Ausgabe Dezember 2023

Gegen Politikverdrossenheit: Löst die Alltagsprobleme!

Eine sanierungsbedüftige Schule in Erfurt (IMAGO / Steve Bauerschmidt)

Bild: Eine sanierungsbedüftige Schule in Erfurt (IMAGO / Steve Bauerschmidt)

Nach jedem Wahlerfolg der AfD zeigen sich Politiker der demokratischen Parteien betroffen. Doch anstatt die Sorgen der Bevölkerung ernst zu nehmen, bleiben viele strukturelle Probleme ungelöst. Damit aber befeuert die Politik die wachsende Politikverdrossenheit und spielt letztlich den Rechtsextremen in die Hände, kritisiert die Ökonomin und Familienwissenschaftlerin Uta Meier-Gräwe.

Die Unzufriedenheit mit der Bundesregierung erreicht immer neue Rekordstände und schlug sich bei den jüngsten Landtagswahlen in Hessen und Bayern in massiven Verlusten vor allem bei SPD und FDP nieder. Die AfD profitierte und stellt nun erstmals auch in einem westdeutschen Landtag die zweitstärkste Fraktion. Dabei stieg der Anteil jener, die die Partei aus Überzeugung und nicht aus Protest wählen.[1] Dass es sich bei ihnen keineswegs nur um Menschen in armen und prekären Lebenslagen handelt, belegt auch die neue Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung überaus eindrücklich. Es handelt sich um eine repräsentative Befragung der erwachsenen deutschen Bevölkerung. Die Autor:innen der Studie kommen zu dem alarmierenden Ergebnis, dass extrem rechte Narrative über multiple Krisen, vermeintliche Erklärungen und vereinfachende Lösungen immer weiter in die Mitte der Gesellschaft vordringen, die Abgrenzung nach rechts durchlässiger wird und der Graubereich der Antworten mit einer teilweisen Zustimmung zu antidemokratischen Einstellungen weiter wächst. Die Mitte der Gesellschaft distanziere sich in Teilen von der Demokratie, so der Befund. Die Forscher:innen beobachten zudem, dass Rechtsextreme, Reichsbürger und Querdenker inzwischen in Elternvertretungen von Schulen und Kindergärten, in Sportvereinen, Ehrenämtern, beispielsweise als Schöff:innen, aber auch in Feuerwehren oder im Natur- oder Katastrophenschutz aktiv sind und in ihren Kreisen für ein solches Engagement werben, um gegen die Demokratie und ihre Zivilgesellschaft mobilzumachen.[2] Der organisierte Rechtsextremismus habe sich „mit der Mitte vernetzt“ und ziehe nicht zuletzt aus dieser sozialräumlichen Verankerung Wählerstimmen.[3]

Die zunehmende Distanzierung von der Demokratie hat aber auch mit dem Gefühl der sozialen „Entsicherung“ zu tun, das inzwischen ebenso in Teilen der Mittelschicht angekommen ist. Der AfD bietet das ein Einfallstor, das sie mit ihrem völkisch-sozialen Zugriff weidlich ausnutzt. In die Hände spielen ihr dabei all jene, die nun mit einer verschärften Abschottungs- und Abschiebepolitik so tun, als seien damit die seit Jahren offenkundigen Missstände – wie steigende Mieten, zu wenig Wohnungen, fehlende Kitaplätze oder ein fehlender ländlicher Nahverkehr – zu lösen.

»Man muss sich nicht wundern, dass das Vertrauen in die Demokratie schwindet, wenn grundlegende Bedürfnisse ignoriert werden.«

