Ausgabe Juni 2004

Die politische Form der globalisierten Welt

Jürgen Habermas zum 75. Geburtstag

Die jetzt bekannt gewordenen Vorwürfe gegen Angehörige der US-amerikanischen Besatzungsarmee am Tigris, wahllos und ohne Haftbefehl eingesperrte Iraker gefoltert zu haben, besiegeln den moralischen Bankrott des "Krieges gegen den Terror". Freilich lässt sich mit dieser Feststellung noch kein abschließendes Urteil über jene Annahmen - von Konzept mag man nicht sprechen - fällen, aus denen heraus Präsident George W. Bush diesen Krieg führen ließ. Das neokonservative "Project for a New American Century" wollte stets mehr als lediglich der situativen Verteidigung amerikanischer Interessen dienen.

Im rechtzeitig zu seinem 75. Geburtstag erscheinenden Band X der "Kleinen politischen Schriften" legt Jürgen Habermas neben einer Reihe bereits erschienener kleinerer Beiträge und Interviews einen umfangreichen Aufsatz zur im Lichte der jüngsten Ereignisse vielleicht drängendsten Frage der Gegenwart vor: "Hat die Konstitutionalisierung des Völkerrechts eine Chance?" Dieser Aufsatz stellt zugleich den einzigen Beitrag des vierten Kapitels dar, das wiederum unter der Überschrift steht: "Das Kantische Projekt und der gespaltene Westen".

Bereits die doppelte Überschrift unterstreicht, dass dieser, ja der politische Intellektuelle der Bundesrepublik Deutschland hier zwar aus Zorn, aber nicht im Zorn geschrieben hat. Das Vorwort offenbart die Motivlage: In einer Situation, in der "die chemische Verbindung, aus der die Westorientierung der Bundesrepublik seit Adenauer bestanden hat", nämlich die Verquickung von opportunistischer Anpassung an den Hegemon des Kalten Krieges hier und die "Grundüberzeugungen einer westlichen Kultur" dort, zerfällt, wird es unumgänglich, sich der normativen Voraussetzungen dieser westlichen Kultur zu versichern.

Dabei geht es nicht um irgendetwas, sondern - schlicht gesagt - ums Ganze: Es ist die Politik der US-Regierung, "die das Völkerrecht ignoriert, die Vereinten Nationen an den Rand drängt und den Bruch mit Europa in Kauf nimmt." Zu besonderer Empörung gibt die politische Situation Anlass, weil nicht mehr und nicht weniger auf dem Spiel steht als "das Kantische Projekt der Abschaffung des Naturzustandes zwischen den Staaten, [...] eine der großartigsten Anstrengungen zur Zivilisierung des Menschengeschlechts."

Habermas’ Versuch, dieses Projekt zu rekonstruieren und damit zu retten, erweist sich als eine ebenso nüchterne wie schlüssige Betrachtung des Völkerrechts in den letzten 250 Jahren, vor allem im 20. Jahrhundert. Dabei fällt auf, dass spätestens seit dem Jahr 1928, dem Jahr des Briand-Kellogg-Pakts, allerspätestens aber seit dem Inkrafttreten der UN-Menschenrechtskonvention von 1966 das klassische Völkerrecht einschließlich des humanitären Kriegsvölkerrechts zumindest in den Texten internationaler Abkommen und Organisationen eine entscheidende Weiterentwicklung erfahren hat. Diese verkehrt seinen ursprünglichen Sinn, die Beziehungen zwischen Staaten zu ordnen, die Krieg, also organisierte Massentötungen, als legitimen Konfliktregulationsmechanismus akzeptiert haben, geradezu in sein Gegenteil: Mit der Kodifizierung und innerstaatlichen Ratifizierung von Menschenrechten hat sich das Prinzip einer letztinstanzlich staatsgebundenen Souveränität mindestens auf dem Papier allmählich aufgelöst und damit nolens volens einem schwach ausgeprägten Weltbürgerrecht eine gewisse Geltung verschafft.

