
Bild: Pedro Sánchezbei einer Wahlkampfkundgebung zur Unterstützung des PSC-Kandidaten für die katalanischen Wahlen am 12. Mai in Barcelona, 2.5.2024 (IMAGO / ABACAPRESS / Europa Press)
Spaniens Premier Pedro Sánchez gilt als Meister des politischen Timings. Der sozialistische Politiker hat in seiner Karriere immer wieder mit überraschenden Entscheidungen die Initiative an sich gerissen und so Gegner ausgebootet oder sich selbst wieder auf das Spielbrett gehievt. Das zeigte sich auch bei der Regionalwahl in Katalonien am 12. Mai, bei der die separatistischen Parteien zum ersten Mal seit 1980 ihre Mehrheit verloren. Sánchez war den Regionalisten zuvor unter anderem mit einer heftig umstrittenen Amnestieregelung weit entgegengekommen, mit der er auch Separatistenführer Carles Puigdemont Straffreiheit in Aussicht stellte, – und scheint so den Konflikt zwischen Separatisten und Zentralregierung zumindest vorerst entschärft zu haben, allen Unkenrufen der konservativen und rechten Opposition zum Trotz. Es dürfte in naher Zukunft keine einseitige Unabhängigkeitserklärung mehr geben.
Nicht anders verhielt es sich bei Sánchez‘ überraschendem Rücktritt vom Amt des Generalsekretärs des Partido Socialista Obrero Español (PSOE) 2016 und bei den von ihm vorgezogenen Neuwahlen im vergangenen Mai. Vor acht Jahren begann Sánchez mit seinem Verzicht auf den Parteiposten, dank massiver Unterstützung durch die Basis, seine Neuerfindung als linker Politiker. Und 2024 verwandelte er als Premier die gewaltige Schlappe der Sozialisten bei den Kommunal- und Regionalwahlen in die Grundlage seiner zweiten Amtszeit: Sánchez zog die Parlamentswahlen vor. Während die rechtsextreme Vox und der konservative Partido Popular (PP) in Regionalparlamenten und Rathäusern unter gewaltigem politischen Getöse Koalitionen schmiedeten, präsentierte Sánchez seine Partei als Garant für Mäßigung und Vernunft und mobilisierte damit erfolgreich seine Wählerschaft. Der politisch wieder einmal Totgesagte wurde erneut Premier. Solche Manöver haben Sánchez den Ruf eines kühl kalkulierenden Machtpolitikers eingebracht.
So kann es nicht verwundern, dass viele auch seinen jüngsten Vorstoß zunächst als strategischen Schachzug werteten: Nachdem die rechtsextremen Kreisen nahestehende Initiative „Manos Limpias“ Sánchez‘ Frau Begoña Gómez wegen wirtschaftlicher Einflussnahme angezeigt hatte und ein Gericht daraufhin Vorermittlungen einleitete, kündigte der Premier in einem Brief an die Bevölkerung eine Auszeit an. Die Vorwürfe gegen seine Frau gehörten zu den Attacken gegen seine Person, mit denen die politische Rechte versuche, ihn und seine Politik zu diskreditieren. Fünf Tage zog der spanische Premier sich zurück, um darüber nachzudenken, ob sich Politik angesichts solcher „Schmutzkampagnen“ für ihn noch lohne.
