Ausgabe Juli 2023

Kein Frieden ohne Gerechtigkeit

Plädoyer für ein zukunftsfähiges Europa

Friedensnobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk in Oslo, 9.12.2022 (IMAGO / NTB / Hakon Mosvold Larsen)

Bild: Friedensnobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk in Oslo, 9.12.2022 (IMAGO / NTB / Hakon Mosvold Larsen)

Der verstärkte Beschuss ziviler Ziele durch die russische Armee lenkt den Blick erneut auf die zahlreichen Kriegsverbrechen der Besatzungstruppen in der Ukraine. Eine der wichtigsten Organisationen, die russische Kriegsverbrechen dokumentieren, ist das Center for Civil Liberties aus Kiew. Gegründet wurde die Menschenrechtsorganisation 2007, um die Demokratisierung des Landes voranzutreiben. Mit Beginn der russischen Invasion im Donbass und der Annexion der Krim 2014 begann sie zudem, politische Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten zu dokumentieren. Im vergangenen Herbst erhielt die Organisation rund um ihre Vorsitzende, die Juristin Oleksandra Matwijtschuk, den Friedensnobelpreis.

Am 9. Mai hielt Oleksandra Matwijtschuk die diesjährige „Rede an Europa“ auf dem Wiener Judenplatz. Das Format wurde vom Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen, der ERSTE Stiftung und den Wiener Festwochen ins Leben gerufen, um renommierten Intellektuellen die Möglichkeit zu bieten, einer breiten Öffentlichkeit originelle Denkanstöße zur Zukunft des europäischen Projekts zu geben. Die Übersetzung aus dem Englischen stammt von Katharina Hasewend.

Die Geschichte kann nur schwerlich idealisiert werden, wenn man sie kennt. Das 20. Jahrhundert brachte zwei verheerende Weltkriege, schreckliche Kolonialkriege, Millionen von Toten und eine totale Entmenschlichung hervor, die ihre konkreteste Form im Holocaust und den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten annahm. Diese schrecklichen Ereignisse machten entschlossenes Handeln nötig. Die Tatsache, dass man gewillt war, Verantwortung für die Vergangenheit zu übernehmen, kam im Mahnruf „Nie wieder!“ zum Ausdruck. Staats- und Regierungschefs schufen die Vereinten Nationen und unterzeichneten internationale Abkommen. Die Schuman-Erklärung markiert den Beginn des Projektes eines vereinten Europas. Getragen von der Auffassung, dass jeder Mensch frei und gleich an Würde und Rechten geboren ist, entstand in der Nachkriegszeit ein neuer Humanismus.

Aber das Böse lässt sich nicht für immer besiegen. Menschen müssen sich jeden Tag aufs Neue entscheiden. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte wurden nur in einem Teil Europas zur gelebten Praxis, und der totalitäre sowjetische Gulag wurde nie gerichtlich verurteilt. Und so kehrt das Böse immer wieder zurück: das Massaker von Srebrenica; die Zerstörung von Grosny, wo damals eine halbe Million Menschen lebte; die russische Bombardierung von Aleppo; die Brandbomben auf Mariupol; die Leichen der Ermordeten auf den Straßen von Butscha.

Wie können wir im 21. Jahrhundert Menschen, ihre Würde, ihre Rechte und ihre Freiheit verteidigen? Können wir uns auf das Recht stützen – oder werden Waffen das Einzige sein, was zählt?

Ich stelle diese Fragen nicht nur als Bürgerin eines Landes, das sich gegen eine militärische Aggression Russlands verteidigt. Ich stelle diese Fragen als Bürgerin Europas. Europa muss auf die Herausforderungen der heutigen Zeit reagieren. Europa muss seine Rolle in einer globalen Welt wahrnehmen, in der Autoritarismus und Demokratie, Interessen und Werte, Macht und Recht, schnelle Gewinne und langfristige Perspektiven gegeneinanderstehen. Es ist die Entschlossenheit zum Handeln, die eine Gesellschaft zukunftsfähig macht.

Das gelungene Europa...

Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl sollte nicht nur eine gemeinsame Grundlage für wirtschaftliche Entwicklung schaffen. Vielmehr vertieften die Bemühungen für ein gemeinsames europäisches Projekt die Solidarität zwischen Ländern, deren Beziehungen jahrhundertelang durch blutige Auseinandersetzungen belastet waren. Der Europäischen Union ist es gelungen, dieses Erbe zu überwinden und Frieden zwischen ihren Mitgliedsstaaten zu gewährleisten. Die kontinuierlichen Bemühungen der Regierungen um die Förderung von Demokratie, von Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte ermöglichten über Jahrzehnte hinweg ein stabiles Wachstum. Dies ist jenes Europa, dem es gelungen ist, kriegerische Auseinandersetzungen zu verhindern.

Dieses Europa befindet sich nach wie vor auf dem schwierigen Weg der Selbstfindung. Auch wenn es sich heute mit neu entdeckten guten Absichten schmückt, kommt es nicht umhin, das verheerende Erbe seiner kolonialen Vergangenheit anzuerkennen. Europa steht vor der Herausforderung, eine Einheit zu erzeugen, ohne auf Uniformität zu drängen; Integration zu gewährleisten, ohne Homogenität zu erzwingen. Es muss lernen, seine Vielfalt als Quelle der Solidarität zu nutzen. Es darf nicht zulassen, dass Autoritarismus und Imperialismus in seinen Gesellschaften Wurzeln schlagen.

Die Generation, die den Zweiten Weltkrieg erlebt hat, ist fast vollständig von uns gegangen. Die nachfolgenden Generationen sahen sich nicht gezwungen, ihr Blut zu vergießen. Sie haben die Werte der Demokratie von ihren Eltern übernommen. Und sie begannen, Rechte und Freiheiten als selbstverständlich zu betrachten. Zunehmend verhielten sie sich weniger als Träger dieser Werte denn als deren Konsumenten. Sie verstanden Freiheit immer öfter bloß als die Möglichkeit, im Supermarkt zwischen verschiedenen Käsesorten zu wählen. Und so sind sie bereit, Freiheit gegen Profit, Sicherheitsversprechen oder persönlichen Komfort einzutauschen. Es sollte nicht überraschen, dass populistische Kräfte in den entwickelten Demokratien an Boden gewinnen; Kräfte, die die Grundsätze der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte infrage stellen.

Unsere heutige Welt ist schnelllebig, komplex und vernetzt. Die technologische Entwicklung, der Klimawandel, Verletzungen der Privatsphäre, wachsende Ungleichheit, die Entwertung von Wissen und andere globale Herausforderungen verlangen nach Antworten, die nicht im Rückgriff auf Vergangenes formuliert werden können. Jahrzehnte des relativen Wohlstands und das wachsende Verlangen nach einfachen Lösungen haben den Blickwinkel der entwickelten Demokratien verändert. Sie verstehen nicht mehr, dass der Frieden in Europa nicht ohne Anstrengungen erhalten werden kann, die dem Grad der Gefährdung angemessen sind.

...und die Notwendigkeit, Verantwortung zu übernehmen

Die Europäische Union umfasst bei weitem nicht ganz Europa. Sie ist jener Teil Europas, der es geschafft hat, den Grundsatz zu verwirklichen, dass Frieden, Fortschritt und Menschenrechte untrennbar miteinander verbunden sind. Dann sah sie sich der Gefahr der Stagnation gegenüber. Das gelungene Europa sollte die Bewegung anderer Länder in Richtung europäischer Werte unterstützen. In einer sich ständig verändernden Welt überleben nur offene Systeme und wandlungsfähige Kulturen. Mauern und Grenzen können nicht vor globalen Herausforderungen schützen. Wer aufhört, nach vorne zu schreiten, wird untergehen.

