Die Bundesrepublik übernimmt die Präsidentschaft der EU Anfang 1999 in einer Situation, die in doppeltem Sinne einzigartig ist: Erstens beginnt zur gleichen Zeit mit der Währungsunion eine neue historische Stufe der westeuropäischen Wirtschaftsintegration, die Währungen der elf Mitgliedsländer verschwinden, ihre Banknoten zirkulieren nur noch vorübergehend als nationale Bilder der neuen europäischen Währung Euro, die die Europäische Zentralbank ausgibt. Zweitens werden erstmals seit über zwanzig Jahren die meisten Mitgliedsländer, unter ihnen die vier größten, von Sozialdemokraten oder Mitte-Links-Koalitionen regiert. Beides hat miteinander zu tun: Daß die konservativen Regierungen Italiens, Englands, Frankreichs und Deutschlands innerhalb der letzten beiden Jahre abgewählt wurden, ist nicht zuletzt auf die Art und Weise zurückzuführen, in der sie die Währungsunion vorbereitet haben.
Die rabiate Politik zur Drosselung der Staatsausgaben, massiver Sozialabbau mit der Folge steigender Arbeitslosigkeit und sozialer Polarisierung, die Umverteilung von unten nach oben - all dies hat Widerstand und Gegenbewegungen hervorgerufen, die sich auch in den Wahlergebnissen niedergeschlagen haben. Daß diese Politik mit dem Hinweis auf europäische Zwänge gerechtfertigt wurde, hat die Idee der europäischen Einigung bei vielen diskreditiert. Zurückhaltung und Ablehnung nahmen zu, und nationalistische Rattenfänger haben versucht, sie zu instrumentalisieren. Offensichtlich besteht Handlungszwang. Der europäische Gedanke muß durch einen umfassenden wirtschafts- und sozialpolitischen Kurswechsel neu legitimiert werden. Dazu kommt eine andere Herausforderung: die anstehende Erweiterung der EU um die osteuropäischen Länder. Erstmals seit Ende der 40er Jahre steht eine gesamteuropäische Friedensordnung und ein gesamteuropäisches Entwicklungsmodell auf der Tagesordnung der Geschichte. Neue Wirtschaftspolitik und Osterweiterung, die zentralen Herausforderungen für die EU, erfordern aber auch ein neues Verständnis der europäischen Einigung. Noch gibt es starke Widerstände, doch erstmals zeigen sich auch Perspektiven für ihre Überwindung.
Mehr Politik wagen
Der größte Fortschritt scheint in der Wirtschaftspolitik möglich zu sein. Nie war die Chance für einen gemeinsamen Kurswechsel so groß, nie allerdings auch seine Notwendigkeit. Denn die Arbeitslosigkeit ist unverändert hoch und die soziale Polarisierung nimmt zu. Die internationale Finanzkrise verschärft die Probleme und schafft neue. Mit der Abwahl der alten Bundesregierung ist endlich das größte Hindernis für eine gemeinsame europäische Beschäftigungspolitik aus dem Weg geräumt. Die gesellschaftliche Dynamik, die sich in Frankreich und in Italien aus dem Protest gegen den Neoliberalismus entwickelt und zu weitgehenden Alleingängen in der Beschäftigungspolitik (Verkürzung der Arbeitszeit, Anhebung der Mindestlöhne, Beschäftigungsprogramme für jugendliche Arbeitslose) geführt hat, steht nicht mehr unter der ständigen Drohung, durch Deutschland abgewürgt zu werden. Sie kann sich entfalten, und umgekehrt besteht die Chance, daß ihre Impulse in der Bundesrepublik aufgenommen werden, daß diese Politik eine gesamteuropäische Dimension erhält. Bisher sieht es danach allerdings nicht aus, denn die Regierungen haben offenbar noch gar nicht richtig realisiert, wie sich die politischen Kräfteverhältnisse in Europa geändert haben und daß nun eine neue Politik möglich ist. Sie tun so, als bestünde die Gefahr massiver Disziplinierung, mit der jede Abweichung vom Kurs der Orthodoxie belegt wurde, nach wie vor.
