
Bild: Menschen stehen vor einer zerstörten Moschee nach einem israelischen Luftangriff in der Stadt Chan Junis im südlichen Gazastreifen, 8.10.2023 (IMAGO / Xinhua / Yasser Qudih)
Auch fünf Wochen nach Kriegsbeginn gibt es noch keinen konkreten Plan, wie eine Zukunft für Gaza – vor allem für die Menschen dort – aussehen könnte. Dabei müssten jetzt dringend Vorbereitungen für den Tag danach getroffen werden. Auch Deutschland sollte mithelfen, den Menschen in Gaza eine Perspektive zu eröffnen, die ihre Rechte wahrt und gleichzeitig den Schutz Israels sicherstellt.
Als direkte Reaktion auf die Massenmorde der Hamas und weiterer militanter Organisationen aus dem Gazastreifen am 7. Oktober 2023 erklärte Israel den Kriegszustand und verhängte eine völlige Abriegelung des Gazastreifens. Seither führt die israelische Armee massive Luftschläge durch und operiert mittlerweile auch mit Bodentruppen im nördlichen Teil des Gazastreifens. Das Ziel sei es, so Premierminister Benjamin Netanjahu, Vergeltung zu üben, die Hamas im Gazastreifen zu zerschlagen und die Geiseln zu befreien.
Verteidigungsminister Yoav Gallant kündigte am 20. Oktober an, dass die israelische Militäroperation gegen die Hamas Monate dauern könnte – und damit eine Verlängerung des Albtraums, den die Zivilbevölkerung in Gaza schon jetzt durchleiden muss. Nach der militärischen Mission müsse ein „neues Sicherheitsregime im Gazastreifen etabliert werden“ und „Israels Verantwortung für das alltägliche Leben enden“. Doch wie das konkret aussehen würde, wer dann den Küstenstreifen regieren und wer für Sicherheit sorgen soll, erläuterte Gallant nicht.
Dabei lassen sich derzeit grundsätzlich fünf unterschiedliche Szenarien für den Gazastreifen vorstellen: eine noch weiter verschärfte Blockade, die Vertreibung der Bevölkerung, eine dauerhafte militärische Präsenz israelischer Truppen, eine internationale Präsenz und Verwaltung sowie eine Öffnung im Rahmen einer Verhandlungsregelung. Dabei schließen sich nicht alle Szenarien gegenseitig aus; sie könnten sich durchaus überschneiden oder aufeinanderfolgen.[1]
Verschärfte Blockade
Das erste Szenario könnte eine zumindest teilweise Rückkehr zum Status quo vor dem Krieg bedeuten, allerdings mit einer noch deutlich stärker gesicherten Grenze zu Israel, einer vergrößerten Sperrzone innerhalb Gazas und einer Perpetuierung der kompletten Abriegelung, wie sie am 8. Oktober durch Israel verhängt wurde. Dieses Szenario könnte das Ergebnis des Eingeständnisses sein, dass sich die Hamas trotz weit überlegener israelischer Feuerkraft militärisch nicht endgültig besiegen lässt. Denn selbst wenn große Teile ihrer militärischen Infrastruktur zerstört werden, würden ihre religiösen und sozialen Einrichtungen und ihre Führungsstrukturen im Ausland fortbestehen. Zudem ist sie in Teilen der Gesellschaft tief verwurzelt. Hinzu kommt: die israelische Militäroperation dürfte militanten Gruppen neuen Zulauf verschaffen.
In diesem Szenario würde Israel mit einer geschwächten Hamas im Gazastreifen leben müssen, aber keine indirekten Absprachen treffen können wie in den letzten Jahren. Es würde seine militärische und geheimdienstliche Kontrolle zu Land, Wasser und zur Luft weiter verstärken, die Grenzübergänge permanent schließen und die Sperrzonen erweitern. Dort wären dann keine Importe und Exporte, kein Übergang für Arbeitskräfte nach Israel, keine medizinischen Überweisungen ins Westjordanland oder nach Israel mehr möglich. Israel würde auch seine Strom- und Trinkwasserlieferungen dauerhaft einstellen, so dass die Versorgung weitgehend über Ägypten sichergestellt werden müsste.
Ein Wiederaufbau des weitgehend zerstörten Gazastreifens und vor allem seiner Hauptstadt, sowie eine wirtschaftliche Erholung wären unter den Bedingungen einer vollständigen Abriegelung seitens Israel ausgeschlossen. Die Menschen im Gazastreifen wären damit völlig von humanitärer Hilfe abhängig. Das Leiden der Bevölkerung wäre gegenüber dem Zustand der letzten Jahre[2] noch verschärft und ein beträchtlicher Teil bliebe permanent intern vertrieben. Israel würde versuchen, die Verantwortung für die Versorgung der Bevölkerung an Ägypten und die internationale Gemeinschaft abzuwälzen. Gaza wäre vom Westjordanland abgetrennt; eine Zweistaatenlösung wäre so unmöglich.