Die gegenwärtige Lage hängt nicht nur von den Entscheidungen und Handlungen des gelungenen Europas ab, sondern auch von seiner unmittelbaren Umgebung. Es ist das eine, von Ländern umgeben zu sein, die sich ebenfalls den Werten der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte verschrieben haben. Ganz anders stellt sich die Situation dar, wenn man von Staaten umringt ist, die diese Werte ablehnen. Wenn solche Länder an Stärke gewinnen, werden sie versuchen, euch zu zerstören.

Das gelungene Europa hat sich lange Zeit geweigert, gegenüber anderen Ländern der Region Verantwortung zu übernehmen, und dadurch die Etablierung autoritärer Regime zugelassen. Dieses Europa hat vergessen, dass Länder, die Journalisten töten, Aktivisten inhaftieren und friedliche Proteste auflösen, nicht nur für ihre eigenen Bürger eine Gefahr darstellen. Solche Staaten sind eine Bedrohung für die gesamte Region, ja, für die ganze Welt. Aus diesem Grund hätte es einer Reaktion auf systematische Menschenrechtsverletzungen bedurft. Menschenrechte sollten bei politischen Entscheidungen eine ebenso wichtige Rolle spielen wie wirtschaftlicher Nutzen oder Sicherheitsfragen. Ein Ansatz, der diesem Imperativ Rechnung trägt, muss auch in der Außenpolitik verfolgt werden.

Das zeigt sich sehr deutlich im Fall Russlands, das seine eigene Zivilgesellschaft Schritt für Schritt zerstört hat. Doch die entwickelten Demokratien haben davor lange die Augen verschlossen. Sie schüttelten russischen Repräsentanten die Hände, bauten Gaspipelines und machten weiter wie bisher. In vielen Ländern begingen russische Streitkräfte über Jahrzehnte hinweg Verbrechen, die stets ungeahndet blieben. Sogar bei der Annexion der Krim, einem beispiellosen Vorgang im Europa der Nachkriegszeit, zeigte die Welt kaum eine Reaktion. Russland glaubte tun zu können, was ihm beliebt.

Das gescheiterte Europa

Im Februar 2014 begann Russland einen Krieg gegen die Ukraine und besetzte die Halbinsel Krim sowie Teile der Oblaste Donezk und Luhansk. Zu diesem Zeitpunkt war die „Revolution der Würde“ in der Ukraine gerade zu einem Ende gekommen. Millionen von Menschen hatten sich mutig gegen ein autoritäres und korruptes Regime aufgelehnt. Im ganzen Land gingen sie auf die Straße und forderten eine weitere Annäherung an Europa und an wahrhaft demokratische Werte. Sie kämpften für das Recht, einen Staat aufzubauen, in dem die Rechte jedes Einzelnen geschützt werden, in dem Behörden Rechenschaft ablegen müssen, Gerichte unabhängig sind und die Polizei nicht auf friedlich demonstrierende Studenten einprügeln darf.

Einige von ihnen zahlten dafür den höchsten Preis. Im Herzen der Hauptstadt erschoss die Polizei mehr als hundert friedliche Demonstrantinnen und Demonstranten. Menschen starben unter den Bannern der Ukraine und der Europäischen Union.

Als das autoritäre Regime zusammenbrach, erhielt die Ukraine ihre Chance auf einen demokratischen Wandel. Um den Fortschritt der Ukraine zu einer wahren Demokratie aufzuhalten, begann Russland im Februar 2014 seinen Krieg. Im Februar 2022 weitete es diesen Krieg zu einer umfassenden Invasion aus. Nicht die Nato ist es, die Putin fürchtet; er hat Angst vor der Demokratie. Diktatoren fürchten die Idee der Freiheit.

Nun versucht Russland, den Widerstand zu brechen und die Ukraine zu besetzen, indem es der Zivilbevölkerung größtmögliches Leid zufügt. Russische Streitkräfte zerstören gezielt Wohnhäuser, Kirchen, Schulen, Museen und Krankenhäuser; sie schießen auf Evakuierungskorridore; sie halten Menschen in Filtrationslagern gefangen; sie führen Zwangsdeportationen durch; sie entführen, foltern und töten Menschen in den besetzten Gebieten. Europa gelang es nicht, dem ein Ende zu setzen.

