von Teilen des Marinestützpunktes Baltijsk, ferner einige Projekte in der Landwirtschaft. Besondere Aufmerksamkeit verdient jedoch die Einrichtung europäischer Institutionen zur menschlichen und kulturellen Begegnung in der Region.

Die im TEMPUS II-Programm geplante Hilfe bei der Errichtung einer Eurofakultät an der Universität Kaliningrad ist aus zwei Gründen sehr positiv einzuschätzen. Zum einen könnte sie jungen Menschen vor Ort notwendiges Know-how vermitteln, und zum anderen könnte sie zur Integration des Gebietes in den baltischen Raum beitragen, zumal ähnliche Fakultäten auch dort an anderen Universitäten eingerichtet werden. Eine Eurofakultät wäre geeignet, den Europagedanken in Kaliningrad zu verankern und neue Perspektiven für die dort lebenden Russen aufzuzeigen. In Gesprächen mit der politischen Führung des Gebietes müßte versucht werden, die Probleme zu überwinden, die sich für mich vor Ort ganz deutlich sichtbar gezeigt haben und die im Bereich von Konzeptionsdifferenzen und persönlichen Interessen von unmittelbar Beteiligten liegen. Möglicherweise bietet hier die 450-Jahr-Feier zur Gründung der Universität einen geeigneten Anlaß.

Die Feiern werden im Herbst 1994 im großen Rahmen organisiert, und sie sind bewußt darauf angelegt, die starke kulturell-humanistische Wirkung der Universität in Erinnerung zu rufen und damit deren europäischen Charakter zu betonen. Mein Fazit: Die mit hohen Erwartungen befrachteten Projekte einer Sonderwirtschaftszone Kaliningrads als internationale Drehscheibe im baltischen Raum, als Fenster Rußlands zum Westen und als Sprungbrett westlicher Firmen nach Rußland konnten bisher nicht einmal ansatzweise verwirklicht werden. Die zentralen Ursachen dafür liegen wohl darin, daß einerseits die Erwartungen im Westen allzu hoch gesteckt wurden, andererseits aber die Verantwortlichen in Moskau und vor Ort bisher weder bereit noch in der Lage waren, einen wirklichen Rahmen für diese Voraussetzungen und einen Durchbruch zu schaffen. Vor diesem Hintergrund greife ich einen Passus meines Entschließungsantrages auf und bitte um Ihre Unterstützung.

Wir fordern darin Rat und Kommission auf, im Rahmen der derzeitigen Verhandlungen über den Partnerschaftsvertrag mit Rußland eine spezielle Klausel über Handel und Zusammenarbeit mit Kaliningrad aufzunehmen und den Vertrag durch ein Protokoll zu ergänzen, das die genauen Modalitäten einer solchen Zusammenarbeit enthält. Anknüpfungspunkt könnte der Vorschlag des Vorsitzenden des Föderationsrates, Schumejko, sein, der Exklave größere rechtliche und wirtschaftliche Freiheiten zuzugestehen. Schumejko, wie Sie wissen, wurde am 12. Dezember 1993 in Kaliningrad zum Abgeordneten dieses Gremiums gewählt. Die potentielle politische Brisanz, die ein Festhalten am militärischen, wirtschaftlichen und sozialen Status quo in Kaliningrad mit sich bringt, habe ich eingangs geschildert. Die Chancen für Kaliningrad liegen vor allem darin, daß es sich hier um ein relativ kleines und überschaubares Gebiet handelt, in dem klare Regeln geschaffen und umgesetzt werden könnten. Die Europäische Union könnte auf einem solch begrenzten, zugleich aber hochempfindlichen Territorium zusammen mit Rußland und anderen interessierten Akteuren mit minimalem materiellen Einsatz maximale, positive Wirkungen erzielen.

Die Kommission sollte diese Chance intensiver als bisher nutzen, und ich meinerseits werde der GUS-Delegation unseres Hauses vorschlagen, die Entwicklungen im Kaliningrader Gebiet noch in diesem Jahr erneut in Augenschein zu nehmen.