Auf dem Dezembergipfel der EU in Wien hat noch kein neuer Wind geweht. Mehr Mut ist angebracht, und Deutschland sollte vorangehen, die Abkehr vom Neoliberalismus unzweifelhaft demonstrieren - dafür plädieren, die Weichen für Beschäftigungspolitik energischer zu stellen und die europäische Politik mit großer Kraft hierauf zu konzentrieren. Konkrete und ehrgeizige Ziele wie z.B. die Halbierung der Arbeitslosigkeit in drei Jahren sollten gesetzt, ein Bündel fiskalpolitischer und arbeitszeitpolitischer Maßnahmen auf nationaler Ebene verabredet, koordiniert durchgeführt und durch gemeinsame europäische Programme ergänzt werden. Sage keiner, das sei nicht machbar. Man konnte in den vergangenen beiden Jahren - wenn auch am untauglichen Objekt der Konvergenzkriterien - lernen, wozu Regierungen in der Lage sind, wenn sie sich konkrete Ziele setzen und die Politik darauf ausrichten, diese unter allen Umständen zu erreichen. Die Europäische Zentralbank wird sich vermutlich zunächst querstellen, obwohl nach dem Wegfall des festen politischen Rückhaltes der Bundesregierung klargeworden ist, daß es sich dabei noch nicht um das letzte Wort handelt. Endlich wird die Diskussion über die Stellung der Zentralbank in der Gesellschaft jetzt auch in Deutschland intensiv geführt, endlich darf auch hier die Frage öffentlich gestellt werden, ob sich eine Institution, von deren Arbeit - der Versorgung der Wirtschaft mit Geld - die materielle Lage der Bevölkerung ganz wesentlich abhängt, wirklich außerhalb der Diskussion und demokratisch legitimierter Entscheidungen über die strategischen Prioritäten der Wirtschaftspolitik stellen kann.
Hat eigentlich schon jemand eine derartige Form von Unabhängigkeit für das Militär gefordert? Die amerikanische Zentralbank ist übrigens in eine gesamtwirtschaftliche Strategie eingebunden: zu ihren offiziellen Zielen gehört nicht nur Preisstabilität, sondern auch Wachstum und Voll(!)beschäftigung, und sie muß dem Parlament regelmäßig Rechenschaft über ihre Politik ablegen. Ein wirtschaftspolitischer Kurswechsel ist die Voraussetzung für die Re- und Neukonstruktion eines sozialpolitischen Konsenses, einer Art europäischer Sozialverfassung - einer Verfassung, die Einkommen, soziale Sicherheit und saubere Umwelt nicht mehr hinter Kostengesichtspunkten zurücktreten läßt (oder nur dann fördert, wenn sie die Standortqualität im internationalen Wettbewerb stärken), sondern zu Bürgerrechten für alle macht, die in Europa leben. Die Änderung der wirtschaftspolitischen Prioritäten wird auf Widerstand stoßen, und wer sie betreibt, muß mit Störmanövern auf den Finanzmärkten rechnen. Daß es hier politischen Handlungsbedarf gibt, der über den Rahmen der EU hinausreicht, haben die massiven Finanzkrisen in Asien und Rußland und die von ihnen ausgehenden Ansteckungsprozesse deutlich demonstriert.