Eine neue »Nakba«
Ein noch düstereres Szenario beinhaltet die dauerhafte Vertreibung von Hunderttausenden im oder aus dem Gazastreifen. Palästinenserinnen und Palästinenser befürchten eine neue „Nakba“ (arabisch für Katastrophe). So werden die Flucht und Vertreibung der palästinensischen Zivilbevölkerung im Zusammenhang mit der israelischen Staatsgründung und dem israelisch-arabischen Krieg von 1948 genannt.
Auf eine dauerhafte Vertreibung von großen Teilen der Bevölkerung scheint Israels Aufforderung vom 13. Oktober zur Evakuierung des nördlichen Gazastreifens hinzudeuten, die ohne Befristung und Rückkehrgarantie erfolgte. Die Vereinten Nationen gehen mittlerweile von 1,6 Millionen Binnenflüchtlingen aus, die im südlichen Gazastreifen bei Freunden und Verwandten, in neu errichteten Zeltstädten, in UNRWA-Schulen oder unter freiem Himmel ausharren.
Die Ängste vor permanenter Vertreibung werden auch durch entsprechende Forderungen seitens der israelischen Rechten genährt. Der israelische Landwirtschaftsminister und frühere Chef des Inlandsgeheimdienstes Avi Dichter etwa beschrieb im israelischen Fernsehen das Vorgehen der Armee und bemerkte dann, dies „werde in einer Art Nakba enden“. Ein internes Papier des Ministeriums für die Koordinierung der Nachrichtendienste empfiehlt die „Evakuierung der Zivilbevölkerung aus dem Gazastreifen in den Sinai“ als eine mögliche Option, die „positive, langfristige strategische Vorteile für Israel bringen würde“.[3] Premierminister Netanjahu wurde anscheinend in Brüssel vorstellig, um die Europäer dazu zu bewegen, Druck auf Ägypten zur Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Gazastreifen zu machen.
Arabische Staaten haben klargemacht, dass sie nicht bereit sind, erneut palästinensische Flüchtlinge aufzunehmen und einer Vertreibung Vorschub zu leisten. Allerdings könnte es zu einem Massenansturm auf den Grenzübergang Rafah kommen, wenn sich die humanitäre Situation im Gazastreifen weiter zuspitzt. Ägypten dürfte es dann schwerfallen, seine Grenze weiter abgeriegelt zu halten. Dann könnten Flüchtlingslager im Sinai entstehen und sich schnell neue Fluchtrouten nach Europa etablieren. Der Gazastreifen wäre teilweise entvölkert und die Zukunft der verbliebenen Bevölkerung ungewiss.
Eine langfristige israelische Militärpräsenz
Ein drittes Szenario könnte eine dauerhafte (bzw. langfristige) israelische Militärpräsenz beinhalten. Die Aussagen von Ministerpräsident Netanjahu sind in diesem Punkt widersprüchlich. In einem Interview mit dem US-Sender ABC sagte er am 7. November, Israel werde für unbestimmte Zeit die Sicherheitsverantwortung in Gaza übernehmen. Zwei Tage später äußerte er bei Fox News, Israel wolle Gaza weder dauerhaft besetzen noch regieren. Dennoch scheint eine langfristige, direkte militärische Kontrolle immer mehr zu einer realistischen Option zu werden, da die israelische Regierung keinem anderen Akteur vertraut, dauerhaft Sicherheit zu gewährleisten.
Selbst wenn Netanjahus rechte Koalitionspartner auch die Rückkehr der Siedler in den Gazastreifen befürworten, scheint dies eher unwahrscheinlich. Denn es würde die Kosten Israels deutlich erhöhen und internationale Kritik auf sich ziehen. Ohnehin würden die israelischen Truppen in einer feindlichen Bevölkerung operieren. Stabilität verspricht dieses Szenario nicht.
Internationale Truppen
Dieses Szenario würde den Einsatz einer robusten internationalen Truppe umfassen, um eine umfassende Entwaffnung und Sicherheit und die Unterstellung des Gazastreifens unter eine internationale Übergangsverwaltung zu gewährleisten.
Als Grundlage bedürfte es dafür einer Resolution des UN-Sicherheitsrates nach Kapitel 7. Eine solche scheint aber in absehbarer Zeit angesichts der Blockade zwischen den USA auf der einen sowie Russland und China auf der anderen Seite ausgeschlossen. Auch hat die internationale Bereitschaft, robuste Peacekeeping-Missionen zu entsenden, in den letzten Jahren deutlich nachgelassen.
Verhandelte Öffnung und Übergabe in einem politischen Prozess
Schließlich bliebe das Szenario einer kontrollierten Öffnung des Gazastreifens im Rahmen eines internationalen Arrangements und als Vorstufe einer Verhandlungsregelung. In diesem Szenario müsste es regionale Sicherheitsgarantien und eine internationale Präsenz unter der Führung der USA ähnlich der Multinational Force and Observers (MFO) im Sinai geben. Dabei könnten neben den USA insbesondere Israels Nachbarn Ägypten und Jordanien, aber auch Katar und Saudi-Arabien sowie diejenigen Staaten, die im Rahmen der Abraham-Abkommen ihre Beziehungen zu Israel normalisiert haben, Verantwortung übernehmen.
