Der Balkan und die Krisen der EU
Der Balkan ist zurück in der europäischen Debatte. Nachdem sich Frankreichs Präsident Emmanuel Macron im Oktober erst gegen Beitrittsgespräche mit Nordmazedonien und Albanien wandte, legte er Anfang November nach: Er stellte die Erweiterung der EU um die seit Jahren beitrittswilligen Westbalkanstaaten grundlegend in Frage und bezeichnete Bosnien-Herzegowina als tickende „Zeitbombe“.[1] Er sprach damit von einem Land, das seit 1995 mit einer Übergangslösung mehr schlecht als recht lebt: Es ist eher ein Protektorat als ein Staat. Der von der UNO eingesetzte Hohe Repräsentant hat ein Veto-Recht und kann Gesetze kassieren oder erlassen. Alle drei Ethnien – Bosniaken, Serben, Kroaten – haben Schulbücher mit sich widersprechenden Geschichtsdeutungen und blockieren sich mit ihrer Kompromissunfähigkeit gegenseitig.
Die Kontroverse um Macrons Äußerungen verweist auf ein bekanntes Problem: In einer neuralgischen Übergangsregion wie dem Balkan, die im Visier verschiedener Mächte liegt, ist die Einheit oft nur von kurzer Dauer. Als Ganzes war die Balkanhalbinsel zuletzt im Römischen Reich vereint. Nach der Reichsteilung von 395, der Geburtsstunde von Byzanz, entstanden sukzessive Grenzen, die unterschiedliche Machthaber, darunter die Osmanen, wieder vor- und zurücksteckten.