Ausgabe August 1994

Dokumente der Stabilitätskonferenz in Paris am 26. und 27. Mai 1994

I. Schlußdokument zur Eröffnungskonferenz über einen Stabilitätspakt für Europa (Wortlaut)

Auf Initiative der Europäischen Union, die einen entsprechenden Vorschlag des französischen Ministerpräsidenten Balladur aufgriff, fand in Paris am 26. und 27. Mai 1994 die Eröffnungskonferenz über einen Stabilitätspakt für Europa statt. Teilnehmer waren die Mitgliedstaaten der KSZE sowie Vertreter mehrerer internationaler Organisationen. Nachstehend dokumentieren wir das die Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa und die Rechte nationaler Minderheiten hervorhebende Schlußdokument der Konferenz sowie die Vereinbarung über die Einrichtung Runder Tische für das Baltikum und die mittel- und osteuropäischen Länder. D. Red.

Teil 1: Ziele und Grundsätze der Eröffnungskonferenz über einen Stabilitätspakt für Europa

1.1. Wir, die Außenminister und Vertreter der Teilnehmerstaaten der Konferenz, haben beschlossen, in Paris zusammenzukommen, um dem Aufruf der Europäischen Union zum Abschluß eines Stabilitätspaktes für Europa Folge zu leisten.

1.2. Wir stehen heute an einem Wendepunkt in der Geschichte des europäischen Kontinents. Auf dem Wege zu Demokratie, Frieden und Einheit in Europa sind beträchtliche Fortschritte erzielt worden. Die Helsinki-Schlußakte 1), die Charta von Paris 2), das Kopenhagener Dokument 3), das Helsinki-Dokument von 1992 4) sowie bilaterale Abkommen über gutnachbarliche Beziehungen sind Meilensteine in diesem Prozeß. Wir müssen jedoch weiter gehen und dafür sorgen, daß diese Errungenschaften nicht wieder rückgängig zu machen sind.

1.3. Wir sind davon überzeugt, daß die Zeit gekommen ist, neue Impulse zu geben, damit noch bestehende trennende Tendenzen, wie sie die Geschichte des europäischen Kontinents geprägt haben durch vorbeugende Maßnahmen überwunden werden. Wir bekräftigen unseren Willen ein Vertrauensklima zu schaffen, das die Stärkung der Demokratie, die Achtung der Menschenrechte den wirtschaftlichen Fortschritt und den Frieden begünstigt und zugleich die Identität der Völker respektiert.

1.4. Wir begrüßen die Bemühungen, die in Foren wie der KSZE und dem Europarat im Hinblick auf dieses Ziel unternommen werden. Der Europäische Rat hat den assoziierten Ländern aus Mittel- und Osteuropa, die das wünschen, in Kopenhagen den Beitritt zur Europäischen Union in Aussicht gestellt. Und die Länder, die den Beitritt anstreben - Bulgarien, die Tschechische Republik, Estland, Ungarn, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien und Slowakei -, haben bereits entsprechende Schritte zur Annäherung an die Europäische Union unternommen. Mit diesem Ziel vor Augen haben wir beschlossen, eine Konferenz über die Stabilität in Europa abzuhalten, die nach einem entsprechenden Beratungs- und Verhandlungsprozeß in ihrem Rahmen zur Annahme eines Stabilitätspaktes führen soll.

1.5. Zur Erreichung des Ziels der Stabilität müssen die gutnachbarlichen Beziehungen - unter Einbeziehung von Grenz- und Minderheitenfragen - und die regionale Zusammenarbeit gefördert und demokratische Institutionen durch Kooperationsvereinbarungen in den einschlägigen Bereichen, die zu diesem Ziel beitragen können, gestärkt werden.

1.6. Wir sind uns darin einig, daß die für diesen Stabilitätspakt geltenden Grundsätzegutnachbarlicher Beziehungen den Grundsätzen und Verpflichtungen entsprechen, die von den Vereinten Nationen, der KSZE und dem Europarat aufgestellt worden sind, und zwar insbesondere in der Helsinki-Schlußakte, der Charta von Paris für ein neues Europa, dem Kopenhagener Dokument, dem Helsinki-Dokument von 1992 und der Wiener Erklärung des Europaratsgipfels 1993; dies bedeutet Unverletzbarkeit der Grenzen, territoriale Integrität und Achtung der bestehenden Grenzen sowie Schutz nationaler Minderheiten.