Das Problem, das den Westen gegenwärtig spaltet, besteht darin, welche Antworten auf die Frage nach der politischen Form und das heißt nach der im Zweifelsfall erzwingbaren Kraft dieses Weltbürgerrechts gegeben werden. Dazu konkurrieren derzeit zwei Programme: zum einen das im Irakkrieg Realität gewordene, von einem übermächtigen Staat, den USA, eigenmächtig exekutierte Programm eines "liberalen Ethos". Unter restloser Missachtung oder Kündigung einst selbst geschlossener völkerrechtlicher Verträge verfolgt hier eine sich als liberal gerierende Supermacht ihre "nationalen Interessen" und bricht so mit der bisherigen Evolution weltbürgerlicher Normen. Dem gegenüber steht das im Grundsatz nach wie vor chancenreiche Programm einer rechtlichen Verfassung der Weltgemeinschaft.

Völkerrecht ohne Krieg

Dieses Programm kann und muss sich an der zumal in letzter Zeit immer häufiger zitierten Schrift "Zum ewigen Frieden" orientieren, die Kant 1795 anlässlich des preußischen Rückzugs aus dem Koalitionskrieg gegen das revolutionäre Frankreich verfasst hatte. Die Schrift erschien 1796, in einer Zeit, als absehbar wurde, dass sich mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht durch das revolutionäre Frankreich die Periode der gehegten Kabinettskriege ihrem Ende zuneigte. Die moralische Intuition, die Kant beim Gedanken eines rechtlich verfassten weltbürgerlichen Zustandes vorschwebt, besteht letztlich in der Überzeugung, dass das Führen von Kriegen mit Menschenrecht und Menschenwürde unvereinbar ist, da ein Staat - so Kant -, der seine Bürger "zum Töten oder um getötet zu werden in Sold nimmt", diese Menschen zu "bloßen Maschinen" erniedrigt. Ein Völkerrecht ohne Krieg als Konfliktregulationsmechanismus zielt dann darauf, analog zum innerstaatlichen Friedensgebot und Gewaltmonopol einen Rechtszustand zwischen den Völkerrechtssubjekten, in aller Regel Staaten, zu schaffen, so dass auch zwischen Staaten kein Hobbesianischer Naturzustand herrscht: "Es soll", so zitiert Habermas Kant, "kein Krieg sein, weder der, welcher zwischen mir und dir im Naturzustand, noch zwischen uns als Staaten (besteht), die obzwar innerlich im gesetzlichen, doch äußerlich (im Verhältnis gegen einander) im gesetzlosen Zustand sind."

Freilich übergeht Habermas in seiner grundsätzlichen Übernahme des Kantischen Programms, das er im Folgenden in zentralen Hinsichten kritisch modifizieren wird, ein gewichtiges Problem, das ihm Vertreter des "liberalen Ethos" beziehungsweise die Ideologen des Amerikanismus heute nicht ganz zu Unrecht vorhalten könnten - den Umstand nämlich, dass ja tatsächlich Regime wie etwa das des nationalsozialistischen Deutschland oder jenes der Roten Khmer nicht anders denn durch Waffengewalt gestürzt werden konnten. Ein wenig zu salopp räumt Habermas in einem der in dem Band wiedergegebenen Interviews zu Europa ein, dass es "ganz ohne militärische Anstrengungen nicht gehen" werde. Dem völkerrechtlich noch nicht legitimierten Krieg der NATO gegen Miloševic´s Serbien hatte Habermas selbst die Weihen eines Vorgriffs auf einen noch herzustellenden Rechtszustand gegeben, diese vom Völkerrecht nicht gedeckte Aggression mithin als "Polizeiaktion" weltinnenpolitischer Art eingestuft. Es kann bei der Berufung auf Kant also nicht um eine radikalpazifistische Position gehen.

