
Bild: Ein pro-europäischer Demonstrant trägt eine Georgien-Flagge über den Schultern. Nach der Parlamentswahl sprachen die Präsidentin und die Opposition von Betrug. Tausende Menschen demonstrierten, 29.10.2024 (IMAGO / SNA / Kirill Zykov)
Glaubt man der staatlichen Wahlkommission, so erhielt die regierende Partei „Georgischer Traum“ bei den Parlamentswahlen 54 Prozent der Stimmen. Für Georgiens Präsidentin Salome Surabischwili dagegen sind die offiziellen Ergebnisse der Wahl am 26. Oktober das Resultat einer „russischen Spezialoperation“. Wie sehr Russland direkt bei dem angeblichen Wahlsieg nachgeholfen hat, wird sich im Einzelnen schwer nachweisen lassen und ist auch nicht entscheidend. Denn längst hat der Clan um den georgischen Milliardär Bidsina Iwanischwili, der hinter der Partei steht, nicht nur die Schlüsselnarrative der russischen Propaganda übernommen, sondern auch russische Praktiken der Machtsicherung.[1] Wie der Machtkampf nach der Wahl ausgeht, entscheidet darüber, ob Georgien eine Demokratie bleibt oder vollends in eine oligarchische Autokratie abrutscht. In Georgien lassen sich aber auch Prozesse beobachten, die seit 1989 in Europa ablaufen und mit dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 ihren sichtbarsten Höhepunkt erreicht haben. Russland kämpft dabei um den Status einer Weltmacht und beansprucht einen privilegierten Einflussbereich, zu dem primär die ehemaligen Sowjetrepubliken gehören. Gleichzeitg versteht sich das Land unter Wladimir Putin als ein kultureller „Anti-Westen“. In dieser Vorstellung fungiert Moskau als das Zentrum einer „russischen Welt“ – auch russkij mir oder pax russica genannt –, die weit über das Staatsgebiet der Russischen Föderation hinausgeht. Und in Georgien signalisiert die Regierungspartei – während sie weiter offiziell die Aufnahme in die EU anstrebt –, dass sie ihr Land zum Teil dieser russischen Welt machen will. Etwa, indem sie Gesetze erlässt wie das „über die Transparenz des ausländischen Einflusses“, dessen Vorbild das russische Agentengesetz ist, oder das „Gesetz zum Schutz der Familienwerte und der Minderjährigen“, das in Wirklichkeit ein Anti-LGBTIQ-Gesetz ist. Im Vorfeld der Wahlen machte die EU deutlich, dass Georgiens weitere Integration in den Staatenverbund nicht nur von der Rücknahme der umstrittenen Gesetze abhängen würde, sondern forderte auch freie und faire Wahlen.
Spezialoperation Fälschung
Frei und fair? Bereits die Diskrepanz zwischen den am Wahltag durch internationale Wahlforschungsinstitute erstellten Hochrechnungen und dem Endergebnis von 54 Prozent, das nahe an der von der Regierung in den vorausgegangenen Monaten angekündigten Zahl lag, weckte Zweifel daran.[2] Auch der gemeinsame vorläufige Bericht der Wahlbeobachter der OSZE, des Europarats und der Nato sprach nicht von freien und fairen Wahlen. Er bescheinigte der Wahlkommission zwar, die Wahlen prozedural ordentlich organisiert zu haben, monierte jedoch zahlreiche Unregelmäßigkeiten wie Hinweise auf die Einschüchterung von Wählern, die Verletzung des Wahlgeheimnisses und die fehlende Markierung der Finger mit unter UV-Licht sichtbarer Spezialtinte.[3]
Die Berichte von georgischen Wahlbeobachtern und oppositionelle Medien gehen noch darüber hinaus. Sie zeichnen das Bild einer lange vorbereiteten und generalstabsmäßig durchgeführten Operation, bei der es der Regierung und der von ihr kontrollierten Zentralen Wahlkommission (ZEK) nicht vorrangig darum ging, die Wahlen durchzuführen, sondern diese massiv zu manipulieren. Dazu gehörten etwa kurzfristige Gesetzesänderungen, die Manipulationen ermöglichten, insbesondere Änderungen der Regeln zur Ernennung von Wahlhelfern. Anders als bei früheren Wahlen wurde es dadurch möglich, die Funktion einzelner Wahlhelfer nicht am Wahltag zu verlosen, sondern sie eine Woche vor der Wahl durch die Wahlkommission so zu verteilen, dass zuverlässige Parteigänger an Schlüsselstellen saßen.