Ägypten müsste effektiv den Schmuggel von Rüstungsgütern durch die verbliebenen Tunnel unter der Grenze unterbinden. Katar und Ägypten könnten auf die militanten Gruppen einwirken, um ein Exil für verbliebene Führungspersonen oder Kämpfer zu vereinbaren. Dadurch könnte ein weitgehend freier Personen- und Warenverkehr gewährleistet und damit auch der Wiederaufbau und eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung ermöglicht werden.
Völkerrechtlich gehören der Gazastreifen als auch Ost-Jerusalem zum Gebiet des „Staates Palästina“, wie der Internationale Strafgerichtshof im Februar 2021 bekräftigt hat. Entsprechend müsste im Rahmen dieses Szenarios die Verwaltung auf die entsprechend befähigte Palästinensische Autonomiebehörde übergehen.
Tatsächlich haben Ministerpräsident Stayyeh und Präsident Abbas bereits deutlich gemacht, dass die Übernahme von Verantwortung durch die Autonomiebehörde nur im Rahmen einer politischen Regelung denkbar wäre. Eine solche Selbstregierung bedürfte allerdings einer neuen demokratischen Legitimation durch die Bevölkerung in Gazastreifen und Westjordanland.
Das bisherige Sicherheitsregime beruhte allein auf militärischen Ansätzen. Diese konnten jedoch den verheerenden Angriff vom 7. Oktober nicht verhindern. Eine neue Regelung muss daher auf einem politisch verhandelten Arrangement aufbauen.
Um Sicherheit zu gewährleisten, könnte auch auf Vorschläge und Mechanismen der Vergangenheit aufgebaut werden, etwa die EU-Grenzmission EUBAM Rafah. Die wurde 2005 geschaffen, um den Waren- und Personenverkehr in Rafah zu überwachen. Obwohl seit 2006 ausgesetzt, ist die mit über zwei Millionen Euro jährlich ausgestatte Mission noch immer im „Stand-By“ und könnte erneut eine Rolle spielen. Und anstelle der bisher von der israelischen Marine immer wieder auch mit Beschuss auf Fischerboote durchgesetzten Seeblockade könnte eine internationale Kontrolle treten, wie sie bereits die UNIFIL-Maritime Task Force nur 200 Kilometer weiter nördlich durchführt.
Derzeit sieht es so aus, als ob im Rahmen der israelischen Militäroperation Elemente umgesetzt werden, die zu den Szenarien 1-3 führen. Doch diese drei Szenarien sind grob völkerrechtswidrig und bieten weder Entwicklungsperspektiven für die Bevölkerung Gazas, noch versprechen sie nachhaltige Sicherheit für Israel.
Was kann Deutschland tun?
Angesicht dieser düsteren Aussicht wäre es umso wichtiger, dass sich die Bundesregierung und ihre Partner in der EU rasch abstimmen, wie sie einen effektiven Schutz der Zivilbevölkerung im Gazastreifen erreichen, weitere Zerstörungen vermeiden und zur Realisierung konstruktiver Zukunftsszenarien beitragen können. Sonst könnte ihre „unbedingte“ Solidarität mit Israel von der rechtsreligiösen Regierung nicht nur als Freibrief verstanden werden, den Krieg auf unbestimmte Zeit weiterzuführen, sondern auch die Zukunft des Gazastreifens eigenmächtig zu gestalten.
Das vierte und fünfte Szenario könnten neue Perspektiven für den Gazastreifen bieten, wobei nur das fünfte eine Chance auf Realisierung hat. Kernbestandteil wäre ein neues Sicherheitsregime, das sich sowohl am langfristigen und effektiven Schutz der israelischen Bevölkerung vor Angriffen als auch an der Verwirklichung der Rechte und Entwicklungsmöglichkeiten der Bevölkerung in Gaza orientiert. Das kann nur im Rahmen eines verhandelten Arrangements und eines regional und international abgestimmten und unterstützten Übergangsregimes gewährleistet werden.
Der Schock über die Gräueltaten des 7. Oktober und die Konfliktdynamiken, die derzeit eine regionale militärische Eskalation befürchten lassen, sollten der internationalen Gemeinschaft als Weckruf dienen. Es muss jetzt darum gehen, Kräfte zu bündeln, um ein langfristig tragfähiges Arrangement für Gaza zu finden. Wenn es gelingt, nach dem Inferno einen Übergangsprozess für Gaza in Gang zu setzen, wäre das auch ein wichtiger Baustein, um eine bitterlich notwendige Perspektive für eine Regelung des israelisch-palästinensischen Konfliktes und eine friedliche jüdisch-arabische Koexistenz auf dem gesamten Territorium von Israel und Palästina zu schaffen.
[1] Die Diskussion der Szenarien beruht auf einer früheren Fassung, die Muriel Asseburg und René Wildangel Anfang November auf zeit.de veröffentlicht haben.
[2] Vgl. René Wildangel, Zwischen Elend und Explosion: Die schwelende Krise im Gazastreifen, in: „Blätter“, 10/2023, S. 111-116.
[3] Intelligence Ministry, Options for a policy regarding Gaza´s civilian population, 13.10.2023, scribd.com.