Eine weitere Schwachstelle in der Auseinandersetzung mit den radikalen Ideologen des liberalen Weltethos tut sich auch bei der Kantexegese auf: Kant hält das Söldnertum für menschenunwürdig - mehr scheint die Schrift zum "Ewigen Frieden" in dieser Hinsicht zunächst nicht herzugeben. Damit gewinnt man in der gegenwärtigen Situation, die im Westen durch den Aufbau global einsetzbarer Berufsarmeen und gleichzeitiges Outsourcing militärischer Aufgaben an private Kriegsunternehmer gekennzeichnet ist, zwar ein starkes politisches Argument, aber noch kein pazifistisches Prinzip. Wäre Kant auch gegen eine allgemeine Wehrpflicht, eine "levée en masse" zur Verteidigung (und Verbreitung) von Rechtsverhältnissen gewesen? Wenn sich dieses Problem auflösen ließe, wäre dem von der Bush-Administration usurpierten liberalen Ethos, das die wechselseitige Verschränkung von Macht und Recht auf Weltebene rückgängig machen möchte, leichter beizukommen.

In seinem Bemühen, das Kantische Projekt wieder in Bewegung zu setzen, übergeht Habermas dieses Problem und kritisiert den relativen Fundamentalismus sowie die Inkonsistenz Kants, der zwar einerseits einen Bund republikanischer Staaten vorschlägt, aber letztlich doch an der Vorstellung "einer vollständigen Konstitutionalisierung des Völkerrechts in Gestalt einer Weltrepublik" festhält. Außenpolitischer Realismus wie die Erfahrungen mit dem auch politisch geformten Eigensinn staatlich verfasster Kulturen, die etwa die Romantik artikuliert hat, belegen jedoch, dass die Idee eines ungeteilten weltbürgerlichen Souveräns kein vernünftiges Ziel sein kann. Eine politisch befriedete Welt kann letztlich nur aus untereinander in Rechtsverhältnissen stehenden - im Sinne des gesetzgebenden Volkswillens - souveränen Staaten bestehen. So sehr nun - dafür sprechen einzelne Entwicklungen etwa in der EU - überstaatliche Rechtsgebilde mindestens indirekt an die demokratischsouveräne Willensbildung gekoppelt sind, so wenig lässt sich eine Gesamtheit von Staaten als ein "souveränes Volk" von Staaten modellieren. Welche Form soll dann aber im Idealfall die "Verfassung" der Staatenwelt annehmen?

Jürgen Habermas hat als Theoretiker innerstaatlicher Demokratie im Anschluss an Ingeborg Maus immer wieder dem erstmals von Rousseau aufgestellten Prinzip eines voraussetzungslosen demokratischen Souveräns den Vorzug gegeben und das Hobbes und Locke folgende, auf dem Naturrecht und einem strategisch klugen System von geteilten Gewalten basierende Modell mit dem Hinweis abgelehnt, dass diese geteilten Gewalten vom demokratischen Souverän zwar vorgefunden werden, ihm aber nicht entspringen und damit seiner Kompetenz widersprechen. Die vom Liberalismus beanspruchte naturrechtliche Basis ist einem nachmetaphysischen Denken nicht mehr nachvollziehbar; ein nur vorgefundenes System der Gewaltenteilung erweist sich zudem als undurchschauter feudal-ständischer Restbestand. Auf Weltebene jedoch kann das liberale System der checks and balances - befreit man es von seinem naturrechtlichen Überhang und betrachtet es allein in kluger Verfolgung eigener Interessen - ein erstaunliches Problemlösungspotenzial aufweisen. Es geht also auf der Weltebene nicht um einen demokratischen Bundesstaat im Großformat, sondern um ein Mehrebenensystem, das zwischen supra-, trans- und immanent nationalen Rechtsräumen mit unterschiedlichen Kompetenzen und Verbindlichkeiten unterscheidet. Die Idee einer supranationalen Verfassung im Rahmen eines weltbürgerlichen Zustandes von Völker- und Bürgerrechten steht somit jenem Weg der Verrechtlichung gegenüber, den die ständischen Parlamente Alteuropas gegangen sind, nämlich den Weg der "Domestikation der Gewalt durch die institutionelle Aufteilung und verfahrensförmige Regulierung bestehender Machtverhältnisse". Die globale Verrechtlichung beschränkt sich für Habermas freilich auf einen eng gezogenen Rahmen zum Schutz einiger weniger, aber zentraler Rechtsgüter: den Schutz der Menschenrechte und das Verbot militärischer Angriffshandlungen - Rechtsgüter, die schließlich den Maßstab einer Rechtsprechung internationaler Gerichte erzeugen können.

