Zum Tod von Bettina Gaus
Es gibt kaum jemanden, der so schonungslos – auch über eigene Irrtümer –, so klug, so distanziert, so resigniert politische Verhältnisse beschrieben hat und über eigene Enttäuschungen, die Enttäuschungen seiner ganzen Generation, schreibt wie Norman Birnbaum, der große alte Vordenker der Linken in den USA. Und zugleich gibt es kaum einen Mann seines Alters – er wird am 21. Juli dieses Jahres 90 Jahre –, der so lebendig und so neugierig das Weltgeschehen betrachtet wie er.“ Das schrieb Bettina Gaus in der Juli-Ausgabe des Jahres 2016 über unseren langjährigen „Blätter“-Mitherausgeber, um mit den Worten zu enden: „Und so jemand ist noch immer neugierig auf die nächsten Wahlen, glaubt noch immer daran, dass sie etwas im positiven Sinne verändern können? Ein stärkeres Plädoyer für demokratische Partizipation kann es nicht geben. Ach, und so wäre man gerne selber, wenn man dieses Alter je erreichen sollte.“
Welch ahnungsvolle Worte! Denn tatsächlich hat Bettina Gaus dieses Alter nicht erreicht. Geboren im Gründungsjahr der „Blätter“ 1956 starb sie viel zu früh, am 27. Oktober 2021, kurz vor ihrem 65. Geburtstag am 5. Dezember. Um so dankbarer sind wir, dass die scharfsinnige Publizistin und langjährige „taz“-Kolumnistin die „Blätter“ über all die Jahre mit ihren Texten begleitet hat – auch als die Zeitschrift ihres Vaters, des großen Journalisten Günter Gaus, von 1990 bis zu seinem Tod 2004 selbst Mitherausgeber der „Blätter“.
Es begann mit ihrer Zeit in Afrika, als Bettina Gaus in den 1980er und 90er Jahren erst für die „Deutsche Welle“ und dann für die „taz“ arbeitete. So berichtete sie u.a. vom Bürgerkrieg in Somalia, dem Sturz der Militärdiktatur in Äthiopien und dem Völkermord in Ruanda. In ihren „Frontberichten“, so der Titel ihres späteren Buches über „Die Macht der Medien in Zeiten des Krieges“ (2004), berichtete sie einerseits ganz nah an den Geschehnissen in den Kriegs- und Krisengebieten und doch andererseits stets mit dem distanzierten Blick der klugen Analytikerin. In ihrem Text „Somalia: Operation Hoffnung?“ schrieb sie etwa in den Juli-„Blättern“ von 1993: „Gewehre und schwere Militärfahrzeuge in somalischer Hand sind rund ein halbes Jahr nach Ankunft der ersten internationalen Truppen in Somalia aus dem Straßenbild der meisten Städte des Landes verschwunden. Die Hungersnot, die bis zu 1,5 Millionen Menschen mit dem Tod bedroht hatte, ist erfolgreich bekämpft worden. Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes, das im letzten Jahr mit rund 170 000 Tonnen Nahrungsmittelhilfe den weitaus größten Teil der Unterstützung für die notleidende Bevölkerung ins Land gebracht hatte, hat die meisten seiner ursprünglich mehr als 900 Garküchen im ganzen Land geschlossen. Seine Mitarbeiter können es wieder wagen, Trockenrationen an Bedürftige zu verteilen, ohne befürchten zu müssen, dass Plünderer für einen Sack Reis morden. In einigen Orten hat sich die Lage so entspannt, daß Nothilfe gar nicht mehr gebraucht wird.“
Von Afrika nach Bonn