Wichtiger Teil der Operation war demnach auch der illegale Zugriff auf personenbezogene Daten. So ließen sich Listen von Personen erstellen, die nachweislich nicht wählen würden: entweder weil sie im Ausland leben, aber nicht konsularisch angemeldet sind, oder im Inland, jedoch auf ihr Wahlrecht faktisch durch Einschüchterung oder Bestechung verzichten würden. Mit den Identifikationsnummern dieser Personen konnten dann Regierungsanhänger Stimmen in unterschiedlichen Wahllokalen abgeben – in vielen Fällen dieselbe Person mehrfach unter verschiedenen Namen. Der frühere georgische Premierminister Giorgi Gacharia, ein ehemaliger Anhänger Iwanischwilis mit entsprechendem Einblick, geht davon aus, dass die Regierung auf alle persönlichen Daten inklusive der medizinischen und finanziellen zugreifen konnte, um die Wahlfälschung zu organisieren.[4]
Außerdem traten Funktionäre der Regierungspartei und Kleinkriminelle als angebliche Wahlbeobachter auf, um so echte Wahlbeobachter an der Aufdeckung von Wahlfälschungen zu hindern. Berichtet wird aber auch von Wählerbestechung und der Kontrolle der Stimmabgabe bis in die Wahlkabinen hinein sowie von der Bedrohung von Wählern in der Nähe der Wahllokale. Auf diese Weise wurden vermutlich 300 000 Stimmen manipuliert, was durchschnittlich 100 Stimmen pro Wahllokal entspricht.
Zu wenige Wahllokale im Ausland
Im Ausland wiederum hatte die Regierung sehr wenige Wahllokale eröffnet und so viele Auslandsgeorgier von den Wahlen abgehalten. Wie wichtig diese Stimmen sein können, zeigen die jüngsten Wahlen in der Republik Moldau. Dort spielte die Diaspora für den Wahlsieg der proeuropäischen Präsidentin Maia Sandu eine entscheidende Rolle. Moldau hatte 228 Wahllokale im Ausland eröffnet – das größere Georgien dagegen nur 60.
Ein Teil dieser Vorwürfe findet sich auch in den Berichten internationaler Wahlbeobachter wieder. Wenn der Großteil der Berichte stimmt, dann wäre dies der umfangreichste Wahlbetrug in der georgischen Geschichte. Opposition und Zivilgesellschaft in Georgien gehen mittlerweile auch juristisch gegen den mutmaßlichen Betrug vor. Die Chancen sind allerdings gering, in dem von Iwanischwili weitgehend kontrollierten Justizsystem Recht zu bekommen.[5] Bisher hat nur ein Richter positiv über die Klage der Georgian Young Lawyers‘ Association zur Annullierung der Ergebnisse in den elektronischen Wahllokalen entschieden. Allerdings ging auch dieses Verfahren, wie alle anderen, in die zweite Instanz und hat bisher keine praktischen Folgen. Umgekehrt hat die Staatsanwaltschaft inzwischen die proeuropäische Präsidentin vorgeladen.
Die politische Opposition und die Zivilgesellschaft sammeln unterdessen Beweise für Wahlfälschung und versuchen, eine internationale Nichtanerkennung der Wahlergebnisse durchzusetzen. Gleichzeitig bereiten sie sich auf einen friedlichen Widerstand im Land vor. Die Aussichten dieses Widerstands hängen von der Zahl und Ausdauer der Menschen ab, die bereit sind, für ihre Stimmen einzustehen. Diese sehen sich einem Regime gegenüber, das zweifellos auf Proteste vorbereitet ist – schließlich warnt Iwanischwili seit langem vor einer zweiten „Rosenrevolution“ oder einem georgischen „Maidan“. Auch deshalb wird die Reaktion aus dem Ausland wichtig sein: Sollten die EU-Staaten, die USA und andere westlich orientierte Staaten die Wahlen und damit die Legitimität des Iwanischwili-Regimes anerkennen, würde dieses sich frei fühlen, hart gegen seine Gegner vorzugehen.
