
Bild: Gedenk-Graffito mit den Gesichtern der Opfer des Hanauer Anschlags und den Worten »Niemals Vergessen« an der Friedensbrücke in Frankfurt (IMAGO / greatif)
An jedem Jahrestag erleben wir es aufs Neue: Politiker:innen treten ans Rednerpult mit ihrem inhaltsleeren „Nie wieder“, mit ihren salbungsvollen Sprüchen und ihrem aufgesetzten Mitgefühl. Obligatorische Jahrestage im Kalender, Beileidsreden geschrieben von der Assistenz, PR-Fotos abhaken, schnell zum nächsten Termin. Jetzt also fünf Jahre Hanau. Fünf Jahre seit dem rassistischen Attentat vom 19. Februar 2020, bei dem neun Menschen ermordet wurden. Fünf Jahre, in denen Eltern jeden Tag ohne ihr Kind zählen. Kinder ohne ihre Mutter, ohne ihren Vater. Menschen ohne ihren geliebten Partner. Jugendliche ohne ihre besten Freunde, ohne ihre Geschwister. Fünf Jahre der Stadt Hanau ohne diese neun jungen Leute, die dort hätten leben und alt werden sollen.
Zu solchen Jahrestagen hören wir von Politiker:innen allzu oft rein performative Appelle zum „Zusammenhalten“, ähnlich dem, was der jüdische Autor Max Czollek in einem anderen Kontext „Versöhnungstheater“ nennt. Hier ein paar wahllose, weil wiederkehrende Zitate aus Bundespräsident Frank-Walter Steinmeiers verschiedenen Jahrestagsreden; Versatzstücke, die immer wieder auftauchen: „Wir gedenken der Opfer – Rückkehr von Vertrauen – friedliches Zusammenleben“. Und natürlich: „Nie wieder“.
Dieses „Nie wieder“ klingt hohl, weil keine Konsequenzen aus dem Attentat in Hanau gezogen wurden. Der Vater des Mörders bedroht weiterhin die Angehörigen der Opfer. Nach wie vor sind Hunderte per Haftbefehl gesuchte Rechtsextreme untergetaucht. Die Diskriminierung und Kriminalisierung migrantischer Menschen, insbesondere junger muslimischer Männer, geht ungebrochen weiter. Es wurde noch kein Verbotsverfahren gegen die AfD eingeleitet, die parlamentarische Verbindung zum Rechtsterrorismus.
Das „Nie wieder“ klingt umso hohler, weil nach jedem Attentat, das ein Einwanderer begeht, drastische Maßnahmen gefordert und weitreichende politische Entscheidungen gefällt werden – in der Regel weniger sicherheits- als migrationspolitische Maßnahmen. Mehr Abschiebungen, weniger Aufenthaltstitel, verstärkte Kontrollen von als „migrantisch“ wahrgenommenen Personen. Wir Angehörige von Minderheiten müssen allesamt dafür büßen, wenn ein einziger Geflüchteter ein Verbrechen begeht, wie etwa das Messerattentat in Solingen vom August 2024, bei dem ein Syrer drei Menschen tötete.
In den Wochen danach habe ich mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Schockstarre verfolgt, wie die politische Debatte hierzulande ins Bodenlose abstürzte. Es begann mit „straffällige Asylbewerber abschieben“ über „keine weiteren Migranten“ aus Syrien und Afghanistan aufnehmen[1] bis zu „Migranten an sich sind das Problem“.
Unmittelbar danach führte Deutschland an allen Grenzen Kontrollen ein, was rechtlich zumindest umstritten ist. Das heißt, für rassistische Symbolpolitik werden sowohl EU-Vereinbarungen aufs Spiel gesetzt als auch der demokratische Konsens in Deutschland, dass offene Grenzen in Europa etwas Positives sind, über Bord geworfen. Der ungarische Quasi-Diktator Viktor Orbán gratulierte und die AfD feixte.