Dann der große Sprung von Afrika zurück nach Europa, ins beschauliche Bonn, wo sie als neue Büroleiterin der „taz“ aus dem Zentrum der deutschen Politik kommentierte. Die „Blätter“-Leserinnen und Leser hielt sie über das „Gedrängel in der neuen Mitte“ – die gab es auch schon damals – auf dem Laufenden, und auch das ganz im stets pointierten Bettina-Gaus-Stil: „Richtig lustig ist der Wahlkampf bisher. Wer Spaß an Klatsch, flotten Sprüchen und Anekdoten mit bösartiger Pointe hat, der kommt auf seine Kosten. Ob CDU-Generalsekretär Peter Hintze an den Tankstellen nicht mit einem Wahlplakat gegen bündnisgrüne Benzinpreisvorstellungen landen kann, die die Urheber selbst dann gar nicht mehr vertreten mögen, ob sein FDP-Kollege Guido Westerwelle Bundeskanzler Helmut Kohl den schnellstmöglichen Rückzug aus dem Amt empfiehlt, aber dennoch mit ihm weiter koalieren möchte, oder ob der neue Regierungssprecher Otto Hauser die Grundzüge seines Jobs vor laufenden Kameras erlernt – das alles hat einen ziemlich hohen Unterhaltungswert.“ („Blätter“, 7/1998). Man blickt fast wehmütig zurück in diese Zeit, nicht nur, weil Peter Hintze und Guido Westerwelle längst dem Krebs erlegen sind, sondern weil diese Zeit noch für eine ganz andere Leichtigkeit der Politik stand, für die Bettina Gaus bei aller Ernsthaftigkeit stets auch ein Sensorium hatte.
Als »taz«-Korrespondentin in Berlin
Nach dem Umzug von Parlament und Regierung von Bonn nach Berlin berichtete sie, nun als „taz“-Korrespondentin, über den „Fall Kohl“ und das „Bermudadreieck Kanzleramt“. Auch hier stets scharf und pointiert, aber vor allem immer auch mit dem Blick für die langen Linien und das große Ganze: „Helmut Kohl hat die CDU 25 Jahre lang geführt und geprägt, und er war 16 Jahre lang Regierungschef der Bundesrepublik. Er wäre selbst dann der Hauptverantwortliche für den Spendenskandal seiner Partei, wenn er persönlich nie einen Geldschein in die Hand genommen hätte. Aber dennoch war und ist er kein finsterer Gangster, der sich in der Maske des Biedermannes in einen geordneten politischen Apparat eingeschlichen hat, dessen andere Mitglieder die Regeln und Gesetze stets strikt befolgen. Der Finanzskandal der CDU, der sich in seinem ganzen Ausmaß noch immer nicht überblicken läßt, hat viel mit den Rahmenbedingungen zu tun, unter denen in Deutschland Politik gemacht wird, und ganz besonders viel mit Auswüchsen des Parteienstaates.“ („Blätter“, 8/2000)
Professionelle Distanz zu Rot-Grün
Genauso professionell und unparteiisch betrachtete Bettina Gaus, bei aller grundsätzlichen Zustimmung zu Rot-Grün, auch die Regierung Schröder-Fischer. „Ein Projekt ist das nicht“, urteilte sie denkbar illusionslos in einem großen „Blätter“-Gespräch nach der Wiederwahl 2002: „Den Begriff des Projekts halte ich für problematisch. Vor vier Jahren gab es noch eine große Anzahl Wähler im linken Spektrum, die argumentierten, für diese Koalition haben wir 20 Jahre gekämpft, jetzt verwirklicht sich etwas, was uns einmal als Projekt vorgeschwebt hat. Diesmal haben in diesem Spektrum sehr viele Leute mit zusammengebissenen Zähnen gesagt: Na gut, dann halt nochmal. Das Wort Projekt mag keiner von ihnen mehr in den Mund nehmen. Es ist daher sicherlich kein Zufall, wenn ausgerechnet jetzt ein Pragmatiker wie Franz Müntefering sogar von einer rot-grünen Epoche spricht. Wenn solche Leute plötzlich zu ganz großen Worten greifen, kann man davon ausgehen, dass die Zeit der Visionen endgültig vorbei ist. Ich glaube, wir fahren gut damit, einfach zu sagen, wir haben eine rot-grüne Regierung.“ („Blätter“, 11/2002). Wie heute ihre Einschätzung der Ampel ausfiele, so sie denn kommt, können wir uns leider nur noch denken.