Diese Perspektive scheint dem "liberalen Ethos" in zweierlei Hinsicht überlegen zu sein: Zum einen genügt sie den tief sitzenden moralischen Intuitionen des (auch) im Westen entstandenen und dort explizit ausformulierten Universalismus, zum anderen kann sie in konsistenter Weise als schlüssige und graduelle Fortsetzung einer wenn auch immer wieder unterbrochenen, aber doch in der Richtung eindeutigen Entwicklung des Völkerrechts auftreten. Sie ist dem "liberalen Ethos" zudem insofern überlegen, als sie die Übernahme universalistischer Rechts- und Moralvorstellungen realistischerweise an die Zustimmung und Einbeziehung von Personen aus anderen kulturellen Kontexten bindet und nicht strategisch widersinnig auf deren gewaltsame Implementation setzt. In letzter Instanz - aber das sind Fragen, die liberale Denker gar nicht interessieren - gilt auch grundlagentheoretisch, dass ohne eine "Einbeziehung des Anderen" schon die Idee von Recht und Moral nicht vernünftig und konsistent zu denken ist. Das liberale Denken hingegen ist, sowohl in seinen wiederum liberalen wie auch autoritären Spielarten, seit Hobbes vom Phänomen der Macht gebannt und interessiert sich daher weit weniger für interne Legitimität und Akzeptanz als für externe Zumutbarkeit. Dieser Kampf der Ideen ist jedoch nicht nur ein Kampf der Ideen, sondern, wie Habermas überzeugend zeigen kann, realer und gewichtiger Bestandteil der Evolution des Völkerrechts selbst.

In diesem Prozess sind wir als Bürgerinnen und Bürger demokratisch verfasster Mitgliedsstaaten der UNO wie als Intellektuelle, die an einer noch schwach entwickelten globalen Öffentlichkeit mitwirken, beteiligt, womit dieser weitgehend naturwüchsig verlaufende Prozess in einem gewissen Ausmaß beeinflussbar ist. Dabei ist es dann allerdings alles andere als gleichgültig, welches Bild man sich vom Prozess der Globalisierung macht, genauer, welches theoretische - stets auch normativ geladene - Modell man den vielfältigen und überdeterminierten Zusammenhängen der Phänomene unterlegt. Habermas entnimmt der sozialwissenschaftlichen Debatte neben dem von ihm präferierten Kantischen Projekt vier weitere Modelle: Da ist zum Ersten das Projekt des von der Bush-Administration unter Bruch des Völkerrechts betriebenen "hegemonialen Liberalismus", das letztlich auf eine Vielzahl formal unabhängiger, intern liberal verfasster Nationalstaaten unter - im besten Fall - wohlwollender Hegemonie der USA zielt.

