
Bild: Stiftung Haus der Geschichte; EB-Nr. 2012/07/0029
Der NSU-Prozess ist beendet. Beate Zschäpe und ihre Unterstützer wurden schuldig gesprochen. Aber ist die Mordserie der Rechtsterroristen damit auch restlos aufgeklärt? Das bezweifelt der Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler, der im Prozess die Nebenklage vertrat.
„Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Daran arbeiten alle zuständigen Behörden in Bund und Ländern mit Hochdruck.“ Es war eine beeindruckende Ansprache, die Angela Merkel am 23. Februar 2012 vor den und für die Angehörigen jener Menschen hielt, deren Liebste – Väter, Ehemänner, Lebensgefährten, Söhne, Töchter, Brüder – mutmaßlich von NSU-Mördern aus dem Leben gerissen wurden. Nur wenige Wochen zuvor war bekannt geworden, dass die neun migrantischen Kleinunternehmer nicht Opfer einer lediglich in den Köpfen von Polizeibeamten existierenden „Türkenmafia“, sondern Opfer von deutschen Rassisten geworden waren. Die Polizistin Michèle Kiesewetter fiel nicht „Zigeunern“ oder „Negern“ zum Opfer, wie in Polizeiakten spekuliert wurde, sondern Deutschen aus dem Osten unseres Landes. Ja, unsere Bundeskanzlerin hielt eine beeindruckende Rede voller Mitgefühl und Anteilnahme. Jeder, der diese Rede hörte, fasste – wieder – Vertrauen, nicht nur in die Regierungschefin, sondern insgesamt in Deutschland. Merkels Worte waren klar und das Versprechen der Aufklärung eindeutig.
Was aber ist aus diesem Versprechen geworden? Jetzt, mehr als sechs Jahre später, da das Urteil im NSU-Prozess gesprochen wurde? Das Versprechen wurde zwar gegeben, aber eingehalten wurde es nicht.[1] Denn die Morde wurden nicht lückenlos aufgeklärt und die Helfershelfer und Hintermänner des NSU laufen noch immer frei herum. Die „zuständigen Behörden in Bund und Ländern“ haben nicht mit „Hochdruck“ an der Aufklärung gearbeitet. Manche Behörden haben stattdessen schamlos das Gegenteil praktiziert: Akten vernichtet, Aussagegenehmigungen verweigert und Zeugen nicht benannt. Schon frühzeitig erklärte die Generalbundesanwaltschaft den NSU-Komplex für „ausermittelt“. Doch diese Feststellung wurde bereits in den ersten Tagen des Prozesses eindrucksvoll als das entlarvt, was sie ist: lediglich eine kühne Behauptung. So berichtete der Angeklagte Carsten S. in seiner Einlassung von einem dritten Bombenanschlag des NSU, von dem bis dahin niemand gewusst hatte. Eine von einem Türken geführte Gaststätte in Nürnberg war das Ziel des sogenannten Taschenlampenanschlages geworden. Hätte Carsten S. geschwiegen – noch immer würde die Staatsanwaltschaft Nürnberg den türkischstämmigen Angestellten, der die Bombe gefunden hatte und dabei verletzt worden war, der Tat verdächtigen.
Niemand war so naiv zu glauben, dass dieses Verfahren alle Fragen beantworten würde oder dass gar am Ende die Wahrheit und nichts als die Wahrheit ans Tageslicht käme. Nicht nach all den Jahren, die vergangen sind, und nicht nach all den Akten, die zum Verschwinden gebracht wurden. Wahrheit ist ein mächtiges Wort, offenbar zu mächtig für das NSU-Verfahren. Alle Nebenkläger – wie meine Mandantschaft – erwarteten aber zu Recht, dass der im Gerichtssaal versammelte Staat in Form dieses Strafsenats und in Form der Generalbundesanwaltschaft alles tun würde, um sich der Wahrheit wenigstens anzunähern. Es musste darum gehen, der Wahrheit so nahe wie möglich zu kommen, so dass am Ende die Opfer des NSU das Gefühl bekommen hätten: Der Staat, nein, unserStaat, hat alles gegeben, er hat es versucht, so gut es eben geht.
»Der Staat schuf jene Zustände, welche die Morde begünstigten.«
Es macht für alle Betroffenen einen Unterschied wie zwischen Himmel und Erde, ob der Staat aufrichtig nach der Wahrheit geforscht hat und gescheitert ist – oder ob er scheiterte, ohne sich auch nur bemüht zu haben, oder gar scheitern wollte. Manche mögen argumentieren, dass dies spitzfindig sei, dass es am Ende egal sei, warum der Staat gescheitert ist. Aber das stimmt nicht. Für viele Opferangehörige hängt von dieser Unterscheidung die Frage ab, ob sie in der Nacht Schlaf finden oder nicht, ob sie diesem Land Vertrauen schenken können oder nicht, ob sie im Leben Frieden finden oder nicht. Dieser Friede bleibt ihnen bislang verwehrt. Dies gilt umso mehr, weil der Staat jene Zustände schuf, welche die Morde begünstigten. Er pumpte über Jahrzehnte Millionen Mark und Euro über seine V-Leute in die Neonazi-Szene. Er hielt über führende Neonazis wie Timo Brandt vom „Thüringer Heimatschutz“ eine schützende Hand und bewahrte sie vor Strafverfolgung.[2] Es war dieser Staat, der die Mordserie in ihren Anfängen nicht gestoppt hatte, weil er mit einer rassistischen Brille deutsche Tatverdächtige ignorierte und migrantische Opfer kriminalisierte. Es war dieser Staat, der nach der Selbstenttarnung des NSU eben nicht alles in seiner Macht Stehende getan hatte, um aufzuklären.