Hassrede in bürgerlichen Medien
Medien überbieten sich in der Hetze gegen Geflüchtete und Migrant:innen, die „Bild“-Zeitung natürlich vorneweg: „Migration gescheitert: Schon Kinder haben Messer dabei!“ Oder „Welt Online“: „Gewalt von Zuwanderern: Reale Bedrohung der Bevölkerung wird in Kauf genommen“, womit die „Bevölkerung“ implizit als weiße Deutsche definiert wird, als wären wir eingewanderten Menschen keine Bevölkerung – wir werden also gewissermaßen verbal ausgebürgert. Das einzige Medium mit einer adäquaten Reaktion auf diese rassistische Massenhysterie war das satirische Onlinemagazin „Der Postillon“, mit der Überschrift „Deutschland noch zwei Wochen Asyldebatte von Mauerschützen und Tretminen entfernt“.[2] Eine Satire, die so nah an der Wahrheit lag, dass einem das Lachen im Halse stecken blieb.
In meinem Geschichtsbuch aus der 10. Klasse stand bereits, wie die Öffentlichkeit rhetorisch vorbereitet wird, um zu einem Pogrom aufzuwiegeln. Es ist ein eigenartiges Gefühl, dass man das heute live nachgespielt bekommt, so wie ein Mittelaltermarkt mit Kostümen, nur dass die Hetze echt ist und ich zu den Leuten gehöre, die als fremd und nicht zugehörig markiert werden. All diese Politiker:innen, die an Gedenktagen gebetsmühlenartig Sprüche wie „Wehret den Anfängen“ wiederholen, haben nichts begriffen; die Rechten hingegen arbeiten das Textbuch bewusst und kalkuliert Schritt für Schritt ab.
Und die bürgerlich-konservative Politik bereitet sich vor – auf ihre historisch bewährte Rolle als Steigbügelhalter für die Faschisten: Sogenannte Kräfte der Mitte kopieren viele rassistische Forderungen der Rechtsextremen, zwar etwas netter umformuliert, in der Sache jedoch quasi identisch.
Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner möchte in Sachen Migration ohne „Denkverbote“ auch über das Grundgesetz diskutieren[3]; anscheinend hat er noch nie den Begriff „Ewigkeitsklausel“ gegoogelt. Der CDU-Politiker Jens Spahn fordert „physische Gewalt“ gegen „irreguläre Migration“.[4] Und CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz plädiert für „Kontrollzentren“ an den Außengrenzen.[5] Straffällig gewordenen Menschen mit Doppelpass will er die deutsche Staatsbürgerschaft aberkennen[6] (was verfassungswidrig wäre). Weiße deutsche Straftäter:innen sollen selbstverständlich ihre Staatsangehörigkeit behalten. Dies ist genau die Unterscheidung zwischen „echten Deutschen“ und „Passdeutschen“, die Rechtsextreme propagieren.
Von hier ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Forderung, „nicht ausreichend integrierten“ Menschen ebenfalls die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Da Integration und Leitkultur sehr vage Begriffe sind, die immer wieder neu und zunehmend völkisch interpretiert werden, und zudem die AfD eine reelle Chance hat, in absehbarer Zeit an der Regierung beteiligt zu sein, sind die Vorschläge der CDU mehr als besorgniserregend. In einer zukünftigen Regierung mit AfD-Minister:innen wäre dann niemand von uns mehr sicher vor Staatsangehörigkeitsentzug und nachfolgender Ausweisung.
Das letzte Mal, als in Deutschland ein „Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft“ erlassen wurde, war 1933. Vor sieben Jahren hatte die AfD bereits die Neuauflage eines solchen Gesetzes gefordert; jetzt also der CDU-Vorsitzende Merz: Deutlicher kann man den Prozess der Normalisierung rechtsextremer Positionen nicht illustrieren.
Wahlkampf ohne Hemmungen
Seit Neuwahlen anstehen, ist jede Hemmung gefallen. Fast alle Parteien scheinen das Narrativ der AfD übernommen zu haben, dass Migration – also die Beschränkung von Migration – das allerwichtigste Thema sei. Übereinstimmender Tenor: Wenn es weniger Migrant:innen in Deutschland gäbe, hätten „wir“ weniger Probleme, „wir“ hätten mehr Wohnungen, mehr Kitaplätze, mehr Arzttermine. Dass sämtliche Expert:innen in aller Deutlichkeit sagen, dass dies populistischer Unfug ist – egal.