Pedro Sánchez‘ Kampf für demokratische Erneuerung
Doch als die meisten Beobachter schon seinen Rücktritt erwarteten, erklärte Sánchez überraschend, im Amt zu verbleiben. Mehr noch: Er stellte sich in einer knapp achtminütigen Ansprache an die Spitze des Kampfs gegen Fake News und für eine demokratische Erneuerung: „Die Übel, die uns bekümmern, sind Teil einer weltweiten reaktionären Bewegung, die mit Diffamierungen, Hass, dem Appell an Ängste und Drohungen ihre rückwärtsgewandte Agenda durchsetzen will. Zeigen wir der Welt, wie man die Demokratie verteidigt.“[1]
Was ist davon zu halten? Hinter Sánchez‘ zeitweiligem Rückzug steckten wohl tatsächlich ausschließlich persönliche Motive. Dafür sprechen sowohl der Ton des Briefes als auch die Tatsache, dass Sánchez‘ Position im eigenen Lager so gut wie unumstritten ist. Doch was der Sozialist daraus a posteriori macht, trägt sehr wohl die Züge eines typischen Sánchez-Manövers: Geschickt hat er die durch seine Rücktrittsdrohung entstandene Aufmerksamkeit genutzt, um eine breite Debatte loszutreten. Noch am selben Abend gab er dem spanischen Fernsehen ein Interview, in dem er mehrfach von der Notwendigkeit sprach, politische Maßnahmen gegen die „máquina de fango“, die „Schlammwurf-Maschine“, zu ergreifen.[2] Weitere Interviews folgten. Zu diesem Zeitpunkt hatten bereits Tausende Journalistinnen und Journalisten sowie andere Personen des öffentlichen Lebens einen öffentlichen Aufruf gegen „juristische und mediale Putschversuche“ unterschrieben.[3] Mehr Reichweite war nie für „demokratische Erneuerung“.
Die Regierung Aznar: Ursprung der Polarisierung
Tatsächlich ist es längst Zeit für eine solche Debatte. Spaniens Politik ist seit langem hochgradig polarisiert, Ton und Umgangsformen sind extrem rau. Als „Volksverräter“ und „Hurensohn“ hat die politische Rechte Sánchez wegen seiner Zugeständnisse an die katalanischen Separatisten bezeichnet, bei Demonstrationen vor der sozialistischen Parteizentrale wurden Pappmascheepuppen mit seinem Antlitz verprügelt. Das sind Missgunstbekundungen, die weit über die Grenzen des politischen Anstands hinausgehen.
Ihre ideologischen Differenzen haben die beiden großen Volksparteien PSOE und PP seit jeher deutlich gemacht. Aber lange galt dabei der Grundkonsens der transición, des „sanften“ Übergangs von der Franco-Diktatur (1939-1975) zur Demokratie. „Moderación“, Mäßigung, galt als politische Tugend – sowohl was die politischen Forderungen betraf als auch im Umgang mit dem politischen Gegner. Unter dem konservativen Premier José-María Aznar, einem politischen Hardliner, setzte sich jedoch ein zunehmend härterer Ton durch – im Inhalt wie in der Form.
Der von 1996 bis 2004 amtierende Regierungschef verfolgte vor allem in seiner zweiten Amtszeit, als er sich auf eine absolute Mehrheit stützen konnte, einen strikt spanisch-nationalistischen Kurs, der insbesondere die bis dato zur Regierungsbildung wichtigen Regionalparteien im Baskenland und in Katalonien vor den Kopf stieß. Zudem war der Premier 2003 für den Eintritt Spaniens in den Irakkrieg verantwortlich. Demonstranten zeigte Aznar schon mal den Mittelfinger.
Zum eigentlichen Wendepunkt der politischen Kultur in Spanien aber wurde der 11. März 2004. Bei einem islamistischen Anschlag auf mehrere Nahverkehrszüge in Madrid wurden 193 Menschen getötet, 2000 verletzt. Trotz entgegengesetzter Indizien machte die konservative Regierung die baskische Terrororganisation ETA verantwortlich, obwohl diese sich bereits vom Anschlag distanziert hatte. Der Grund lag auf der Hand: Das Attentat erfolgte drei Tage vor den Parlamentswahlen und eine islamistische Urheberschaft als Reaktion auf Spaniens Beteiligung am Irakkrieg passte Aznar schlicht nicht ins Kalkül.
Um der ETA-These Geltung zu verschaffen, nahm die Regierung auch massiv Einfluss auf die Medien: Das spanische Staatsfernsehen strich ein Interview mit dem damaligen US-Präsidenten George W. Bush aus dem Programm, weil der einen Zusammenhang mit dem al-Qaida-Netzwerk hergestellt hatte. Aznar und sein Umfeld riefen zudem bei den Chefredaktionen der großen Tageszeitungen an, um auf der angeblichen ETA-Urheberschaft zu insistieren. Über ihr Botschafternetz versuchte die Regierung damals, sogar auf ausländische Medien einzuwirken.[4] Selbst nach abgeschlossenen Gerichtsverfahren gegen die wahren Täter versuchten der PP nahestehende Tageszeitungen wie „El Mundo“ sowie Internetportale noch, Verbindungen zu den baskischen Terroristen herzustellen.