1.7. Was die Vorgehensweise anbelangt, so haben wir uns für einen pragmatischen Ansatz entschieden. Die zur Zeit laufenden Beratungen über verschiedene Abkommens- und Vereinbarungsentwürfe könnten auch durch Einbeziehung in den Paktprozeß vorangebracht werden. Unser Ziel ist es, Länder, die noch keine Abkommen und Vereinbarungen über Zusammenarbeit und gutnachbarliche Beziehungen, einschließlich Minderheiten- und Grenzangelegenheiten, getroffen haben, zu ermutigen, dies in einem Prozeß bilateraler Verhandlungen und regionaler Round-Table-Gespräche, deren Teilnehmerkreis und Tagesordnung von den teilnehmenden Ländern frei gewählt werden sollen, zu tun.

1.8. Alle erzielten Abkommen und Vereinbarungen werden in den Stabilitätspakt einbezogen; alle Länder, die diesen Pakt unterzeichnen, verpflichten sich, seinen inhaltlichen Zielen ihre volle politische Unterstützung zu gewähren. Länder, die bereits bilaterale Abkommen mit ihren Nachbarländem getroffen haben, können diese Abkommen, falls sie es wünschen, in den Pakt aufnehmen lassen. Er wird für alle Länder, die ihn schließen, ein wesentlicher Bezugspunkt auf dem Weg zu einer neuen Qualität der Beziehungen zwischen den Völkern von ganz Europa werden; diese neue Qualität soll darauf beruhen, daß Unterschiede respektiert und gemeinsame Werte gewahrt werden.

1.9. Wir hoffen, daß unser Kontinent, der so lange Zeit durch Kriege zerrissen war, der internationalen Gemeinschaft ein Beispiel für die Achtung der Vielfalt geben wird.

Teil 2: Direkt umsetzbare Beschlüsse

2.1. In diesem Sinne haben unsere Länder in den letzten Monaten intensive Beratungen abgehalten, um darüber zu entscheiden, welche Probleme behandelt werden sollen und welche Verfahrensregeln und welcher Zeitplan eingehalten werden müssen, um die Ziele, die wir uns gesetzt haben, zu erreichen. In diesen Beratungen konnten wir uns über die künftige Vorgehensweise einigen. Sie sind ein Zeugnis für den konstruktiven Geist und den Willen zu aktiver Zusammenarbeit und zum Erfolg, der unsere Länder bewegt.

2.2. Davon ausgehend nehmen wir die Bereitschaft der im Punkt 1.4 erwähnten Staaten zur Kenntnis, ihre Beziehungen im Sinne der gutnachbarlichen Beziehungen entsprechend bereits geschlossener Verträge und Abkommen weiterzuentwickeln, bilaterale Verhandlungen fortzuführen oder in Gang zu setzen und an Round-Table-Gesprächen teilzunehmen.

2.3. Wir nehmen ebenfalls Kenntnis von der Bereitschaft der Nachbarstaaten der in Punkt 1.4 erwähnten Länder, am Verhandlungsprozeß teilzunehmen, wenn die Art der behandelten Probleme ihre Teilnahme erfordert, sowie von der Bereitschaft anderer Staaten, ihren Beitrag zu diesem Verhandlungsprozeß zu leisten.

2.4. Wir nehmen zur Kenntnis, daß die Europäische Union bereit ist, in den bilateralen oder regionalen Gesprächen eine aktive Rolle zu spielen. Die Europäische Union erklärt sich bereit, bei den bilateralen Gesprächen als Moderator zu fungieren, wenn die betroffenen Parteien es wünschen. Wir nehmen zur Kenntnis, daß die Europäische Union bereits zur wirtschaftlichen Umstrukturierung und zur Stärkung demokratischer Institutionen in der Region beiträgt und auch bereit ist, den betroffenen Ländern im Rahmen der bestehenden Europa-Abkommen sowie anderer Abkommen und Programme geeignete Unterstützung zu gewähren, um die Verwirklichung der Paktziele zu erleichtern.

2.5. Andere bestehende regionale Strukturen und internationale Institutionen könnten ebenfalls durch ihre Aktivitäten dazu beitragen, konstruktive Zusammenarbeit und gutnachbarliche Beziehungen auf regionaler Ebene zu fördern.