Entlarvend ist überhaupt, wer mit „wir“ gemeint ist – jedenfalls nicht die Gesamtheit der Bevölkerung, von der rund ein Drittel Migrationsgeschichte hat. Mit „wir“ sind offensichtlich nur weiße Deutsche gemeint, auch wenn dies nicht deutlich gesagt wird. So schleicht sich eine völkische Note in die Debatte ein.
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann fordert, dass Ausländer:innen, die eine zweite Straftat begehen, sofort abgeschoben werden sollen, auch wenn es sich bei den Straftaten um Bagatelldelikte wie Schwarzfahren handele.[7] Diese Leute hätten, so Linnemann, ihr „Gastrecht verwirkt“. Gastrecht? Die deutsche Gesetzgebung hat ein Asylrecht im Grundgesetz, ein Aufenthaltsrecht – wo die gesetzlichen Regelungen für Ausländer:innen festgelegt sind – und ein Strafrecht. Ein „Gastrecht“ hingegen existiert nicht. Wer so etwas sagt, suggeriert, Einwanderer würden gegen ein Recht verstoßen, das es gar nicht gibt. Das nenne ich kalkulierte rassistische Hetze.
Die CSU stellt ihren Wahlkampf unter das Motto „Knallhartkurs gegen Migration“[8], und da geht es nicht nur gegen Geflüchtete: Eingewanderte sollen nur in Deutschland bleiben können, wenn sie genug verdienen, was nichts anderes bedeutet als Abschiebung bei Arbeitslosigkeit. Mit diesem Vorschlag liefert die CSU Arbeitgeber:innen eine Steilvorlage, die fortan ihren Angestellten mit Ausweisung drohen können, um Arbeitsrechte zu unterlaufen. Wer aus humanitären Gründen nicht abgeschoben werden kann, soll laut CSU-Landesgruppenvorsitzendem Alexander Dobrindt in „unbefristete Abschiebehaft“ genommen werden.[9]
All diese klitzekleinen Zugeständnisse, die bürgerliche Parteien an die Rechtsextremen machen – die Genfer Flüchtlingskonvention auf den Müll, Menschenrechte ins Klo, EU-Gesetze einfach ignorieren –, bedeuten nichts anderes, als dass sie unsere Rechte, unseren Schutz und unsere Sicherheit zur Disposition stellen. Ein brennendes Streichholz an einem Berg von Benzinkanistern – und wir stehen mittendrin. Damit sind drei Dinge glasklar: Erstens, wir werden nicht als zugehöriger Teil dieser Gesellschaft betrachtet, sondern nur auf Abruf akzeptiert. Zweitens, dieser Wahlkampf ist ein Wettstreit rassistischer Hetze. Drittens, die Konsequenzen für Minderheiten in Deutschland werden billigend in Kauf genommen – oder sind sogar beabsichtigt. Für alle migrantischen Menschen in Deutschland ist dies wirklich gravierend, denn die Folgen dieser Polemik und Entscheidungen gefährden uns direkt. Die Rechten rüsten auf, nicht nur verbal. Es gibt eigentlich keine Partei mehr, die dagegenhält und sich für uns und für ein offenes, vielfältiges Deutschland stark macht. Womit wir wieder bei Hanau wären.
All das, was an Gedenktagen zelebriert wird, ehrt die Toten. Diejenigen, die von Rassist:innen, Antisemit:innen oder antimuslimischen Rassist:innen ermordet wurden. So wie Fatih, Ferhat, Gökhan, Hamza, Kaloyan, Mercedes, Said Nesar, Sedat und Vili. Dank der unermüdlichen Arbeit der Angehörigen und Überlebenden sind die neun Opfer von Hanau nicht in Vergessenheit geraten. Die Stadt Hanau engagiert sich und unterstützt aktiv die Erinnerung. Es ist gut, dass Menschen zusammenkommen, um ihrer zu gedenken.
Das Ritual des Miteinanders kommt jedoch zu spät – wenn die Schüsse gefallen, wenn die Toten begraben sind. Diese neun ermordeten Menschen hätten mehr Respekt, mehr Verständnis und mehr antirassistische Politik benötigt, als sie noch am Leben waren. Es ist kein Zufall, dass die Angehörigen und Überlebenden des Attentats in Hanau Vereine gegründet haben, die sich gegen Rassismus einsetzen, wie die Bildungsinitiative Ferhat Unvar oder die Initiative 19. Februar Hanau.
