Ausgabe September 2008

Krieg von der Stange

Feldmarschall Montgomery hat die ersten drei Grundregeln der Kriegführung einmal folgendermaßen definiert: Erstens „Russland nicht angreifen!“, zweitens „Russland nicht angreifen!“ und drittens: dito. In einer aktuellen Fußnote wäre anzumerken, dass die strittigen Teile Georgiens – Südossetien und Abchasien – zwar heute nicht zu Russland gehören, aber gestern dazu gehörten und es morgen wahrscheinlich wieder tun werden, oder übermorgen. Die meisten, die heute dort wohnen, haben russische Pässe, und in beiden Gebieten stehen russische Truppen.

Eine vierte Regel könnte so lauten: „Lass dich von niemandem verleiten, Russland anzugreifen.“ Leute, die den georgischen Präsidenten Micheil Saakaschwili in Schutz nehmen, behaupten, die Russen hätten ihre Antwort auf den georgischen Einmarsch in Südossetien lange bevor dieser am 8. August tatsächlich stattfand, vorbereitet, Saakaschwili aber getäuscht. Sie hätten ihn zu der Annahme verleitet, ein Versuch, die umstrittenen Gebiete gewaltsam einzunehmen, würde keine entsprechende Reaktion auslösen. Die „New York Times“ hingegen zitiert einen „hochrangigen amerikanischen Regierungsvertreter“ mit den Worten: „Es sieht nicht so aus, als wäre dies alles im Voraus geplant gewesen. Bis zum Vorabend der Kampfhandlungen schien Russland eine konstruktive Rolle zu spielen.“

Die russische Variante auf das Verrats-Thema lautet, dass Saakaschwili „von Dick Cheney (dem US-Vizepräsidenten) dazu getrieben wurde, diesen Krieg zu beginnen, als Wahlkampfunterstützung für John McCain. Irgendein Krieg ist die einzige Chance McCains zu gewinnen.“

So sieht Sergej Markow, der Direktor des Moskauer Instituts für Politikstudien, die Dinge, und seine Auffassung wird in Russland zweifellos weithin geteilt. Sie ist zumindest logisch. Wenn es sich tatsächlich so verhält, hieße das, Cheney wäre wegen Amtsvergehens unter Anklage zu stellen. (Das ist allerdings früher auch schon vergeblich gefordert worden.) Cheney selbst hat auf den russischen Gegenangriff absolut präsidial reagiert: Der russische Angriff, erklärte er, „darf nicht unbeantwortet bleiben“, und er werde, falls fortgesetzt, ernste Konsequenzen für die russisch-amerikanischen Beziehungen haben. Damit war gleichzeitig alles und nichts gesagt.

Die fünfte Regel würde zur Vorsicht raten: „Lass dir von deinen Freunden in Washington, die für Demokratieförderungs-Institute oder neokonservative Denkfabriken arbeiten oder wichtige Zeitungskolumnisten oder Fernsehkommentatoren sind, keinesfalls einreden, wenn du Russland angreifst, würden die Vereinigten Staaten und die NATO kommen, um dich zu retten.“

Eine sechste Verhaltensregel, die Regel Fünf erklärt, wäre demnach die Mahnung zu politischem Realismus. Henry Kissinger hat sie wie folgt definiert: „Großmächte begehen für Verbündete keinen Selbstmord.“ Schon gar nicht für kleine, unwichtige Bündnispartner.

In all den Kommentaren, die ich zu diesem kleinen, aber wichtigen Krieg gelesen habe, finde ich nicht den geringsten Hinweis, warum weder Georgien noch die Ukraine nicht in die NATO aufgenommen werden sollten.

Keine Sache der NATO

In beiden Ländern waren ready-made wars – Kriege sozusagen von der Stange – absehbar, und von der NATO kann und sollte nicht erwartet werden, dass sie mit diesen Konflikten fertig wird. In beiden Fällen handelt es sich um ethnisch und kulturell gespaltene Nationen, deren ganze Geschichte der Kampf zwischen ihren Bestandteilen oder innerhalb derselben durchzieht.

In Georgien spielt sich dieser Kampf zwischen den nicht georgisch-sprachigen Enklaven, die früher russisch waren und es wieder werden wollen, und der Mehrheit der Georgier ab, die zum Westen gehören wollen, aber auch entschlossen sind, sich die abtrünnigen Gebiete zu unterwerfen. Wären letztere bereit, in Frieden auf diese Gebiete zu verzichten, so könnte ein dann ethnisch und kulturell einiges Georgien mit gutem Recht seine Aufnahme in die NATO verlangen.

Aber wie die Dinge heute liegen (oder bis vor wenigen Wochen lagen), wünscht Micheil Saakaschwili die NATO-Mitgliedschaft seines Landes, um sich vor den Folgen des Versuchs zu schützen, die abtrünnigen Gebiete gewaltsam unter georgischer Herrschaft zu halten. Das kann nicht Sache der NATO sein. Und da Russland die rebellischen Enklaven unterstützt, impliziert Georgiens Aufnahme in die NATO Krieg mit Russland. Wie wir soeben sehen konnten.

In der Ukraine liegt das Problem im Gegensatz zwischen einer kulturell und historisch russisch-orthodox geprägten, russischsprachigen Landeshälfte und der anderen, verwestlichten und griechisch-katholischen Hälfte, die sich Polen und Litauen verbunden fühlt. Die westorientierte Ukraine möchte die NATO für den Versuch benutzen, die russische Ukraine unter ihre Vorherrschaft zu bringen. Auch dies impliziert Krieg. Aus einem Konflikt, bei dem es sich um ein ungelöstes und möglicherweise unlösbares internes Problem der Ukraine handelt, hat sich die NATO unbedingt herauszuhalten. Die Allianz kann von Glück reden, dass Deutschland und Frankreich im Frühjahr eine offizielle Einladung Georgiens in die NATO blockiert haben. Hätten sie dies nicht getan, befände die Allianz sich heute in einer Situation, in der sie entweder Russland Krieg angedroht oder Artikel Fünf des NATO-Vertrages diskreditiert hätte, der jedem ihrer Mitglieder im Angriffsfalle militärische Unterstützung garantiert.

Der präsidiale Obama

Regel Sieben, ebenfalls dem politischen Realismus verpflichtet, lautet demnach: „Hantiere nicht mit Garantien oder mit Drohungen, die du nicht wahrmachen kannst.“ John McCain hat erklärt, „Russland sollte seine Militäroperationen unverzüglich und bedingungslos einstellen sowie alle Truppen vom Territorium des souveränen Georgien zurückziehen.“ Das ist die Sprache der Ultimaten. Doch wäre McCain heute Präsident, was hätte er wohl getan, wenn Russland sich widersetzte?

Barack Obama erklärte: „Es ist an der Zeit, dass Georgien und Russland Zurückhaltung üben und die Eskalation zu einem ausgewachsenen Krieg vermeiden.“ Im Lager McCains nannte man diese Stellungnahme „schwächlich“, doch eben so spricht ein Präsident. Die Erklärung besagt, was beide Seiten tun sollten, ohne die USA auf irgendetwas festzulegen, was sie unabhängig vom Fortgang der Dinge tun müssten. Sie hielt den Vereinigten Staaten die Hände frei.

© 2008 Tribune Media Service

 

 

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