Dies ist nicht zuletzt ein Krieg der Werte. Russland versucht, die ukrainische Nation davon zu überzeugen, dass ihre Entscheidung für die europäische Integration ein Fehler war. Russland versucht, die ganze Welt davon zu überzeugen, dass Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte ein Betrug sind, dass sie falsche Werte sind. Denn in Kriegszeiten schützen sie niemanden. Russland will beweisen, dass ein Staat mit einem mächtigen Militär und Atomwaffen der gesamten internationalen Gemeinschaft die Spielregeln diktieren und sogar international anerkannte Grenzen verschieben kann. Es handelt sich also nicht um einen Krieg zwischen zwei Ländern, sondern um einen Krieg zwischen zwei Systemen – Tyrannei und Demokratie. Der Kampf wütet bereits. Die Menschen begreifen dies zwar erst, wenn ihnen die Bomben auf den Kopf fallen, aber dieser Krieg hat noch andere Dimensionen: Er ist ein Wirtschaftskrieg, ein Informationskrieg, ein Krieg der Werte. Ob wir den Mut haben, es einzugestehen oder nicht, dieser Krieg hat bereits die Grenzen zur Europäischen Union überschritten.

Russland hat Europa den Krieg erklärt. Russland kämpft gegen jene Werte, die Europa ausmachen. Europa muss also Verantwortung übernehmen. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte können nicht ein für alle Mal erkämpft werden. Vielmehr müssen die Werte der modernen Zivilisation verteidigt werden. Wir müssen für sie kämpfen.

Das ängstliche Europa

Europa weiß nicht, wie es den Krieg beenden soll. Immer wieder fordern einzelne Stimmen die Ukraine dazu auf, Frieden zu schließen. Niemand will den Frieden mehr als die Ukrainer. Aber es gibt keinen Frieden, wenn das angegriffene Land die Waffen streckt. Das ist kein Frieden, sondern eine Besatzung, und Besatzung ist lediglich Krieg in anderer Gestalt.

Russland hat in den von ihm besetzten Gebieten eine Schreckensherrschaft errichtet, um sie unter Kontrolle zu halten. Das beinhaltet, dass russische Truppen und Spezialeinheiten dort die führenden Köpfe der lokalen Zivilgesellschaft auslöschen – Bürgermeister, Aktivisten, Journalisten, Freiwillige, Priester und Künstler. Ohne Rücksicht auf Alter, Geschlecht oder Gesundheit. Die Menschen dort sind nicht in der Lage, ihre Freiheit, ihr Eigentum, ihr Leben und das Leben ihrer Lieben zu verteidigen. Bei einer Besatzung geht es nicht darum, die Flagge eines Staates gegen die eines anderen auszutauschen. Besatzung bedeutet Folter, Deportation, Zwangsadoption, Identitätsverleugnung, Filtrationslager, Massengräber.

In einem dieser Massengräber in der befreiten Region Charkiw wurde unter der Nummer 319 die Leiche von Wolodymyr Wakulenko gefunden. Wolodymyr war Kinderbuchautor. Er verfasste wunderbare Bücher, ganze Generationen wuchsen mit seinen Werken auf. Während der russischen Besatzung verschwand Wolodymyr. Seine Familie hoffte bis zuletzt, dass er noch lebt und sich in russischer Gefangenschaft befindet, wie Tausende andere Menschen auch. Es fällt ihr schwer, den gerichtsmedizinischen Befund zu akzeptieren, wonach seine Leiche identifiziert wurde.

Dauerhafter Frieden bedeutet die Freiheit, ohne Angst zu leben und Pläne für die Zukunft machen zu können. Wir müssen aufhören, die Ergebnisse militärischer Drohungen als „politische Kompromisse“ zu tarnen. Forderungen, die Ukraine solle ihre Verteidigung einstellen, nur um den imperialen Gelüsten Russlands nachzugeben, sind nicht nur fehlgeleitet. Sie sind unmoralisch.