Unter diesen Umständen haben die Nebenkläger und wir als deren Anwälte erwartet, dass dieser Senat das gesamte Tatgeschehen, inklusive der staatlichen Rolle, zur Sprache bringt und aufklärt. Das aber hat er nicht getan. Neonazis traten im Dutzend an und logen erkennbar von der ersten bis zur letzten Minute. Konsequenzen hatte dies für niemanden. Der Zusammenhalt in der Neonaziszene funktioniert offenbar. Man spricht miteinander, man chattet in WhatsApp-Gruppen und auf Facebook-Listen. Die ersten Neonazizeugen konnten der Szene stolz berichten, wie sie einen Staatsschutzsenat an einem Oberlandesgericht ganz offen an der Nase herumführen durften, ohne dass Ordnungsmittel verhängt worden wären. Von diesem Gericht hatte niemand etwas zu befürchten. Es überrascht dann auch nicht, dass die Auftritte dieses im Kern feigen Haufens immer dreister wurden. Der ohrenbetäubende Jubel der Neonazis im Gerichtssaal, als das milde Urteil von zweieinhalb Jahren gegen André Eminger verkündet wurde, bildete da nur den traurigen Höhepunkt. Eminger war der engste Unterstützer von Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt während ihrer Zeit im Untergrund gewesen.
Die Versäumnisse des Senats gingen jedoch weiter. Zahlreiche Beweisanträge der Nebenklage lehnte das Gericht ab. Zeugen wurden nicht geladen, Akten nicht beigezogen, und das immer wieder. Das Resultat dieser Vermeidungsstrategie wirft einen tiefen Schatten auf dieses Verfahren. So konnte nicht geklärt werden, welches Ausmaß der NSU wirklich hat. Wie groß ist das Neonazinetzwerk? Welche Rolle spielten Verfassungsschutzbehörden beim Aufbau der Neonaziszene? Was wussten V-Leute und in der Folge die Verfassungsschutzbehörden über den Verbleib und das Handeln des Trios und seiner Unterstützer – wenn es denn bloß Unterstützer waren? Warum wurden deutschlandweit Akten zerstört? Wie konnte es passieren, dass unter den Augen des Staates eine kriminelle Neonaziszene entstand? Oder war dies zum Teil gerade deswegen möglich, weil es unter den Augen des Staates geschah?
Wenn der NSU wirklich „ausermittelt“ ist, wie es die Bundesanwaltschaft behauptet, warum wissen wir dann bis heute nicht, aus welchen Gründen die junge Polizeibeamtin Michèle Kiesewetter wirklich sterben musste? Wer hat die Bombe in dem Lebensmittelgeschäft einer iranischstämmigen Familie in der Kölner Probsteigasse deponiert? Die Personenbeschreibungen von zwei Zeugen passen weder auf Mundlos noch auf Böhnhardt. Was wussten die verschiedenen Verfassungsschutzbehörden? Die Neonaziszene in Thüringen war und ist durchsetzt von V-Männern. Und da will wirklich niemand mitbekommen haben, wo das Trio steckte und was es trieb? Was machte der Verfassungsschutzbeamte Andreas Temme am Tatort, als der junge Halit Yozgat in seinem Internetcafé ermordet wurde? Warum tauchte er unter, anstatt sich als Zeuge bei der Polizei zu melden? Wie kann es sein, dass Neonazis als Zeugen vor Gericht erscheinen und von Anwälten begleitet werden, die vom Verfassungsschutz „empfohlen“ und bezahlt werden? Wie ist es möglich, dass die Forderung der Nebenklage, solche Anwälte zu entlassen und anderen, tatsächlich für den Mandanten arbeitenden Rechtsbeistand beizuordnen, von der Bundesanwaltschaft abgelehnt wird? Und zwar mit der Begründung, es sei alles in bester Ordnung? Sehen so die deutschen Behörden aus, die im Merkelschen Sinne „mit Hochdruck“ an der Aufklärung arbeiten? Das sind alles noch immer offene Fragen, die nicht nur die unmittelbar Betroffenen interessieren sollten, sondern Fragen, die uns alle angehen.