Dadurch aber wird die wachsende Politikverdrossenheit nicht sinken, weil das grundlegende Problem nicht behoben wird: Wir brauchen ein Wirtschaftssystem, das menschliche Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellt – und das endlich Abschied nimmt vom FDP-Mantra der Unantastbarkeit der schwarzen Null. Und zwar in Zeiten, in denen allein Investitionen in marode Schulen und Infrastruktur die Aussichten auf eine lebenswerte Zukunft für die nachwachsenden Generationen sichern können. Stattdessen aber sorgen Politiker:innen auch aus dem demokratischen Parteienspektrum selbst für eine steigende Politikverdrossenheit: Als sich kürzlich die CSU-Kandidatin Andrea Behr während einer Wahlkampfveranstaltung in Würzburg zum Thema Kinderarmut äußerte, offenbarte sie eine unglaubliche Verachtung gegenüber Menschen in prekären Milieus und Lebenslagen. Sie meinte feststellen zu müssen, Kinder von Bürgergeldempfänger:innen „können doch zur Tafel gehen, wenn sie hungrig sind“. Auf diese Weise wird die soziale Spaltung in unserer Gesellschaft auch verbal weiter vertieft. In fataler Weise erinnert diese sprachliche Entgleisung an das der französischen Königin Marie Antoinette zugeschriebene Zitat, „Wenn sie kein Brot haben, sollen sie doch Kuchen essen“.

Ins gleiche Horn stößt in Österreich der konservative Bundeskanzler Karl Nehammer, indem er für arme Kinder einen Hamburger bei McDonald‘s als warme Mahlzeit für 1,40 Euro empfiehlt und damit deren Familien verhöhnt. Nicht weniger zynisch ist seine Behauptung, Teilzeitarbeit sei bei 25 Prozent der alleinerziehenden Mütter freiwillig, dann müsse man kurz- und langfristig eben mit weniger Einkommen leben. Solche abwertenden Meinungen sind durchaus auch in der deutschen Politik zu hören, obwohl alleinerziehende Mütter im Vergleich zu allen anderen am meisten arbeiten – bezahlt und unbezahlt. Und das selbstredend nicht aus freien Stücken, sondern weil Erwerbsarbeit und Familienarbeit noch immer nicht anders vereinbart werden können. Man muss sich nicht darüber wundern, dass das Vertrauen in die Demokratie schwindet, wenn grundlegende Bedürfnisse so offensichtlich ignoriert werden.

Bereits während der Coronapandemie gab es in der Bundesrepublik bei Müttern mit Kindern unter 15 Jahren einen massiven Einbruch bei den Zustimmungswerten zu politischen Institutionen und zur Bundespolitik.[4] Mütter wurden damals zwar als „Alltagsheldinnen“ in Sonntagsreden gelobt, ansonsten aber verfuhr man getreu dem Motto: Mutti wird‘s schon richten und die zusätzliche Care-Arbeit unbezahlt schultern. Und so ist es nach wie vor. Trotz des seit nunmehr zehn Jahren bestehenden Rechtsanspruchs auf einen Kitaplatz fehlen bundesweit noch immer fast 400 000 Plätze – und bestehende Kitas schließen wegen Personalmangels landauf, landab immer öfter schon mittags. Stillschweigend wird vorausgesetzt, dass Frauen ihrer „elterlichen Verantwortung“ nachkommen und ihre Jobs aufgeben bzw. in die kleine Teilzeit wechseln – und das in Zeiten eines akuten und in den kommenden Jahren weiter ansteigenden Fachkräftemangels, gerade auch in den zumeist von Frauen erlernten Berufen.[5] Längst nicht alle können das Back-up-System Großeltern aktivieren. Auch für Schulkinder sieht die Lage nicht besser aus. Vielerorts, vor allem im Westen Deutschlands, werden die wenigen Ganztagsplätze an Grundschulen inzwischen nach dem Lotterieprinzip vergeben, und ohne Ehrenamtliche würde der Schulbetrieb oftmals kollabieren.

»Vor allem im Westen Deutschlands werden die wenigen Ganztagsplätze an Grundschulen inzwischen nach dem Lotterieprinzip vergeben.«