Peter Crampton (PSE): Herr Präsident, ich stimme zu und danke Frau Hoff für ihren glänzenden Bericht über Kaliningrad, diesen seltsamen Überrest des Kalten Krieges. Ich muß mein persönliches Interesse an dem Problem erklären, da der Kreistag des Gebietes, das ich vertrete, Humberside, eine besondere Beziehung mit Kaliningrad entwickelt hat. Dies begann mit einer Fortbildungsfakultät, die zu einem vorbereitenden Besuch nach Kaliningrad reiste und schließlich gute Beziehungen anhand ausgedehnter Besuche und Arbeitsbesuche über eine Zeit von mehreren Monaten mit der Wirtschaftsschule in Kaliningrad entwickelte. Dem folgten Besuche der Kreisräte und so weiter und tatsächlich kamen ihre Kreisräte hier her. Ich möchte den Kommissionsbeamten danken, die sie trafen und mit ihnen über Kaliningrad sprachen. Sie haben sich stark gemacht für das, was Frau Hoff fordert: Es ist in diesem Gebiet wesentlich, eine erfolgreiche, stabile politische Einheit zu entwickeln, die bis auf weiteres oder für immer an Rußland angebunden ist, aber wie immer sie ist, wir brauchen geopolitische Stabilität in dieser Region und wir werden sie auf keine andere Weise bekommen als durch Hilfe für diese kleine Enklave.

Marlene Lenz (PPE): Herr Präsident, der Kollege Poettering, der diesen Bericht mit initiiert hat, aber leider noch nicht da sein kann, hat mich gebeten, seinen Teil zu übernehmen. Königsberg heute Kaliningrad - ist ein Stück europäischer Geschichte in ihrer oft sehr komplizierten Realität. Sie ist ein Stück Geschichte, das gerade in meinem Land auch heute noch sehr große Resonanz hat, und die Stadt ist wieder Ziel vieler Deutscher geworden, die dort früher ihre Heimat hatten.

Immerhin haben 700 Jahre deutscher Generationen das Schicksal jener Region geprägt. Heute russische Exklave zwischen Polen und Litauen, steht die Zukunft Kaliningrads zur Diskussion, und angesichts der russischen Unwägbarkeiten, wie wir sie in der letzten Zeit erleben - auch unter sicherheitspolitischen Gesichtspunkten -, gewinnt diese Diskussion wirklich eine sehr hohe Aktualität. Der Bericht von Frau Hoff trägt diesem Aspekt Rechnung und wird auch von den meisten Fraktionen einschließlich meiner eigenen mitgetragen, denn es ist die Zukunft, die zählt. Die Europäische Union könnte dazu beitragen, hier neue Zeichen zu setzen, indem sie durch Hilfe zum Ausbau einer sensiblen Region zwischen dem Baltikum, Litauen und Polen beiträgt.

Natürlich muß Rußland in diesen Bestrebungen unterstützt werden. Ich hoffe allerdings, wenn Sie das so energisch bekräftigen, Frau Hoff, daß Rußland seinerseits die Grenzen anderer Länder so respektiert, wie es das von uns im Zusammenhang mit Königsberg fordert. Angesichts der aktuellen Entwicklung der europäischen Geschichte, bin ich mir nicht so sicher, ob die Dinge so liegen, wie sie das dargestellt haben. Wir müssen aber Rußland mit Sicherheit in seinem Vorhaben unterstützen, diese Region als Drehscheibe für Tourismus auszubauen und für Infrastrukturen und Verkehrstechnik sorgen. Es wäre sicherlich auch hervorragend, wenn die Europäischen Institutionen auch den Ausbau eines geistigen europäischen Zentrums in jener Region unterstützen könnten. Gerade wegen dieser Drehscheibenfunktion zwischen Polen, Litauen und Rußland sollte die westliche Geschichte wiederaufleben und die Stadt Königsberg - Kaliningrad - mit ihrer europäischen Vergangenheit wieder ein Stück dieses Glanzes zurückerhalten, den sie als alte historische Hansestadt über Jahrhunderte hinweg innehatte.