»Der Hass auf Muslime schlummert nicht nur in den kalten Herzen der Neonazis, sondern ist auch in der Mitte der Gesellschaft zu finden.«
Erst neulich habe ich mir die Rede unserer Bundeskanzlerin noch einmal angeschaut. Dabei sind mir Dinge aufgefallen, die ich damals nicht bemerkt habe. Genauer gesagt: Nicht das, was sie sagte, fiel mir auf, sondern das, was fehlte. Zwar erwähnte sie, dass die meisten Opfer aus der Türkei stammen. Sie sagte aber nicht, dass die meisten Opfer Türken und Muslime waren. Theo Boulgarides, eines der neun migrantischen Opfer des NSU, musste vermutlich sterben, weil die Täter ihn für türkischstämmig hielten. Wieso sagte die Bundeskanzlerin nicht klipp und klar, dass neun Menschen ihr Leben verloren, weil manche in Deutschland einen Hass auf Muslime und Türken haben? Es wurden keine Italiener oder Spanier umgebracht, sondern Türken. Viele Migranten leben in Deutschland, aber wir Türken sind zumeist auch Muslime. Das unterscheidet uns. Sprach Merkel nicht über diesen Umstand, weil sie Sorge hatte, sich eingestehen zu müssen, dass der Hass gegen Muslime und Türken nicht geringer, sondern in den letzten Jahren sogar größer geworden ist? Dass dieser Hass nicht nur in den kalten Herzen von Neonazis schlummert, sondern mitunter auch tief in der Mitte unserer Gesellschaft zu finden ist? Jeder Neonazi ist islamophob, antisemitisch und rassistisch, aber nicht jeder Rassist, Antisemit und Muslimhasser ist ein Nazi. Wir machen es uns zu einfach, wenn wir mit Abscheu über Neonazis sprechen, dabei aber über Thilo Sarrazin und gesellschaftlich akzeptiertes rassistisches Denken, für den dieser Name dank seiner brandstiftenden Bücher steht, schweigen wollen.
Nein, es reicht nicht aus, über Neonazis zu sprechen. Wir müssen auch über uns sprechen, über die Art und Weise, wie wir über andere Menschen reden und urteilen. Wir müssen über unseren Rassismus, über unseren Antisemitismus, über unseren Sexismus und über unsere Homophobie sprechen, die sich in unserem Denken eingenistet haben und unser Handeln bestimmen und die wir als ganz „normal“ empfinden.
In Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“ heißt es am Schluss: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“ Ja, der Vorhang im NSU-Verfahren ist gefallen. Aber die Suche nach Antworten wird weitergehen. Die juristische Aufklärung des NSU-Komplexes endete nicht im Saal 100 am Oberlandesgericht München: Wir werden mittels einer Staatshaftungsklage weiter nach Antworten suchen, wenn nötig bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Der NSU-Komplex hatte unsere Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttert, zumindest für einige kurze Tage im Herbst des Jahres 2011. Würde, Freiheit, Gleichheit – es waren auch die fundamentalen Werte unseres Landes, die von den Kugeln des NSU durchlöchert wurden. Wir alle sind aufgerufen, diese Werte zu verteidigen, jeden Tag, im Kleinen wie im Großen.
Daher mein Appell: Übernehmen wir Verantwortung! Für uns, für unser Land, für unseren Staat und seine Organe, auch für deren Fehler und Unzulänglichkeiten. Dazu gehört auch, nicht so zu tun, als sei der NSU Geschichte, als wären alle Rätsel gelöst und alle Fragen beantwortet, denn davon kann wahrlich keine Rede sein. Vor allem aber: Als sei der Hass auf das Andere und vermeintlich Fremde nur unter Neonazis zu finden und auch ausschließlich dort zu bekämpfen.
Deswegen dürfen wir uns nicht mit den juristischen Bemühungen begnügen. Entscheidend ist das gesellschaftliche Beharren auf Antworten. Wir Bürger sind nicht so machtlos, wie wir uns es manchmal selbst einreden. Wir können Justiz und Politik Fragen stellen, auf Ungereimtheiten aufmerksam machen, Strafanzeigen gegen Bekannt oder Unbekannt erstatten und somit verhindern, dass Aktendeckel voreilig geschlossen werden. Wir können alleine arbeiten oder uns in Initiativen zusammentun.
Und wir haben Vorbilder: Genannt sei die Oury-Jalloh-Initiative aus Dessau, die sich beharrlich geweigert hat, die polizeiliche Erzählung zu glauben, der gefesselte Jalloh habe sich 2005 selbst in einer Polizeizelle angezündet. Der Unermüdlichkeit dieser Menschen ist es zu verdanken, dass jetzt, 13 Jahre nach seinem Tod, die Staatsanwaltschaft von einer möglichen Tat Dritter spricht – wobei nach Lage der Dinge dafür nur Polizisten in Frage kommen.
Im NSU-Komplex haben sich Initiativen wie NSU Watch gebildet. Ich empfinde allergrößten Respekt vor den Menschen, die sich dort engagieren. Sie haben bereits jetzt viel für Aufklärung und Transparenz geleistet. Die Dinge können besser werden, aber sie werden es nicht von selbst. Unsere Demokratie ist zu verletzlich, um sie Politikern alleine zu überlassen. Unser Rechtsstaat ist zu kostbar, um seinen Schutz alleine Juristen und Polizeibeamten anzuvertrauen.