Fake News und Justizmissbrauch
Das Streuen von Fake News gehört seitdem zum Waffenarsenal der spanischen Rechten. Es ist kein Zufall, dass Onlinemedien wie „Libertad Digital“ sowohl der ETA-Hypothese wie den Anschuldigungen gegen Begoña Gómez besonders breiten Raum einräumen. Dazu kommt, dass Falschmeldungen und persönliche Angriffe relativ ungestraft im öffentlichen Raum stehenbleiben können. Der spanische Presserat, ein 2006 grundlegend reformiertes Organ zur journalistischen Selbstkontrolle, verhängt im Schnitt bloß acht Rügen jährlich. Eine Sanktionsmöglichkeit besteht dabei ebenso wenig wie eine Publikationspflicht für das gerügte Medium. Versuche, bewusste Fehlinformationen oder extrem manipulative Berichterstattung strafrechtlich zu verfolgen, schlugen überwiegend fehl.[5] Befördert wird die Polarisierung der medialen Öffentlichkeit auch dadurch, dass in den äußerst beliebten tertulias, den politischen Talkshows, die Grenzen zwischen Meinung und Information fließend sind.
Das auch in Spanien immer weiter verbreitete Phänomen der Fake News kann indes nicht isoliert vom Verhalten der Justiz betrachtet werden. Auch das zeigt der Fall Begoña Gómez exemplarisch. Die Anzeige gegen sie stützt sich ausschließlich auf vier Presseartikel zweier rechtskonservativer Onlinemedien, deren Aussagen teils mehrfach widerlegt wurden. Selbst „Manos Limpias“, also die Organisation, die Anzeige erstattet hatte, räumte ein, sie könne den Wahrheitsgehalt der Anschuldigungen nicht garantieren. Spanische Juristen kritisierten daher, das ermittelnde Gericht hätte eine solche Anzeige gar nicht entgegennehmen dürfen.
Allein: Es ist nicht das erste Mal, dass in Spanien versucht wird, Politiker oder deren persönliches Umfeld mit juristischen Mitteln zu diskreditieren, und man sich dazu der Presse bedient. Der linkspopulistischen Podemos wurde beispielsweise jahrelang unterstellt, sich illegal über Venezuela und Iran zu finanzieren. Die Behauptungen tauchten 2016 auf, die Protestpartei befand sich damals auf einem Höhenflug und war soeben aus dem Stand als drittstärkste Kraft ins spanische Parlament eingezogen. Auch damals wurden die Behauptungen zunächst in Onlinemedien, vor allem im rechtspopulistischen Portal „OK Diario“ und in „El Confidencial“, gestreut. Und auch damals war es die Initiative „Manos Limpias“, die daraus eine Strafanzeige konstruierte.[6] Besonders brisant war die Verstrickung von Polizisten, die die angeblichen Beweise konstruiert hatten – offensichtlich unter Mitwisserschaft des damaligen konservativen Innenministeriums.
In der Region Valencia wiederum wurde die Linkspolitikerin Mónica Oltra beschuldigt, ihren wegen Missbrauchs Minderjähriger verurteilten Ex-Ehemann gedeckt zu haben. In den zweijährigen Ermittlungen fanden die Behörden keinen einzigen Hinweis darauf und stellten das Verfahren ein. Da aber war Oltra bereits von ihrem Amt als Vizeregionalpräsidentin zurückgetreten. Auch Politiker aus dem katalanisch-separatistischen Lager sehen sich als Opfer von „Law Fare“, also dem Missbrauch des Rechtssystems gegen politische Gegner.
Vergiftetes Klima im Parlament
Eine „demokratische Erneuerung“, wie sie Sánchez fordert, ist also durchaus notwendig. Doch einen konkreten Plan haben bisher weder er selbst noch die Ministerinnen und Minister seines Kabinetts vorgestellt. Auch die Parteien seiner Linkskoalition halten sich bisher zurück.