Vorbild Belarus?
In diesem Fall wäre ein „belarussisches Szenario“ denkbar: nicht nur die Suspendierung des EU-Aufnahmeverfahrens, sondern die Zerstörung des greifbaren Traums von einem proeuropäischen, demokratischen Rechtsstaat insgesamt, für dessen Erfüllung Generationen von Georgierinnen und Georgiern gearbeitet haben. Im Inneren des Landes würde all das verloren gehen, was in den letzten 30 Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aufgebaut wurde: eine starke Zivilgesellschaft, Freiheit von Kunst und Kultur, von Forschung und Lehre. Das Iwanischwili-Regime drohte bereits mit dem Verbot der oppositionellen Parteien und die neuen Gesetze erlauben es ihm, gegen die Zivilgesellschaft vorzugehen. Eine Verhaftungs- und Auswanderungswelle wäre zu erwarten. In einem solchen Szenario würde Georgien bald zu einem vollständig autoritären Staat in der russischen Einflusssphäre.
Es gibt jedoch wichtige Unterschiede zwischen Belarus und Georgien: Der belarussische Diktator Lukaschenko ist relativ autark, und der Westen hat kaum Druckmittel gegen ihn. Auch Sanktionen helfen wenig, da Belarus‘ Wirtschaft stark mit Russland verflochten ist. Das georgische Regime hat jedoch eine Besonderheit – es ist ein „Ein-Mann-Regime“ und steht und fällt mit dem Oligarchen Iwanischwili. Dieser ist nur so mächtig wie sein für georgische Verhältnisse enormes Vermögen – etwa ein Fünftel des jährlichen georgischen Bruttoinlands-produkts. Sein Vermögen liegt jedoch im Ausland – zum großen Teil „offshore“ –, und ist somit nicht vor internationalen Sanktionen geschützt. In einem Interview kurz vor den Wahlen sagte Iwanischwili selbst, dass ihm sein Vermögen wichtiger sei als die Interessen des Landes.[6] Mit Sanktionen gegen Iwanischwili und seinen Clan hätte der Westen somit, anders als gegen andere Autokraten und Diktatoren im postsowjetischen Raum, ein wirksames Druckmittel.
Sollten die schweren Anschuldigungen von Opposition und Zivilgesellschaft gegen das Iwanischwili-Regime bewiesen werden, könnten die EU und die USA den Wahlsieg der Regierungspartei nicht anerkennen. Damit könnte sich eine – wenn auch kleine –, Chance für eine gestärkte Opposition und Zivilgesellschaft eröffnen, durch Massendemonstrationen Neuwahlen durchzusetzen. Es wäre jedoch kein „Regimewechsel-Szenario“ wie 2003, sondern es würden die Voraussetzungen für freie und faire Wahlen geschaffen, die nicht mehr von der Regierung kontrolliert werden.
Die Chance auf einen solchen Erfolg der Opposition ist auch deshalb klein, weil das Iwanischwili-Regime außenpolitisch nicht isoliert ist. Neben den politisch eher unbedeutenden Glückwünschen des venezolanischen Präsidenten Nicolás Maduro haben dem georgischen Ministerpräsidenten bereits die Nachbarstaaten Armenien und Aserbaidschan sowie der Iran gratuliert. Aus Russland kamen zwar keine offiziellen Glückwünsche, aber die Wahlergebnisse in Georgien wurden dort mit Freude aufgenommen. Allerdings erfreut sich die Regierung nicht nur der Sympathien Russlands, Venezuelas und des Iran.