Man kann die Menschen in den besetzten Gebieten nicht dem Tod und der Folter ausliefern. Das Leben der Menschen darf nicht Gegenstand eines „politischen Kompromisses“ sein. Für den Frieden zu kämpfen bedeutet, sich nicht dem Druck des Aggressors zu beugen, sondern die Menschen vor dessen Grausamkeit zu schützen.

Russland ist ein modernes Imperium. Die gefangengehaltenen Völker von Belarus, Tschetschenien, Dagestan, Tatarstan oder Jakutien sind einer Zwangsrussifizierung, der Ausbeutung natürlicher Ressourcen und dem Verbot ihrer eigenen Sprache und Kultur ausgesetzt; sie werden gezwungen, ihre Identität zu verleugnen. Das Imperium hat ein Zentrum, aber es hat keine Grenzen. Es strebt stets nach Expansion. Wenn Russland nicht in der Ukraine gestoppt wird, wird es weitergehen.

Dies ist nicht der Krieg eines Einzelnen. Es ist der Krieg eines Landes, das durch seinen Wunsch, „russische Größe“ wiederzuerlangen, seine Fähigkeit verloren hat, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Daher bejubeln die Menschen die Einnahme ukrainischer Gebiete. Daher denunzieren sie einander. Als die 12jährige Russin Mascha Moskaljowa in der Schule ein Antikriegsbild malte, informierte jemand die Behörden. Nun sitzt ihr Vater im Gefängnis und Mascha wurde in ein Waisenhaus gesteckt.

Das russische Volk trägt die Verantwortung für diese schändliche Episode seiner Geschichte und für den Versuch, das ehemalige Imperium mit Gewalt wiedererrichten zu wollen. Das Bewusstsein für diese Verantwortung veranlasst ehrliche Menschen dazu, sich gegen das Böse zu stellen und die Dinge beim Namen zu nennen, auch wenn dies der vorherrschenden öffentlichen Meinung widerspricht. In Russland gibt es heute sehr, sehr wenige von diesen Menschen, aber es ist ihrem Mut zu verdanken, dass Russen niemals werden sagen können, sie hätten von nichts gewusst.

Seit Beginn der großflächigen Invasion hat die Ukraine der Aggression standgehalten, dank der Bereitschaft des ukrainischen Volkes, Freiheit und Demokratie zu verteidigen, aber auch dank der Unterstützung der entwickelten Demokratien. Diese Länder sagten erst: „Lasst uns der Ukraine helfen, die Niederlage abzuwenden.“ Jetzt sagen sie: „Wir stehen euch zur Seite, solange es nötig ist.“ Und doch muss dieses Paradigma geändert werden. Statt der Ukraine dabei zu helfen, bloß eine Niederlage abzuwenden, sollten diese Staaten vielmehr so handeln, dass sie der Ukraine zum Sieg verhelfen. Und zwar schnell.

Das ängstliche Europa ist versucht, schwierigen – aber verantwortungsvollen – Entscheidungen aus dem Weg zu gehen. Es tut so, als ob die globalen Herausforderungen eines Tages irgendwie von selbst verschwinden würden. In Wahrheit aber werden sie nur noch akuter. Wir vergeuden bloß Zeit.

Das zukunftsfähige Europa...

Der Krieg verwandelt Menschen in bloße Zahlen. Das Ausmaß der Kriegsverbrechen nimmt so rasant zu, dass es schlicht unmöglich ist, alle Geschichten zu erzählen. Aber ich werde Ihnen eine erzählen. Die Geschichte von Svitlana, die ihre gesamte Familie verlor, als ihr Haus von einer russischen Rakete getroffen wurde: „Ich hörte, wie sie starben. Mein Mann schnaufte, als ob er versuchte, sich aus dem Schutt zu befreien, aber es gelang ihm nicht. Irgendwann hörte er einfach auf, sich zu rühren. Großmutter und Zhenya waren auf der Stelle tot. Ich hörte meine Tochter weinen. Plötzlich war auch sie still. Was meinen Sohn betrifft, hat meine Mutter mir erzählt, dass er mehrmals nach mir rief, dann verstummte er.“