Das beste wäre eine gemeinsame Initiative der G7-Länder, deren Vorsitz Deutschland ab 1. Januar 1999 ebenfalls übernimmt. Doch falls eine globale Kooperation gegenwärtig nicht erreicht werden kann, wäre die EU in der Lage, ihren wirtschaftspolitischen Kurs gegen externe Turbulenzen und Attacken der großen Finanzinstitutionen abzusichern. Es gibt eine Reihe von englischen, französischen und amerikanischen Vorschlägen und einige vage Vorstellungen von deutscher Seite - ohne Zweifel ist mehr möglich und nötig. Auch hier ist mehr Mut und Entschiedenheit erforderlich und machbar. Die Verschärfung der Banken- und Kreditaufsicht, die Erweiterung der Pflichten zur Sicherheitshinterlegung bei Termingeschäften, die Einführung einer Devisenumsatzsteuer oder von Hinterlegungspflichten bei Kapitalbewegungen, Beschränkungen kurzfristiger Kapitalbewegung bis zum Verbot rein spekulativer Operationen als öffentliche Glücksspiele, dies alles wäre machbar - selbst wenn die EU hier zunächst einen Alleingang unternehmen müßte. Auch die Einbindung der Offshore-Zentren in eine koordinierte Strategie der Re-Regulierung ist kein unlösbares Problem, weil alle Offshore-Zentren in ihrer Geschäftstätigkeit auf die Verbindung mit den Onshore-Zentren angewiesen sind. Die Einführung von Wechselkurszielzonen zwischen den großen Währungen Euro, Dollar und Yen ist wünschenswert, die entsprechenden Konzeptionen des Bundesfinanzministers sollten schnell konkretisiert werden.
Erweiterung nicht zum Nulltarif
Der zweite große Bereich, in dem die deutsche Präsidentschaft die europäische Einigung voranbringen kann, ist die Osterweiterung. Die Schnelligkeit, mit der die Ausdehnung der NATO betrieben wurde, steht in krassem Gegensatz zu den Halbherzigkeiten der EU-Erweiterung - mittlerweile läuft der Tenor in den meisten offiziellen Stellungnahmen darauf hinaus, vor übergroßer Schnelligkeit zu warnen. Davon kann nun gewiß nicht die Rede sein. Schon 1989 bis 1991 wurde den meisten osteuropäischen Ländern in Assoziierungsabkommen die Perspektive eines EU-Beitritts eingeräumt. Man schloß Handelsabkommen und richtete das Hilfsprogramm PHARE ein, die Kandidaten wurden intensiv befragt. Mittlerweile haben alle einen offiziellen Beitrittsantrag gestellt und es liegen mehr als 1000 Seiten Berichte über ihre Eignung zum Beitritt vor. Schließlich wurden vor einigen Wochen - nach sechs bis sieben Jahren hinhaltender Vorgespräche - die offiziellen Verhandlungen mit fünf Ländern eröffnet.
Der Eindruck muß entstehen, daß die historische Perspektive einer gesamteuropäischen Friedensordnung, die mit dem Ende des Kalten Krieges erneut - wie unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg - auf die Tagesordnung der Geschichte gesetzt wurde, zur rhetorischen Figur verkommt, während die interessenbedingten Widerstände gegen die ökonomische, soziale und politische Vereinigung stärker werden. Deutschland sollte darauf drängen, daß die Verhandlungen intensiver und mit einer eindeutigen Terminsetzung für den Beitritt geführt werden, daß den Beitrittsländern - wie bei früheren Neuaufnahmen praktiziert - großzügige Übergangsfristen und -regelungen zur Anpassung ihrer Wirtschaftsstrukturen eingeräumt werden, wie umgekehrt auch die EU Übergangsfristen bis zur vollen Integration der west- und osteuropäischen Arbeitsmärkte braucht. Immerhin berücksichtigt die Agrarreform der EU, die bereits seit einigen Jahren läuft, die Beitrittsperspektive. Die Horrorgeschichten über den Zusammenbruch der westeuropäischen und / oder über astronomische Summen zur Stützung der osteuropäischen Landwirtschaft sind entdramatisiert worden und haben einer realistischen Konzeption Platz gemacht.
