Memorandum anläßlich 350 Jahre Westfälischer Friede (Auszüge)
Am Pfingstwochenende trafen sich mehr als 1000 Friedensbewegte auf dem "European Peace Congress Osnabrück", der unter dem Motto "350 Jahre Westfälischer Friede" stand und die Teilnehmer zu der seit Jahren größten Strategiedebatte zusammenführte. Unter anderem diskutierte man das im Vorfeld erarbeitete Memorandum. Es soll den europäischen und internationalen Friedensbewegungen inhaltliche Grundlage für eine verbesserte Zusammenarbeit sein. Wir veröffentlichen im folgenden das Memorandum in Auszügen. - D. Red.
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Triebkräfte und Motive für Kriege sind sehr vielfältig. Das Erkennen von Kriegsursachen und die öffentliche Auseinandersetzung damit ist Voraussetzung für die künftige Verhinderung von Kriegen. Für die gegenwärtigen Kriege und das damit verbundene Elend in anderen Teilen der Welt tragen die reichen und nur scheinbar friedlichen Industriestaaten die Hauptverantwortung. Ihr Macht und Gewinnstreben reproduziert und verschärft immerfort die ungerechten Strukturen der Weltwirtschaft, deren Gesetze von einem ungezügelten Kapitalismus bestimmt werden. Die Vertiefung des Gegensatzes zwischen armen und reichen Ländern und Regionen führt zur steigenden Gewaltbereitschaft in einer vom Haben-Wollen und Profitstreben gelenkten Welt. Zur Ausübung militärischer Gewalt verkauft eine vom technokratischen Machbarkeitswahn besessene Wissenschaft und Industrie die erforderlichen Tötungsmittel, deren Anwendung nicht nur den Tod der Betroffenen, sondern auch tiefgreifende Schädigungen der Natur bedeutet. Nach dem Ende der Blockkonfrontation eröffnete sich die historische Chance zu einer Wende weg von militärischen zu zivilen Formen der Konfliktbearbeitung. Diese Chance wird einerseits nicht hinreichend genutzt, andererseits von den Kräften des alten militärlastigen Denkens untergraben.
Statt in Osteuropa Armut und Arbeitslosigkeit gemeinsam zu bekämpfen, die Umwelt zu sanieren und durch drastischen Abbau der militärischen Potentiale den Menschen Hoffnung zu machen, konnte beispielsweise die NATO ihr Interesse durchsetzen, sich nach Osten zu erweitern. Dies führt zur Schwächung der Kräfte des Friedens und der Demokratie nicht nur in Rußland. Statt ein System ziviler Konfliktbearbeitung aufzubauen und UNO und OSZE zu stärken, haben sich die Industrienationen des Nordens Legitimationen für neue Um- und Nachrüstungen besorgt. Dafür ist die Behauptung über vermeintliche Sicherheitsbedrohungen unterschiedlicher Art ebenso geeignet wie die Schaffung auswechselbarer Feindbilder, unter denen der Islam zur Zeit an vorderster Stelle steht. Auch humanitäre Zwecke werden vorgeschoben, um militärische Interventionen zu legitimieren. Das Gerechtigkeitsempfinden und das Mitleid vieler Menschen wird dabei mißbraucht. Während sich die "Festung Europa" militärisch abschottet, sollen schnelle Eingreiftruppen und Krisenreaktionskräfte die weltweiten Interessen der Industriemächte "verteidigen" und z.B. den freien Zugang zu den Rohstoffquellen "schützen" oder mit Gewalt erzwingen. Bestrebungen, die Westeuropäische Union (WEU) zum Kern einer militärisch fixierten europäischen Außenpolitik der Europäischen Union (EU) zu machen, weisen in die falsche Richtung. Eine "Festung Europa", das wäre ein fataler Abschluß der mit dem Westfälischen Frieden eingeleiteten Epoche der Nationalstaatsbildung. Europa ist jetzt dafür verantwortlich, neue friedenspolitische Wege zu gehen. Es ist an der Zeit, Krieg für immer zu verbannen.
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Das 20. Jahrhundert ist nicht nur eine Schreckensgeschichte der Kriege; es brachte auch wichtige Entscheidungen und erste Schritte in Richtung einer pazifistischen Politik. Dazu zählen Vereinbarungen, die die Grausamkeiten des Krieges eingrenzen sollen und die erstmals die Rechtmäßigkeit von Kriegen bestreiten. Hier sind zu nennen die Gründung des Völkerbundes ebenso wie der Vereinten Nationen, die Ächtung von Angriffskriegen, das Verbot der Anwendung besonders grausamer Waffen oder das Zustandekommen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). 1996 hat der Internationale Gerichtshof die Drohung mit und den Einsatz von Atomwaffen für völkerrechtswidrig erklärt. 1997 wurde den Trägern der Landminen-Kampagne der Friedensnobelpreis verliehen, 100 Staaten verpflichteten sich anschließend in der Konferenz von Ottawa, alle Antipersonenminen abzuschaffen. Zu dieser Entwicklung beigettragen hat nicht zuletzt der Protest und Widerstand zahlreicher gesellschaftlicher Gruppen gegen Krieg und Militär, der sich in diesem Jahrhundert entwickelt hat.