Das ist nicht der Ideenlosigkeit geschuldet, sondern dem parlamentarischen Klima: Jeder Vorstoß von der Regierungsbank würde von der Opposition als Beweis für die angeblichen autoritären Tendenzen der Linkskoalition gewertet. Das machte der PP-Vorsitzende Alberto Núñez Feijóo bereits in seiner Reaktion auf den Doch-nicht-Rücktritt des Premiers klar. Das Plädoyer des Sozialisten für eine neue politische Kultur sei die gefährlichste Rede gewesen, die dieser je gehalten habe, so der Konservative. Sánchez habe gezeigt, dass er weder eine echte Opposition noch ein funktionierendes Justiz- oder Mediensystem dulde.
Unbeeindruckt vom Getöse im Parlament haben sich inzwischen andere Akteure zu Wort gemeldet: Die Richterorganisation „Juezas y Jueces para la Democracia“ fordert in einem Kommuniqué, offensichtliche Fälle von Law Fare künftig verstärkt juristisch zu ahnden.[7] Journalistenverbände plädieren für eine stärkere Regulierung ihres Berufsbildes. Denn ähnlich wie in Deutschland gilt Journalismus in Spanien als freier Beruf; Berufsverbände, die die Aufnahme von Mitgliedern an professionelle Kriterien knüpfen, gibt es bisher nur in Madrid und Barcelona.
Bei der notwendigen Reform der spanischen Medienlandschaft könnte das Land Hilfestellung von der Europäischen Union bekommen. Laut dem Europäischen Medienfreiheitsgesetz (EMFA) müssen alle Medien künftig Besitzer und Shareholder nennen und offenlegen, ob und in welcher Höhe sie öffentliche Subventionen beziehen. In Spanien, wo Zeitungen und elektronische Medien auch Zuwendungen von Rathäusern und Regionalverwaltungen erhalten und dies teils zur massiven Einflussnahme auf die Berichterstattung genutzt wird,[8] hat man solche Vorstöße immer wieder zu verhindern versucht: Bisher veröffentlichen nur die Regionen Madrid und Katalonien ihre Mediensubventionen. Die Linkskoalition hat nun angekündigt, die Einhaltung dieser Prinzipien landesweit verstärkt zu kontrollieren.
Von einem Ende der Polarisierung ist Spanien also noch weit entfernt, aber die Debatte darüber hat zumindest begonnen – in der Politik und jenseits der parlamentarischen Arena. Vor allem die gesellschaftlichen Initiativen der vergangenen Wochen und Monate sind deshalb eine gute Nachricht.
[1] Die Rede vom 29.4.2024 im Wortlaut findet sich auf dem Youtube-Kanal der spanischen Regierung (@lamoncloa).
[2] Entrevista al presidente de gobierno, Pedro Sánchez, rtve.es, 29.4.2024.
[3] „Los gobiernos se eligen en las urnas. No al golpismo judicial y mediático“, ctxt.es, 26.4.2024.
[4] Reiner Wandler, Spaniens Rechte: Verdrehte Tatsachen, in: „taz“, 11.3.2024. Die Autorin war im März 2004 Zeugin eines Gesprächs zwischen der Redaktion des ARD-Fernsehmagazins „Kontraste“ und dem damaligen Hauptstadtkorrespondenten, in dem dieser von einem Botschafter-Anruf berichtete.
[5] Vgl. Fernando Varela, La tierra de nadie del periodismo español: la derugulación deja el código deontológico en papel mojado, in: „Infolibre“, 5.5.2024.
[6] Vgl. El falso informe que trató de tumbar a Podemos en pleno auge, in: „El País“, 28.3.2019.
[7] Comunicado de JJpD ante la denuncia interpuesta frente a Begoña Gómez, juecesdemocracia.es, 27.4.2024.
[8] Laut dem Onlineportal ctxt.es hat die konservative Madrider Regionalregierung den überwiegenden Teil ihrer Pressesubventionen in ihr freundlich gesinnte Medien gesteckt – und nur zehn Prozent in kritische. Vgl.Ayuso gastó 41,5 millones de euros en publicidad institucional entre 2022 y 2023, ctxt.es, 30.3.2024.