Welche konkreten Maßnahmen sind ergriffen worden, damit nie wieder – wirklich NIE WIEDER! – jemand aus rassistischen Motiven ermordet wird? Verbot der AfD, Verhaftung von untergetauchten Neonazis, Entwaffnung aller Rechtsextremen? Entlassung aller rechtsradikalen Beamt:innen – Richter:innen, Lehrer:innen, Polizist:innen und natürlich auch bei den Sicherheitskräften wie der Bundeswehr? Überwachung und Zerschlagung aller rechtsextremen Strukturen, von Jugendtreffs bis zu Verlagen? Maßnahmen gegen strukturellen Rassismus, gegen Diskriminierung in Schulen und auf dem Wohn- und Arbeitsmarkt? Verbot von rassistischer Hetze und Hassrede im Internet? Nur ein Bruchteil von alledem wurde umgesetzt, allen salbungsvollen Versprechen zum Trotz. Vielen Vereinen, die sich gegen Rassismus einsetzen, wurden in den letzten Monaten stattdessen die Mittel gekürzt.
Was wird für die Lebenden, was wird für Minderheiten in Deutschland getan? Nur wenig. Im Gegenteil, sie sind eine leichte Zielscheibe: Junge Männer werden von führenden Bundespolitikern wie Lindner öffentlich als „Talahons“[10] geschmäht; Kinder als „Kopftuchmädchen“ und „kleine Paschas“ beschimpft; Geflüchtete, die ihr Wissen und ihr Können im deutschen Gesundheitswesen, im Handwerk und anderswo einsetzen, werden als „Messermänner“ diffamiert und permanent mit Abschiebung bedroht.
Wenn es selbst auf oberster Ebene keine Beißhemmungen mehr gibt, dann haben Rechtsextreme Rückenwind. Sie finden Gehör bei labilen Menschen, die sich leicht radikalisieren lassen. Und irgendwer wird sich dazu berufen sehen, gewaltsam gegen Muslim:innen, Jüd:innen, Sinti:zze und Rom:nja vorzugehen, gegen irgendwelche Ausländer halt. So geschehen in Halle, in Hanau… und an dem nächsten Ort. Rechtsextreme Straftaten haben 2024 einen neuen Höchststand erreicht.[11] Wenn es wieder Tote gibt, wäre das keine Überraschung.
Wir brauchen kein Mitgefühl, sondern Schutz! Als Allererstes muss klar sein, dass wir selbstverständlich zu Deutschland gehören und vor Rassismus, Diskriminierung und Terror geschützt werden müssen. Wer sich als Demokrat:in versteht – das ist immer noch die große Mehrheit –, muss sich nun klar und eindeutig positionieren. Auch gegen die eigene Partei. Wer zündelt, macht ein neues Hanau möglich.
#SayTheirNames: In Gedenken an Fatih, Ferhat, Gökhan, Hamza, Kaloyan, Mercedes, Said Nesar, Sedat und Vili.
[1] „Dafür braucht es einen Knallhart-Kurs“, t-online.de, 25.8.2024, vgl. auch #MerzMail 216: Es reicht!, friedrich-merz.de, 25.8.2024.
[2] Vgl. der-postillon.com, 9.9.2024.
[3] Christian Lindner schließt Änderung des Grundgesetzes nicht aus, zeit.de, 6.9.2024.
[4] Jens Spahn will irreguläre Migration notfalls mit Gewalt aufhalten, zeit.de, 24.10.2024.
[5] Merz fordert ein Bündel an Maßnahmen, tagesschau.de, 5.11.2023.
[6] „Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft müsste dann möglich sein“, welt.de, 8.1.2025.
[7] CDU fordert Abschiebung von Wiederholungstätern ab zweiter Straftat, zeit.de, 30.12.2024.
[8] CSU will „Knallhartkurs“ bei Migration, tagesschau.de, 2.1.2025.
[9] „Er wird dieses Amt nicht weiter ausführen können“, t-online.de, 6.1.2025.
[10] Christian Lindner buhlt jetzt um AfD-Wähler – „Talahons warten auf ihre Kinder“, derwesten.de, 8.12.2024.
[11] Höchststand bei rechtsextremen Straftaten, tagesschau.de, 6.1.2025.