Ebenso kritisch wie scharfsinnig analysierte sie auch den neuesten Strukturwandel der Öffentlichkeit. In ihrer brillanten Rede zur Jubiläumsfeier der „Blätter“ im Jahr 2006 („50 Jahre Blätter: Der Beliebigkeit zum Trotz“) sezierte sie den „Bedeutungszuwachs der elektronischen Privatmedien und die Konzentrationsprozesse der letzten Jahre, die gigantische Medienkonzerne haben entstehen lassen“, aber vor allem die „revolutionäre Erfindung“ des Internets und der neuen „sozialen“ Medien, welche „all diejenigen, denen der kritische öffentliche Diskurs am Herzen liegt, vor völlig neue Herausforderungen“ stelle.
Neue Öffentlichkeiten und ...
„Das Internet hat die Zugangsmöglichkeiten zu Informationen aller Art demokratisiert – einerseits. Andererseits hat es die Kanalisierung von Diskussionen erschwert. Von zahlreichen, detaillierten Informationen über selbst das ausgefallenste Spezialinteresse ist niemand mehr weiter als zwei oder drei Mausklicks entfernt. Das ist wunderbar, im Sinne der Aufklärung: Zensur und andere Formen der Unterdrückung missliebiger Meinungen sind erheblich schwieriger geworden als früher. Aber es ist auch entsetzlich, im Sinne der Aufklärung: Es gibt keinerlei Notwendigkeit mehr, sich mit Thesen, Meinungen oder auch nur Informationen auseinanderzusetzen, die einen nicht so brennend interessieren oder die einem nicht passen.“
Genau das aber war stets das Kernanliegen der mutigen, stets auch unbequemen Publizistin Gaus – mit offenem Visier in die Auseinandersetzung gerade mit Andersdenkenden zu gehen, um dem besseren Argument zur Durchsetzung zu verhelfen, ganz ohne Ansehen der Person. Vor diesem Hintergrund fast schon legendär sind ihre scharfen Debatten mit dem konservativen Schlachtross der FAZ auf dem Feld der Außenpolitik, Karl Feldmeyer, im ARD-„Presseclub“ der alten Bonner Zeit – gerade die Unterschiedlichkeit der Positionen kennzeichnete die eine, gemeinsame Öffentlichkeit.
Dagegen Gaus‘ lakonischer Befund schon 2006: „Die Öffentlichkeit im herkömmlichen Sinne ist zersplittert in viele kleine Teilöffentlichkeiten“, und das markiert einen Gegensatz zum alten analogen Zeitalter: „Die Gesellschaft mochte noch so gespalten sein, verschiedene Positionen noch so weit voneinander entfernt liegen: Die politisch Interessierten schöpften aus denselben Quellen und wussten wenigstens, welche Informationen sie bei ihrem Gegenüber voraussetzen konnten. Das ist für jeden Dialog hilfreich.“
... der Journalismus der Zukunft
Soweit Bettina Gaus‘ Analyse. Doch welche Schlussfolgerung zog sie daraus für den Journalismus der Zukunft? „Das Internet kann vieles anbieten, was keine personell und materiell noch so gut ausgestattete Redaktion anzubieten vermag. Etwas aber kann es nicht: Orientierungshilfe liefern. Diese klassische Aufgabe der Medien wird immer wichtiger, je unübersichtlicher die Flut von Informationen wird und je schwerer ihr Wahrheitsgehalt zu überprüfen ist. In dieser Hinsicht leistet gerade eine Monatspublikation wie die ‚Blätter für deutsche und internationale Politik‘ Unschätzbares.“
Dieses große Lob bedeutet für uns, die Redaktion der „Blätter“, gleichermaßen Vermächtnis wie Verpflichtung, „beständig kritisch – und offen“ zu sein, wie Bettina Gaus Norman Birnbaum charakterisierte. Und wie es auch auf sie zutraf: Immer offen für die kritische Auseinandersetzung und das bessere Argument, ohne sich der Oberflächlichkeit des informationellen Content-Zeitalters zu unterwerfen – der grassierenden „Beliebigkeit zum Trotz“.