Damit könnten wir einen entscheidenden Beitrag zum Ausbau eines Stücks Europa leisten, wobei wir uns noch vor einigen Jahren nicht hätten träumen lassen, daß wir einmal in die Lage versetzt würden, uns in dieser Weise mit dieser Region zu beschäftigen.

Hans-Günther Schodruch (DR): Herr Präsident, als Ostpreuße fühle ich mich verpflichtet, mit aller Deutlichkeit eine von dem Bericht abweichende Meinung zu vertreten. Europa täte gut daran, sich nicht an den Spekulationen über die territoriale Zukunft dieses Gebiets zu beteiligen. Königsberg, heute auch von vielen Russen so genannt, um nicht mehr an den russischen Kommunisten Kalinin erinnert zu werden, ist sicherlich ein europäisches, in erster Linie jedoch ein russisches und ein deutsches Problem. Ein Blick auf die Landkarte beweist dies. Früher als militärisches Sperrgebiet in den sowjetischen Machtbereich integriert, ist die Region heute - wie ich kürzlich bei einem Besuch feststellen konnte - eine verloren wirkende, zum Teil versteppte und von Rußland abgeschnittene Zone geworden.

Dies veranlaßte schon zu Zeiten, als man den Namen Schirinowski noch nicht einmal buchstabieren konnte, russische Politiker an eine Rückübertragung dieses Gebiets an Deutschland gegen finanzielle Unterstützung zu denken. Sie haben in der letzten Zeit dieses Angebot erneut ins Spiel gebracht. Die Trennung des Königsberger Gebiets von Rußland ist das russische Problem. Die bisher gezeigte Unfähigkeit deutscher Politik, bei der Lösung des russischen Problems auf vertraglicher Basis mitzuwirken, ist das deutsche Problem. Das russische Angebot zu mißachten, ist falsche Politik. Welchen Beitrag könnte die Europäische Union, deren Versagen bei der Lösung des JugoslawienProblems gegenwärtig ist, nun erfolgreich leisten? Dies darf keinesfalls über den Köpfen von Russen und Deutschen geschehen, indem man sich an territorialen Spekulationen beteiligt.

So darf die Europäische Union nicht Handlanger polnischer und litauischer Expansionspolitik werden. Dies wäre keine Grundlage für eine friedvolle Entwicklung im Osten Europas. Ferner wäre eine Diskussion über die territoriale Zukunft dieses Gebiets ohne Berücksichtigung der Wahrung der Menschenrechte der jetzigen, aber auch der früheren Bewohner dieses Gebiets abzulehnen. Das Europäische Parlament hat stets Verstöße gegen die Menschenrechte gebrandmarkt, selbst wenn außereuropäische Länder, wie China oder kürzlich Mexiko, als Tatort genannt wurden. Ist das Menschenrecht der ehemaligen Bewohner Ostpreußens weniger oder etwa gar nichts wert? Die Europäische Union ist aufgerufen, bei der Lösung der sich im Zusammenhang mit der Aufgabe dieses Gebiets durch Rußland ergebenden Probleme mitzuwirken.

So ist in erster Linie eine finanzielle Unterstützung erforderlich. Sie verdient Priorität vor manch anderem Projekt, bei dem unter höchst zweifelhaftem Effekt aus dem Füllhorn Europas Mittel gestreut wurden. Was soll im übrigen die Diskussion, ob Deutschen oder deutschstämmigen Russen die Niederlassung in diesem Gebiet gestattet werden soll oder nicht? Der Bericht läßt völlig außer acht, daß die die Aufnahme in die Europäische Union anstrebenden Staaten des Ostens selbstverständlich das freie Niederlassungsrecht der Bürger der Europäischen Union zu beachten haben. Hiernach haben auch nach Ostpreußen strebende Deutsche das Recht, wie alle Bürger Europas, sich in ihrer Heimat niederzulassen.