2.6. Wir sind übereingekommen, daß das Verfahren auf dem Konzept der Round-Table-Verhandlungen im Anschluß an das Helsinki-Dokument von 1992 beruhen wird, das auf die regionale Zusammenarbeit als ein wertvolles Mittel zur Förderung pluralistischer Strukturen der Stabilität hingewiesen hat. Diese Round-Table-Gespräche zielen darauf ab, zum einen gutnachbarliche Beziehungen zu fördern und zum anderen festzustellen, welche Projekte für die teilnehmenden Länder von gemeinsamem Interesse sind. Folglich

2.7. sind wir, die Außenminister und Vertreter der Teilnehmerstaaten der Konferenz über eingekommen, regionale Round-Table-Gespräche einzuleiten. Ihre Teilnehmerkreise, die Bereiche der Zusammenarbeit und die Arbeitsweise werden in einem Dokument für die Gestaltung der regionalen Round-Table-Gespräche festgelegt.

2.8. Das Ziel dieser Round-Table-Gespräche ist es, günstige Bedingungen für die Aufnahme und Förderung gutnachbarlicher Beziehungen zu schaffen; hierzu gehören auch Minderheiten- und Grenzfragen.

2.9. Wir nehmen zur Kenntnis, daß die in Punkt 1.4 erwähnten Länder bereit sind, die bestehenden Vereinbarungen über gutnachbarliche Beziehungen in den Pakt mit aufzunehmen, falls die Parteien damit einverstanden sind, oder, wenn solche Abkommen nicht vorhanden sind, die Verhandlungen zu intensivieren bzw. einzuleiten.

2.10. Die in Punkt 1.4 erwähnten Länder, die zu Verhandlungen bereit sind, können Nachbarländer oder andere Länder wie auch einschlägige internationale Organisationen und Institutionen einladen, sich ihren regionalen Round-Table-Gesprächen anzuschließen, falls sie das wünschen, um zum Ausbau der gutnachbarlichen Beziehungen auf bilateraler und auf regionaler Ebene beizutragen.

2.11. Die regionalen Round-Table-Gespräche werden zur frühestmöglichen Gelegenheit auf Einladung der Europäischen Union einberufen werden. Dabei wird die Europäische Union mit der KSZE, die über ihre Institutionen teilnehmen wird, in engem Kontakt stehen.

Teil 3

3.1. Wir bitten die europäischen Institutionen, insbesondere die KSZE und den Europarat, bei der Sicherstellung eines reibungslosen Ablaufs der Verhandlungen behilflich zu sein.

Teil 4: Einschätzung der Verhandlungen

4.1. Wir sind fest entschlossen, unser Ziel, den Abschluß des Stabilitätspaktes, so schnell wie möglich zu erreichen.

4.2. Folglich - wird die Europäische Union eine den interessierten Staaten und der KSZE offenstehende Gruppe einrichten, die während des Verhandlungsprozesses regelmäßig zusammentreten wird, um den Fortgang der Verhandlungen zu gewährleisten und ihren Ablauf zu erleichtern. - Diese Gruppe könnte eine Interimskonferenz einberufen, auf der die bis dahin erzielten Fortschritte beurteilt würden.

Teil 5: Die Schlußkonferenz und die Rolle der KSZE

5.1. Die Schlußkonferenz wird, soweit es der Stand der Verfahren erlaubt, innerhalb eines Jahres nach der Eröffnungskonferenz stattfinden. Dieser Schlußkonferenz wird es obliegen, den Stabilitätspakt anzunehmen.

5.2. Der Stabilitätspakt für Europa soll anschließend der KSZE mit der Bitte anvertraut werden, die Umsetzung der Abkommen und Vereinbarungen und der sich aus ihnen ergebenden Verpflichtungen entsprechend den eigenen Verfahrensregeln zu beurteilen und zu überwachen, wodurch die Folgeaktivitäten und -tagungen in den Aufgabenbereich und organisatorischen Rahmen der KSZE gestellt werden.

5.3. Wir sind uns der politischen Bedeutung des vorgeschlagenen Stabilitätspaktes bewußt und haben die Schlußdokumente als Leitlinie für dieses wichtige Vorhaben angenommen.

1) Im Wortlaut dokumentiert in: "Blätter", 8/1975, S. 899-942 2) Im Wortlaut dokumentiert in: "Blätter", 1/1991, S. 105-114 3) Im Wortlaut dokumentiert in: "Blätter", 8/1990, S. 1008-1021 4) Im Wortlaut dokumentiert in: "Blätter", 10/1992, S. 1270-1276

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