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Der Rückfall in militärische Gewalt - gerade nach dem Ende der bipolaren Welt - widerlegt nicht pazifistische Politik, sondern beweist und verstärkt ihre Dringlichkeit, Konflikte wie auf dem Balkan müssen eingedämmt werden, bevor sie zum Krieg eskalieren, Wenn Großmächte unfähig sind, dies zu leisten und zum Mittel der militärischen Intervention greifen, "um Völkermord zu verhindern", dokumentieren sie damit das Scheitern ihrer Politik. Nicht der Pazifismus, sondern die Nichtbefolgung seiner Forderungen begünstigt Krieg und kriegerische Massaker. Pazifismus wirkt darauf hin, daß sich Menschen nicht an die Gewalt gewöhnen. Er widersteht der Gewalt, unterbricht sie und befreit zu neuen Handlungsperspektiven. Er setzt auf Dauer immense Ressourcen frei und ist daher ein wichtiger Beitrag für die Überwindung von Armut, den Abbau globaler und immergesellschaftlicher Ungleichheiten und für den Aufbau einer solidarischen und nachhaltigen Weltwirtschaft. So verstanden ist Pazifismus auch unverzichtbar für die Regenerierung und den Schutz der Umwelt. Frieden mit der Natur und Frieden unter den Menschen bedingen und fördern einander.
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Wir rufen die europäische und internationale Friedensbewegung dazu auf, sich stärker als bisher zu vernetzen, gemeinsame Kampagnen (beispielsweise gegen Landminen und Leichtwaffen, für den Friedenssteuerfonds, für ein Europa ohne Armee ...) durchzuführen und ein Gesamtkonzept ziviler Konfliktbearbeitung als Perspektive für das 21. Jahrhundert in Theorie und Praxis zu entwickeln. Wir rufen dazu auf, mit Demonstrationen und Aktionen des zivilen Ungehorsams an Orten präsent zu sein, wo Waffen produziert, wo Kriege geübt, wo Militärausrüstungen zur Schau gestellt und auf internationalen Messen gehandelt werden. Wir rufen junge Menschen dazu auf, den Kriegsdienst zu verweigern und auch den Dienst in einer Berufsarmee abzulehnen. Wir rufen alle Menschen auf, die Mitwirkung an militärischen Projekten in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik abzulehnen und statt dessen die Konversion von militärischen in zivile Produkte, die Einführung von Friedenspädagogik an den Schulen, sowie die Einrichtung von Studiengängen zur Friedenserziehung und Friedensforschung an Hochschulen einzufordern. Wir sprechen den Regierungen das Recht ab, den militärischen Weg zur Methode der Friedenssicherung zu erklären. Wir wenden uns an die Parlamente aller europäischen Staaten, an das Europaparlament, die OSZE, sowie an die UNO und fordern eine Weichenstellung für eine Friedenspolitik ohne Militär.
Wir unterstützen den Aufruf der Friedensnobelpreisträger, die erste Dekade des 21. Jahrhunderts zur Dekade der Gewaltfreiheit zu deklarieren, und schlagen für diese Friedenspolitik folgende Schritte vor: die interventionistischen Zielsetzungen der neuen NATO, WEU und der EU aufzugeben; die Auflösung der Militärbündnisse einzuleiten; den Abbau von Atomwaffen in Europa und weltweit bis zu ihrer vollständigen Beseitigung - gestützt auf das Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs vom 8. Juli 1996 - fortzusetzen; den Rüstungshandel international zu ächten und für die systematische Umwandlung von militärischen Einrichtungen und Rüstungsgütern Konversionsagenturen zu schaffen; Initiativen zur Schaffung von bündnisfreien und entmilitarisierten Zonen zu unterstützen, als erste Stufe zur Abschaffung der Armeen die Wehrpflicht abzuschaffen, Kriegsdienstverweigerer, Totalverweigerer und Deserteure zu schützen; dem Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung zur weltweiten Anerkennung zu verhelfen; gesetzliche Grundlagen für die freie Entscheidung zu schaffen, die es Bürgerinnen und Bürgern erlaubt, ihre Steuern entsprechend dem Anteil an den Militärausgaben in einen Fonds zur Finanzierung einer Friedenspolitik ohne Militär einzuzahlen; die Militärausgaben der europäischen Staaten fortschreitend bis zur Abschaffung der Armeen zu vermindern und damit die friedenspolitischen Instrumente der UNO und der OSZE zu finanzieren und auszubauen; grenzüberschreitende Gemeinschaftsprojekte ökologischer, sozialer und kultureller Art zu unterstützen und so die Friedenskultur und solidarisches Zusammenleben erlebbar zu machen; UNO bzw. OSZE durch demokratische Reformen in ihrer politischen Unabhängigkeit zu stärken und vor Instrumentalisierung zu schützen; einen zivilen Friedensrat aus nichtstaatlichen Friedens- und Menschenrechtsorganisationen für die UNO und entsprechend auch für die OSZE zu schaffen, der alle Aktivitäten der zivilen Konfliktbearbeitung international und europäisch koordiniert; die zivile Konfliktbearbeitung und die Einrichtung von unabhängigen europäischen und weltweiten zivilen Friedensdiensten ideell und finanziell zu unterstützen.
Europa muß, angesichts seiner Geschichte der Kriege, auf dem Weg zu einer Friedenspolitik ohne Militär den ersten Schritt tun!