Zum Sprengsatz für die Integration könnte sich entwickeln, daß man die Osterweiterung in der im Sommer 1997 vorgelegten A g e n d a 2 0 0 0 ohne Not mit dem Gesamtkomplex der mittelfristigen Finanzplanung der EU in einer Art Junktim verkoppelt u n d für den Finanzrahmen selbst unrealistisch restriktive Festlegungen getroffen hat: Die Gesamtausgaben der EU sollen auch nach der Erweiterung - anders als bei jeder vorangegangenen Aufnahme neuer Mitglieder - die bisher geltende Grenze von 1,27% des EU-Sozialproduktes in der nächsten, bis zum Jahre 2006 reichenden Periode nicht überschreiten, trotz des enormen Einkommensabstandes und Unterstützungsbedarfs für die osteuropäischen Länder. Es ist vielmehr vorgesehen, die unvermeidbaren Strukturhilfen für diese Länder zur Hälfte aus Kürzungen der bisherigen Strukturfonds, also der Zahlungen an die ärmeren Regionen der bisherigen EU zu finanzieren. Dies kann ökonomisch nicht funktionieren und muß geradezu die innereuropäischen Konflikte verschärfen. Denn die bisher von der europäischen Regional- und Strukturpolitik begünstigten Länder Südeuropas verweisen - ebenso wie die neuen deutschen Bundesländer - zu Recht darauf, daß sich die Lage ihrer Problemregionen keineswegs verbessert hat und die Hilfe für Osteuropa nicht auf ihre Kosten gehen kann.
Wenn in dieser Situation die deutsche Bundesregierung noch fordert, daß ihre Nettobeiträge zur EU vermindert werden sollen, schüttet sie Öl ins Feuer, statt sich um Lösungen der in der Tat schwierigen Probleme zu bemühen. Zur Befriedigung eines unabweisbar steigenden Netto-Finanzbedarfs der EU im Zuge der Osterweiterung gibt es jedoch Möglichkeiten, die nicht zu Lasten der ärmeren Mitgliedsländer gehen (und auch keine zusätzlichen Beiträge von Deutschland und den anderen reichen Ländern erfordern). Zum einen könnte die EU den Vorschlag der Kommission für eine einheitliche Zinsertragsteuer aufgreifen und ihr Aufkommen ganz oder teilweise dem EU-Haushalt zuführen. Dies würde die Steuerkonkurrenz zwischen den Mitgliedsländern beschränken, und das Gesamtsteueraufkommen in der EU erhöhen.
Alternativ könnten neue Steuern, die aus lenkungspolitischen Gründen ohnehin in der Diskussion sind, von Anfang an als EU-Steuern eingeführt werden. Es handelt sich vor allem um die Devisenumsatzsteuer (Tobinsteuer) zur Stabilisierung der Finanzmärkte und eine einheitliche Energieverbrauchs- oder Emissionsteuer zur Förderung der Energieeinsparung. Hiermit ließe sich der EU-Haushalt schnell um 40 Mrd. Euro auf - immer noch bescheidene - rund 2% des EU-BIP erhöhen, Mittel zur Unterstützung der Osterweiterung wären mobilisierbar, ohne die Haushalte der Mitgliedsländer stärker zu belasten. Wirtschaftspolitischer Kurswechsel und Osterweiterung - in beiden Fällen geht es um das Selbstverständnis der EU: Begreifen die Regierungen der EU die politischen Veränderungen in Ost- und in Westeuropa als Ausdruck des Bedürfnisses nach einem anderen Leben - und handeln entsprechend? Ähnlich wie es bei den osteuropäischen Umwälzungen zu Beginn der 90er Jahre um ein demokratischeres und selbstbestimmtes Leben gegangen ist, haben jetzt die Wahlen im Westen (zuerst in Italien, dann in Großbritannien und Frankreich, nun in der Bundesrepublik) demonstriert, daß es auch hier um ein anderes Leben, ein Leben in sozialer Sicherheit, mit sicheren Arbeitsplätzen und Einkommen, mit mehr Gerechtigkeit und Solidarität geht - auch wenn dies offensichtlich schwerer zu begreifen ist. Die Veränderungen verstehen und Schritte in die geforderte Richtung gehen, dann besteht die größte Herausforderung, vor der die Bundesrepublik zu Beginn ihrer Präsidentschaft steht.