Auch an anderer Stelle gibt es bei der Frage, wie Familien nachhaltig entlastet werden können, keine Fortschritte – anders als versprochen: So waren im Koalitionsvertrag staatliche Zuschüsse für alltagsentlastende haushaltsnahe Dienstleistungen zunächst für berufstätige Eltern, Alleinerziehende und pflegende Angehörige vereinbart. Arbeitsminister Hubertus Heil hatte deren Umsetzung Anfang 2022 bereits medienwirksam angekündigt. Davon ist inzwischen allerdings keine Rede mehr. Stattdessen melden nach wie vor nicht einmal zehn Prozent aller Haushalte, die eine Putz- oder Haushaltshilfe beschäftigen, diese auch an, obwohl Schwarzarbeit im Privathaushalt mehrheitlich als inakzeptabel gilt. Jüngst hat das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) in Köln im Zuge der Auswertung des aktuellen Sozio-oekonomischen Panels zudem zu Recht betont, dass Haushaltshilfen kein sozialer Luxus sind, sondern enorm wichtig, beispielsweise für pflegende Angehörige als der immer noch „wichtigsten Säule“ des Pflegesektors in Deutschland. Mehr als jeder dritte Privathaushalt mit einer pflegebedürftigen Person nimmt diese Alltagshilfen inzwischen auch in Anspruch, allerdings arbeiten die meisten von ihnen nach wie vor ohne soziale Absicherung und ohne Unfallversicherungsschutz. Deshalb, so das IW, müsse die Bundesregierung endlich mehr tun, um Haushaltshilfen aus der Schwarzarbeit zu holen. Das Institut plädiert, wie seit Jahren auch viele Frauen- und Wohlfahrtsverbände, Sachverständige sowie wissenschaftliche Einrichtungen wie das Kompetenzzentrum zur Professionalisierung und Qualitätssicherung haushaltsnaher Dienstleistungen an der Hochschule Fulda, für die Einführung eines einfachen Gutscheinmodells, wie es in Belgien, Frankreich, Finnland und Schweden längst praktiziert wird und nun als – bislang nicht umgesetztes – Vorhaben schon zum zweiten Mal in einem Koalitionsvertrag verankert ist.[6]

»Was sind das für unfassbare Zustände, wenn Schüler die Schultoiletten so eklig finden, dass sie weniger trinken, um da bloß nicht draufgehen zu müssen.«

Und schließlich werden bei einem weiteren Thema regelmäßig Krokodilstränen vergossen, aber es tut sich zu wenig: Seit dem Pisa-Schock im Jahr 2000 hat sich die Bildungsmisere hierzulande weiter verschärft. Bildungs- und Lebenschancen von Kindern hängen stärker als jemals zuvor vom Bildungsstand und dem sozioökonomischen Status ihrer Eltern ab – viele andere Länder bekommen das seit Jahren wesentlich besser hin. Es fehlen nicht nur gut ausgebildete Lehrer:innen, sondern auch Schulsozialarbeiter:innen und Verwaltungsangestellte, die die Lehrenden von administrativer Arbeit entlasten könnten – zugunsten stärkerer pädagogischer Hinwendung zu den Kindern. Und obwohl der Renteneintritt vieler Lehrer:innen lange absehbar war, haben die Bundesländer nicht etwa gemeinsam überlegt, wie sie den Fachkräfte-mangel beheben könnten, sondern sich stattdessen die zu wenigen Hochschulabsolvent:innen gegenseitig abgejagt.

Schließlich wird der miserable bauliche Zustand von schulischen Einrichtungen seit Jahren beklagt – und dennoch zu wenig investiert. Die Elektrik vieler Schulgebäude ist vielerorts sehr alt, was die geforderte Digitalisierung erheblich verzögert. Und was sind das für unfassbare Zustände, wenn landesweit Schüler:innen die Schultoiletten so eklig finden, dass viele weniger trinken, um da bloß nicht draufgehen zu müssen? Immerhin ist die Schultoilette der erste Ort in unserer Gesellschaft, an dem unsere Kinder unbeaufsichtigt von Erwachsenen mit öffentlichem Eigentum umgehen: So gesehen habe dieser Ort einen pädagogischen Wert für das Zusammenleben insgesamt, resümiert der Geschäftsführer der German Toilette Organization, Thilo Panzenbieter.[7] Mehr in deren Sauberkeit zu investieren, ist also ein Gebot der Stunde.

Hier zeigt sich erneut, wie relevant und überfällig ein Wirtschaftsmodell wäre, das grundlegende Bedürfnisse der Menschen ins Zentrum rückt. Was nützen großzügige Investitionen in Künstliche Intelligenz und Robotik, wenn Kinder nicht einmal ihre elementaren Bedürfnisse im Schulalltag befriedigen können?

Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze fordert daher massive Investitionen in den öffentlichen Sektor. Er bezeichnet den derzeitigen Zustand als „eine mutwillige Selbstverstümmelung“, die bei den Kitas anfange und bei den Unis aufhöre. Bildung werde hierzulande offenbar nicht mehr als strategischer Sektor betrachtet. Statt das produzierende Gewerbe weiter zu überhöhen und einseitig auf die Herstellung von Autos zu setzen, brauche es zehn Mrd. Euro für Schulen, die das Leben vieler Kinder und Familien verändern würden.[8]

»Wir brauchen eine wirkliche gesellschaftliche ›Zeitenwende‹, die nicht auf das Militärische begrenzt ist.«

Würde allein bei den genannten Beispielen endlich wie versprochen gehandelt, könnten die demokratischen Parteien viele Wahlberechtigte zurückgewinnen.

Lösungsvorschläge sind vorhanden. Nötig ist jedoch ein entsprechender politischer Wille anstelle des realitätsfremden Festhaltens an der Schuldenbremse. Nötig ist eine wirkliche gesellschaftliche „Zeitenwende“, die nicht auf das Militärische begrenzt ist: Angegangen werden müsste dringend die große soziale Ungerechtigkeit, „die so brutal ist wie noch nie und die immer weiter wächst. [...] Insgesamt müsste unsere Demokratie neu verhandelt und intensiv vermittelt werden“, so bringt es Michel Friedman auf den Punkt.[9]

Es steht viel auf dem Spiel, nicht zuletzt das gesamte System parlamentarischer Demokratie und der europäische Zusammenhalt. Doch noch ist es nicht zu spät, dies zu verteidigen.

[1] Vgl. Wer die AfD gewählt hat und warum – Analyse zur Landtagswahl, br.de, 11.10.2023.

[2] Andreas Zick, Beate Küpper und Nico Mokros, Die distanzierte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2022/23. Studie im Auftrag der FES, Bonn 2023.

[3] Vgl. Peter Reif-Spirek, Gefährdete Demokratie oder: Die langen Linien des Thüringer Faschismus, in: „Blätter“, 11/2023, S. 83-90.

[4] Sonja Bastin und Kai Unziker, Verlieren die Eltern ihr Vertrauen?, in: Caterina Bonora, Mara Kruse, Sylke Meyerhuber u.a. (Hg.), Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf die Corona-Pandemie, „IPW Working Paper“, 5/2022, S. 44 f.

[5] Vgl. dazu auch Maike Rademaker, Frauen in den Fokus: Der ungehobene Fachkräfteschatz, in: „Blätter“, 1/2023, S. 43-46.

[6] Dominik Enste und Christina Anger, Haushaltshilfen: Nur selten angemeldet, in: „IW-Kurzbericht“, 67/2023, Köln, 16.9.2023.

[7] Klo: Vier minus, in: „Der Spiegel“, 35/2023, 26.8.2023.

[8] Adam Tooze, Deutschland betreibt eine mutwillige Selbstverstümmelung, in: „Handelsblatt“, 4.9.2023.

[9] Michel Friedman: „Zu vielen fehlt die Leidenschaft für Demokratie“, in: „Frankfurter Rundschau“, 27.9.2023.

Aktuelle Ausgabe Oktober 2025

In der Oktober-Ausgabe wertet Seyla Benhabib das ungehemmte Agieren der israelischen Regierung in Gaza als Ausdruck einer neuen Ära der Straflosigkeit. Eva Illouz ergründet, warum ein Teil der progressiven Linken auf das Hamas-Massaker mit Gleichgültigkeit reagiert hat. Wolfgang Kraushaar analysiert, wie sich Gaza in eine derart mörderische Sackgasse verwandeln konnte und die Israelsolidarität hierzulande vielerorts ihren Kompass verloren hat. Anna Jikhareva erklärt, warum die Mehrheit der Ukrainer trotz dreieinhalb Jahren Vollinvasion nicht zur Kapitulation bereit ist. Jan Eijking fordert im 80. Jubiläumsjahr der Vereinten Nationen mutige Reformen zu deren Stärkung – gegen den drohenden Bedeutungsverlust. Bernd Greiner spürt den Ursprüngen des Trumpismus nach und warnt vor dessen Fortbestehen, auch ohne Trump. Andreas Fisahn sieht in den USA einen „Vampirkapitalismus“ heraufziehen. Und Johannes Geck zeigt, wie rechte und islamistische Rapper Menschenverachtung konsumierbar machen.

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