Für die Europäische Union gibt es im Zusammenhang mit dem Gebiet Königsberg, wie ausgeführt, einiges zu tun. Es verbietet sich aber, über die Köpfe der früheren und heutigen Bewohner hinweg unter Mißachtung der Menschenrechte über anderweitige territoriale Regelungen zu diskutieren. Bei meinem Besuch im Königsberger Gebiet haben dort lebende Russen mir immer wieder erklärt, daß sie ein Zusammenleben mit Deutschen begrüßen würden. Die Bemühungen Rußlands um eine vertragliche Lösung des Problems durch Rückgabe des Gebiets an Deutschland sollten also durch die Europäische Union finanziell ebenso unterstützt werden wie die Ansiedlung Deutscher, die ihr Vermögen dort zurücklassen mußten. Zu diesem Ergebnis hätte der Bericht kommen müssen. Die gewählten Formulierungen und Vorschläge können so nicht akzeptiert werden, da sie nicht einer friedvollen Lösung in Europa unter Einbeziehung der Oststaaten dienen.

Johanna-Christina Grund (NI): Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wenn wir schon über Königsberg reden, dann müssen wir auch die geschichtliche und geographische Wahrheit verkünden, und zwar daß es sich hier um die Hauptstadt der deutschen Provinz Ostpreußen handelt, deren nördlicher Teil 1945 willkürlich nach dem Breitengrad von der Sowjetunion annektiert wurde. Die deutsche Bevölkerung wurde in einer der schlimmsten ethnischen Säuberungen dieses Jahrhunderts vertrieben oder erschlagen. Sarajevo von heute ist ein Kinderspiel gegen das, was damals in Königsberg geschah. Ich sage Ihnen das als Ostdeutsche und als Zeitzeugin. Heute zeigt sich, daß die Okkupation der Russen keinen anderen Gewinn außer einem militärischen gebracht hat. Königsberg ist ein gescheitertes sowjetisches Experiment. Alle Ansiedlungsmaßnahmen haben ihr Ziel verfehlt.

Die Bevölkerungszahl liegt weit unter dem einstigen Niveau, und die Wirtschaftskraft erreicht nur winzige Bruchteile der Wirtschaftskraft in der deutschen Zeit. Aufgrund des Maulkorberlasses gegen die freie, unabhängige Meinung in diesem Hause, der sich Geschäftsordnung nennt, muß ich nun unterbrechen und die Rede als Stimmerklärung fortsetzen. Bruce Millan, Kommissar für Regionalpolitik, Brüssel: Herr Präsident, die Kommission ist Frau Hoff dankbar für den umfangreichen und detaillierten Bericht über Kaliningrad, den ich mit großem Interesse zur Kenntnis genommen habe. Er bietet, unabhängig von seinen Empfehlungen selbst, reichhaltige Informationen und ich denke, alle Mitglieder des Hohen Hauses sind ihr dankbar. Der Bericht zeigt gründliche Untersuchungen und ein tiefes Bewußtsein der Schwierigkeiten, vor denen dieser kleine, aber historisch und geographisch entscheidende Teil Europas steht. Was den Entschließungsantrag betrifft, so gibt es darin vieles, dem die Kommission zustimmen kann, besonders die Idee, eine interregionale Kooperation zu unterstützen, eine Politik, die das Hohe Haus wird sich dessen bewußt sein - die volle Unterstützung der Kommission genießt, nicht nur in bezug auf diese besondere Region sondern in allgemeiner Hinsicht. Ich werde gleich ein wenig mehr in diesem besonderen Zusammenhang dazu sagen.