Solange die militärische Dimension des Krieges an den Grenzen der Ukraine endet, kann das gelungene Europa die Nachrichten über Kriegsverbrechen ausblenden und die entsetzlichen Fotos und Videos ignorieren. Millionen von Menschen in der Ukraine können dies nicht. Wir können den Krieg nicht einfach abschalten. Das Grauen ist zu unserem Alltag geworden. Menschen sind keine bloßen Zahlen. Wir müssen dafür sorgen, dass allen Menschen Gerechtigkeit widerfährt, unabhängig davon, wer sie sind; unabhängig von ihrem sozialen Status; unabhängig von der Art des Verbrechens, das an ihnen verübt worden ist und der Grausamkeit, die sie erlitten haben; unabhängig davon, ob ausländische Medien und internationale Organisationen sich für ihr Schicksal interessieren oder nicht. Wir müssen die Menschen wieder bei ihren Namen nennen. Und ihnen mit ihrem Namen auch ihre Menschenwürde zurückgeben. Denn das Leben jedes Einzelnen ist von Bedeutung.

Wir sehen die Welt immer noch so wie zu Zeiten des Nürnberger Tribunals, als Kriegsverbrecher erst nach dem Sturz des Naziregimes verurteilt wurden. Aber Gerechtigkeit sollte nicht von der Beständigkeit autoritärer Regime abhängen. Schließlich leben wir in einem neuen Jahrhundert. Gerechtigkeit sollte nicht hintangestellt werden.

Es liegt an uns, den Kreislauf der Straflosigkeit zu durchbrechen und unsere Vorgehensweise bei der Verfolgung von Kriegsverbrechen zu ändern. Wir müssen ein internationales Tribunal errichten und Putin, Lukaschenko und andere Kriegsverbrecher vor Gericht stellen. Ja, das ist ein mutiger Schritt. Aber wir müssen zeigen, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit funktionsfähig sind und dass die Gerechtigkeit letztlich obsiegt. Eine verzögerte Gerechtigkeit ist immer noch besser als gar keine Gerechtigkeit.

...und ein neuer Humanismus

Dies ist eine Aufgabe für ein Europa, das seine Zukunft selbst bestimmt. Europäer zu sein bedeutet, sich solidarisch zu zeigen mit jenen, die für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte einstehen. Europa muss eine aktive Rolle übernehmen, statt sich mit leeren Phrasen zu begnügen.

Es geht nicht nur um die Frage, wie wir Menschen im 21. Jahrhundert schützen können. Dank seiner multikulturellen Vielfalt und seiner komplexen Geschichte hat Europa das Potenzial, die Bedeutung des Humanismus in einer Zeit des rasanten technologischen Fortschritts neu zu definieren und dem Begriff der Menschlichkeit neue Facetten zu verleihen.

Das gelungene Europa kann dazu beitragen, eine Welt zu schaffen, die wir gelungen nennen dürfen. Europa kann eine Schlüsselrolle bei der Schaffung eines Systems der internationalen Zusammenarbeit spielen, das entwickelte Demokratien mit jenen Staaten zusammenbringt, die auf dem Weg der Demokratisierung voranschreiten oder zuversichtlich in diese Richtung aufbrechen. Eine solche Union sollte nicht nur verbunden sein durch eine gemeinsame Geschichte, Bestrebungen um wirtschaftliche Entwicklung oder durch die geografische Lage, sondern auch durch gemeinsame Werte und eine geteilte Haltung. Denn bei den Menschenrechten geht es um eine Denkweise, um ein bestimmtes Paradigma der Weltwahrnehmung, das bestimmt, wie wir denken und handeln. Es reicht also nicht aus, geeignete Gesetze zu erlassen oder Institutionen zu schaffen. Die Werte einer Gesellschaft sind stärker als alle Gesetze oder Institutionen es je sein könnten.