Das zweite Modell, jenes einer weitgehend entstaatlichten neoliberalen Weltmarktgesellschaft, in der die Staaten zu einem marginalen Funktionssystem unter anderen werden, scheint derzeit empirisch widerlegt. Ähnliches gilt für das dritte, diesem korrespondierende postmarxistische Projekt eines politisch dezentrierten Kapitalismus, dem eine amorphe Protestgröße, die "Multitude", wie Antonio Negri und Michael Hardt das nennen, gegenübersteht - ein Modell, das weder die Entwicklungen des Völkerrechts sinnvoll nachvollziehen kann noch gar empirisch überprüfbar ist. So bleibt das "beängstigende [...] anti-Kantische Projekt von Großraumordnungen, die ihre inkommensurablen Lebensformen polemisch gegeneinander behaupten" - eine Perspektive, die sich theoretisch auf Oswald Spengler, Samuel Huntington, aber letztendlich auf Carl Schmitt bezieht, dessen Blick auf die Welt heute nach Habermas einen "fatalen Zeitgeistappeal" gewinnen könnte. Demnach geht es um eine "völkerrechtliche Großraumordnung, die das Prinzip der Nichtintervention auf die Einflusssphären von Großmächten überträgt, die ihre Kultur und Lebensform gegeneinander und erforderlichenfalls mit militärischer Gewalt behaupten." Habermas warnt vor diesem auf den ersten Blick realitätsgemäßen Bild, das einen "nicht ganz unwahrscheinlichen Gegenentwurf zur unipolaren Weltordnung des hegemonialen Liberalismus" darstellen und damit auch für eine verbliebene Linke interessant werden könnte. Dieser Entwurf sei abzulehnen, weil er gegenüber den normativen Grundelementen der westlichen Moderne wie Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung "vollständig blind" sei.

Mit dieser Warnung bricht Habermas‘ Gedankengang mehr oder minder unvermittelt ab, ohne dass weitere entscheidende Fragen noch zur Sprache kämen. Dabei geht es weniger um den üblichen Einwand, dass ein so hochherziges Modell wie das Kantische nicht umsetzbar sei - gegen diesen möglichen Einwand konnte er genügend auch empirisch gestützte Evidenz aus der Geschichte des internationalen Rechts und der internationalen Beziehungen mobilisieren. Unklar bleibt gleichwohl, ob sich das Modell des hegemonialen Liberalismus und ein erneuertes Großraumdenken in der (verschwiegenen) Tradition Carl Schmitts wirklich widersprechen. In der kleinen Münze des politischen Betriebs geht es ja um kaum mehr als um unterschiedliche Fraktionen in der gegenwärtigen US-Administration, um die Reibereien zwischen Konservativen und Neokonservativen, die Spannungen von folgenorientierten Realisten im Stil von Colin Powell und Ideologen wie Paul Wolfowitz. Ein nüchterner Blick könnte demgegenüber erweisen, dass es sich bei diesen ideologischen Ausrichtungen um fluide und funktionale Dispositive einer Großmachtpolitik handelt, die je nach Lage vom einen Programm auf das andere umstellen kann.

Nicht zuletzt stellt sich dann aber die allenfalls in Interviews gestellte und beantwortete Frage nach der Rolle Europas, dessen Entwicklung zu einem wie auch immer stärker munitionierten internationalen Akteur Habermas ja ausdrücklich befürwortet - einschließlich "militärischer Anstrengungen". Die zukünftige europäische Verfassung, genauer der derzeit vorliegende Entwurf derselben sieht bekanntlich vor, was noch keine Verfassung in der Geschichte der Staaten - seien sie wie auch immer konstituiert - aufwies, eine Selbstverpflichtung zur Aufrüstung - und das ohne jede Erwähnung von Abrüstung oder Rüstungskontrolle. Hier ist zu fragen: Welche Funktion hat das Militär - in diesem Fall Europas - im Prozess einer Kantischen Konstitutionalisierung? Soll es sich um die Bereitschaft einer Polizei im weltinnenpolitischen, supranationalen Bereich der Wahrnehmung und des Schutzes von Menschenrechten und entsprechenden legitimen Interventionen handeln? Oder um Streitkräfte, die das unbestreitbar legitime Recht der Selbstverteidigung staatlicher Gesellschaften wahrnehmen?