Auch der Wunsch, die kurz- und mittelfristigen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu mildern, wird von der Kommission geteilt. Ich muß sagen, daß es im allgemeinen Kontext der gegenwärtigen wirtschaftlichen Schwierigkeiten Rußlands für die Kommission schwierig ist, die Reichweite ihrer Sorge auf das Kaliningrader Gebiet zu begrenzen, und ich denke, daß die Frau Abgeordnete dies akzeptieren wird. Ich bin von der Idee angetan eine Abteilung für Europäische Studien an der Universität Kaliningrad zu schaffen wie es in Paragraph 11 der Resolution beschrieben ist. Wenn die Kommission dabei an irgendeiner Weise helfen kann, würden meine Kollegen sehr gern alle Vorschläge, die uns unterbreitet werden, in Betracht ziehen. Interessant fand ich Herrn Cramptons Erwähnung der Beziehung, die seine eigene Region im Vereinigten Königreich nun zu Kaliningrad hat. Wie ich eben sagte, ist die Kommission an diesem Konzept einer interregionalen Kooperation außerordentlich interessiert. Als Kommissar für Regionalpolitik kann ich sagen, daß wir in dieser Hinsicht im Baltikum und anderswo eine ganze Menge getan haben. Diese Art der Kooperation kann von gegenseitigem Nutzen sein, besonders im Hinblick auf die traditionellen Handelsbeziehungen, die bis vor kurzem bestanden. Dort gibt es zweifellos Spielraum für interregionale Kooperation.

Andererseits muß ich sagen, daß die Kommission Vorbehalte gegenüber dem Vorschlag hat, sie solle die russische Regierung auffordern, ihre militärischen Kräfte in diesem Gebiet zu reduzieren. Sicher, die Zahlen, die der Bericht herausstellt, sind sehr hoch für ein so kleines geographisches Gebiet.

Dennoch handelt es sich entschieden um interne Angelegenheiten Rußlands und es ist nicht sehr weise, wenn wir Rußland Vorschläge machen, die, zumindest in dem hier gegebenen Fall, als eine Verletzung seiner Souveränität interpretiert werden könnten. Die Russen haben jedenfalls ernste Probleme mit der Neuunterbringung und der Konversion ihrer Streitkräfte im allgemeinen. Auch wenn ich Verständnis für den Gedanken habe, handelt es sich hier doch nicht um etwas, in dem wir die russische Regierung zu beeinflussen versuchen sollten. Ähnlich ist die Kommission nicht davon überzeugt, daß es möglich oder wünschenswert ist das betrifft den Paragraphen 12 des Entschließungsantrags - dem Kaliningrader Gebiet eine Vorzugsbehandlung angedeihen zu lassen, bis hin zu einer besonderen Erwähnung in dem Abkommen über Partnerschaft und Kooperation, welches nun in der letzten Etappe der Verhandlungen steht. Sollte die russische Regierung eine solche Bitte vortragen, würde die Kommission selbstverständlich gewillt sein, sie zu erwägen.

Aber in einer Sache wie dieser sollte die Kommission nicht drängen. Die Ansicht in Paragraph 13, daß die russische Regierung Kaliningrad eine Art ökonomischer Souveränität gewähren sollte, die dem Gebiet den Abschluß von Abkommen mit der Weltbank, der EBRD und der Europäischen Union erlauben würde, betrifft in ähnlicher Weise entschieden die Angelegenheiten der russischen Regierung. Ich würde vermuten, daß diese darin einen gefährlichen Präzedenzfall für den Zusammenhalt der russischen Föderation sehen würde. Und ich muß sagen, daß die Kommission mit dieser Sichtweise sympathisieren würde. Im Lichte einiger der Äußerungen, die im Verlauf dieser Debatte gefallen sind, erwägt die Kommission, daß die Europäische Union gerade in einem Gebiet, das eine schwere historische Last trägt, besonders intensiv darauf achten muß, keinerlei Verletzung territorialer Souveränität zu ermutigen. Dies ist, angesichts der Geschichte dieser Region, immer noch ein sehr heikles Thema. Der Bericht erweitert ganz allgemein unser Wissen über ein Gebiet der Russischen Föderation, dem vielleicht nicht die internationale Beachtung zuteil geworden ist, die es verdient. Dafür spreche ich Frau Hoff meine Anerkennung aus und verspreche, daß ihr Bericht sorgfältig berücksichtigt werden wird, wenn die Kommissionsdienste zukünftige Strategien sowohl auf dem Gebiet des Handels als auch der Hilfe entwerfen. Ich danke ihr und den anderen, die zu dieser Debatte beigetragen haben.

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