Besonders schwer wiegt die Gratulation des Nato-Mitglieds Türkei. Sie zeigt, dass die Nato in Bezug auf Georgien nicht mit einer Stimme spricht. Das gilt auch für die EU: Als einziger EU-Regierungschef reiste Viktor Orbán nach den Wahlen nach Georgien, gratulierte der Regierungspartei „Georgischer Traum“ zum Wahlsieg und ermutigte sie, den Unmut Brüssels zu ignorieren.
Zwar stellte der EU-Chefdiplomat Josep Borrell klar, dass der Ministerpräsident Ungarns, das derzeit die EU-Ratspräsidentschaft innehat, nicht im Namen der EU spricht, aber angesichts der Tatsache, dass die anderen EU-Staats- und Regierungschefs keine deutlichen Signale zur Unterstützung der georgischen Opposition gegeben, Tiflis nicht besucht und die proeuropäische Staatspräsidentin nicht in die EU-Hauptstädte eingeladen haben, ist ein entschlossenes Handeln der EU kaum zu erwarten. Auch die zunehmend antiwestliche Rhetorik des Regimes deutet darauf hin, dass Iwanischwili davon ausgeht, keine ernsthaften Schritte des Westens befürchten zu müssen – insbesondere nach dem Wahlsieg von Donald Trump. Die EU begann erst nach dem russischen Überfall auf die Ukraine, ihre Politik im östlichen Europa anzupassen – viel zu spät und allzu reaktiv. Auch in der aktuellen Situation in Georgien scheint die EU als Ganzes – anders als Orbán – keine klare Strategie zu haben. Möglicherweise wird sie sich mit einer autokratischen Regierung in Georgien ähnlich arrangieren wie etwa mit der in Aserbaidschan. Ein solches Arrangement würde weitgehend den Interessen des Iwanischwili-Regimes und Russlands entgegenkommen.
Zögerliche und uneinige EU
Das Zögern der EU in Bezug auf Georgien zeigt, dass sie weiterhin keine klare und gemeinsame Vision für Osteuropa besitzt und der russischen Strategie wenig entgegenzusetzen hat. Während Russland versucht, die Ukraine militärisch zu bezwingen, setzt es in Moldau und Georgien hybride Mittel ein. Die Entwicklungen in allen drei Ländern sind eng miteinander verknüpft. Sollte die EU gegenüber den Machthabern in Georgien weiter zögerlich handeln und ihre Druckmittel nicht ausschöpfen, könnte nicht nur Georgien sowohl innen- als auch außenpolitisch schrittweise völlig unter russische Kontrolle geraten. Dies hätte auch weitreichende Folgen für den Kaukasus, denn Armeniens zwischenzeitliche Hinwendung zum Westen hängt ebenfalls eng mit der Situation in Georgien zusammen.
Für die EU hätte ein solcher Fall ebenfalls weitreichende Konsequenzen: Georgiens Einverleibung in die russkj mir wäre nicht nur ein symbolischer Sieg Russlands im Kampf gegen den „kollektiven Westen“, sondern Brüssel würde auch einen Schlüsselpartner in der Region verlieren. Dieser Verlust dürfte die Stellung der EU im Kaukasus und im Schwarzmeerraum sowohl wirtschaftlich als auch sicherheitspolitisch deutlich schwächen
[1] Vgl. Zaal Andronikashvili, Georgisches Aufbegehren – gegen die prorussische Oligarchie, in: „Blätter“, 7/2024, S. 17-20.
[2] Edison Research 2024 Republic of Georgia Exit Poll, edisonresearch.com, 1.11.2024; HarrisX Releases Final Georgia 2024 Exit Poll Analysis, 31.10.2024, harrisx.com.
[3] International Election Observation Mission Georgia, Statement of preliminary Findings and Conclusions, osce.org, 27.10.2024.
[4] TV Sender Formula, Vrtseli interviu Giorgi Gakhariastan. Droeba, 3.11.2024.
[5] GYLA is requesting the annulment of the results from all polling stations where technology was used, gyla.ge, 30.10.2024.
[6] TV Sender Imedi, „Eksklusiuri interviu bidzina ivanishvilitan”, 21.10.2024.