Wir brauchen eine neue humanistische Bewegung, die von der Gesellschaft getragen ihre Ziele verfolgt; die versucht, Menschen aufzuklären; die die Unterstützung der Massen findet und die sich für die Verteidigung der Rechte und Freiheiten einsetzt. Eine solche Bewegung sollte Intellektuelle und die Zivilgesellschaft aus verschiedenen Ländern zusammenbringen, denn die Ideen der Freiheit und der Menschenrechte sind universell.

Wenn das Gesetz vorübergehend versagt und wir uns nicht mehr darauf verlassen können, können wir uns immer noch auf andere Menschen verlassen. Auch wenn wir keine politischen Instrumente haben, so haben wir doch unser Wort und unsere geteilte Haltung. Gewöhnliche Menschen haben viel mehr Macht, als ihnen bewusst ist. Die Stimme von Millionen von Menschen in verschiedenen Ländern kann die Welt rascher und tiefgreifender verändern als jede Intervention der Vereinten Nationen.

Unsere Zukunft ist ungewiss. Das Europa des 21. Jahrhunderts könnte zum Geburtsort eines neuen Humanismus oder abermals zum Schauplatz von Verbrechen von beispielloser Brutalität werden. Europa trägt eine Mitverantwortung, die globalen Herausforderungen zu bewältigen und einen neuen Weg der Weltverständigung einzuschlagen.

Europa definiert sich weniger über seine geografische Lage als über die Werte, für die es steht. Wir leben in einer Welt, in der Werte keine nationalen Grenzen kennen. Und nur wenn wir die Idee der Freiheit verbreiten, können wir unsere Welt sicher machen.

Aktuelle Ausgabe Oktober 2025

In der Oktober-Ausgabe wertet Seyla Benhabib das ungehemmte Agieren der israelischen Regierung in Gaza als Ausdruck einer neuen Ära der Straflosigkeit. Eva Illouz ergründet, warum ein Teil der progressiven Linken auf das Hamas-Massaker mit Gleichgültigkeit reagiert hat. Wolfgang Kraushaar analysiert, wie sich Gaza in eine derart mörderische Sackgasse verwandeln konnte und die Israelsolidarität hierzulande vielerorts ihren Kompass verloren hat. Anna Jikhareva erklärt, warum die Mehrheit der Ukrainer trotz dreieinhalb Jahren Vollinvasion nicht zur Kapitulation bereit ist. Jan Eijking fordert im 80. Jubiläumsjahr der Vereinten Nationen mutige Reformen zu deren Stärkung – gegen den drohenden Bedeutungsverlust. Bernd Greiner spürt den Ursprüngen des Trumpismus nach und warnt vor dessen Fortbestehen, auch ohne Trump. Andreas Fisahn sieht in den USA einen „Vampirkapitalismus“ heraufziehen. Und Johannes Geck zeigt, wie rechte und islamistische Rapper Menschenverachtung konsumierbar machen.

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Gaza und die Ära der Straflosigkeit

von Seyla Benhabib

Künftige Historikerinnen und Historiker, die auf den Israel-Gaza-Konflikt zurückblicken, werden möglicherweise erkennen, dass dieser Konflikt an der Schnittstelle dreier Entwicklungen steht, die gemeinsam das Koordinatensystem der nach dem Zweiten Weltkrieg gegründeten internationalen Institutionen völlig verschoben und eine neue Ära eingeläutet haben.

Israel in der dekolonialen Matrix

von Eva Illouz

Manchmal kommt es auf der Weltbühne zu Ereignissen, die unmittelbar einen grundlegenden Bruch markieren. Der 7. Oktober 2023 war ein solches Ereignis. Die Hamas verübte Verbrechen gegen die Menschlichkeit, indem sie fast 1200 Israelis ermordete.

Eine mörderische Sackgasse

von Wolfgang Kraushaar

Wer seit dem 7. Oktober 2023 von Deutschland aus die Nachrichten zum Nahen Osten fortlaufend verfolgt, der steht vor einem quälenden Problem. Die Tag für Tag eintreffenden Informationen, Bilder und Videosequenzen sind so unerträglich geworden, dass man nahezu unausweichlich in eine moralische Zwangslage zu geraten droht.