Die Erfahrungen des Einsatzes von Militär im Bereich des hegemonialen Liberalismus - also im Irak - sprechen für sich. Doch hat sich auch der nur vermeintlich legitimere westliche Kolonialismus der vom Sicherheitsrat bestimmten Protektorate - etwa in Afghanistan oder im Kosovo - gleichermaßen als nicht erfolgreich erwiesen. Zudem verschwimmen beim Einsatz derartiger Streitkräfte die Grenzen zwischen Polizei und Militär, zwischen Deutschland und Europa, zwischen Europa und einer beliebig geographisch bestimmten Welt. Wenn der deutsche "Verteidigungs"minister Struck feststellt, dass Deutschland am Hindukusch verteidigt wird und der Minister des Inneren Putativerschießungen vermeintlicher Terroristen ebenso erwägt wie zeitlich unbestimmte und ohne Straftaten begangene Sicherungsverwahrungen, dann erweist sich, dass auch eine vergleichsweise gefestigte Demokratie wie die Bundesrepublik Deutschland vor den ersten Anwandlungen in Richtung Maßnahmestaat und Ausnahmezustand nicht gefeit ist.

Es wäre indes ein Fehler, dies nur den Dampfplaudereien schwadronierender Bundesminister zuzurechnen - diesen Äußerungen liegt die Realität zugrunde, dass eine trennscharfe Differenz zwischen Schmittschem Großraum und einem dem Kantischen Projekt zustrebenden Verbund demokratischer Republiken aus systematischen Gründen nicht zu ziehen ist. Selbstbehauptung und Selbstbestimmung sind - jedenfalls im Modell des europäischen Subjekts, sei es nun ein Individuum oder eine Organisation - nicht voneinander zu trennen. So sehr nun die "Selbstbestimmung" isoliert vorgenommen werden kann, so wenig gilt dies von der "Selbstbehauptung". Auf die innere Dialektik dieser Subjektivität haben Jacques Derrida und zuletzt Giorgio Agamben immer eindringlicher hingewiesen. Will man indessen dem Kantischen Projekt wirklich treu bleiben und nimmt man dessen Abneigung gegen stehende Heere und Kriege nicht nur als Protest gegen die Armeen des Absolutismus, so kann daraus keine andere Konsequenz folgen als die, nach anderen Wegen der Selbstbehauptung als nach militärischen zu suchen. Diese Versuche, lange Zeit als "Scheckbuchdiplomatie" oder jüngst von amerikanischen und auch deutschen Neokonservativen als "Verschweizerung" verhöhnt, hatten doch so viel Wahrheit in sich, dass sie eine andere Form der Konfliktregelung vorsahen. Ein sich aufrüstendes Europa wird indes - ob es will oder nicht - zu einem jener "westlichen" Großräume werden, denen Habermas so misstraut.

In seinem 75. Jahr ist sich Habermas als jener Intellektuelle treu geblieben, der eine Verwestlichung im besten Sinne angestrebt und immer wieder konstruktiv zu begründen versucht hat - auch wenn das heute einen schmerzlichen Abschied nicht nur von der Bush-Regierung, sondern in gewisser Weise doch auch von den USA bedeutet. Es könnte indes sein, dass im Zeitalter der sich vollendenden Weltgesellschaft vom "westlichen" Intellektuellen nicht nur Konstruktion oder Rekonstruktion, sondern vor allem die Dekonstruktion einer Selbstbehauptungsfigur, die in das westliche Subjektverständnis unaufhebbar eingelassen ist, zu fordern wäre. Auch dort, wo sie sich bereits weitestgehend in Kommunikations- und Intersubjektivitätskontexte dezentriert hat. Für den Rest, den real existierenden europäischen Staatenverbund, sorgen schon die Staatsmänner und -frauen.

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