Offener Brief von 155 Professoren der Wirtschaftswissenschaften vom 9. Februar 1998 (Wortlaut)
Einen Monat nachdem vier Professoren ihre Klage gegen den Euro beim Bundesverfassungsgericht abgegeben haben, sorgten 155 Professoren der Wirtschaftswissenschaften mit einem offenen Brief, abgeschickt an die "Frankfurter Allgemeine" und die "Financial Times", für Aufsehen. Die Argumentation pro Währungsunion, die da lautet, bei der Entscheidung über den Euro müßten "letztlich politische, nicht ökonomische Argumente den Ausschlag geben, bekommt nun einen etwas merkwürdigen Beiklang. Die Initiatoren der Erklärung (Wim Kösters, Bochum; Renate Ohr, Hohenheim; Roland Vaubel, Mannheim) um den Bonner Professor Manfred Neumann, seines Zeichens Vorsitzender des Euro-Expertenrats im Bundeswirtschaftsministerium, gehen davon aus, daß mehr als zwei Drittel ihrer Fachkollegen die Einführung der gemeinsamen Währung für verfrüht halten. Wie auch immer, die Mehrheit in der Politik sieht jedenfalls anders aus. Vertreter der Regierung so wie der im Bundestag vertretenen Parteien sprachen sich erneut für den Euro-Fahrplan aus lediglich die PDS lehnt "diesen" Euro ab; die Vorsitzende des Unterausschusses für Währung im Europäischen Parlament, die deutsche SPD-Abgeordnete Christa Randzio-Plath, bezeichnete das Vorgehen der Professoren ("Euro-Brandstifter") als "unlauter und verantwortungslos" (FAZ 10.2.1998). - D. Red.
1. Zur Europäischen Integration gibt es keine Alternative. Die gemeinsame Währung wird dazugehören - jedenfalls für Kerneuropa. Aber der Euro kommt zu früh.
2. Die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte hat Fortschritte gemacht. Jedoch ist sie nicht weit genug vorangetrieben worden, vor allem nicht in den großen Ländern wie Italien, Frankreich, aber auch Deutschland. Der Konsolidierungsprozeß wurde zu spät und nur halbherzig begonnen.Trotz eines ungewöhnlich niedrigen Zinsniveaus und damit günstiger Zinsaufwendungen für die öffentlichen Haushalte und trotz zahlreicher Beispiele kreativer Buchführung ist es gerade den Kernländern nicht gelungen, die vereinbarte Defizitgrenze deutlich und nachhaltig zu unterschreiten. Auch ist die durchschnittliche Schuldenquote in der Europäischen Union seit 1991 nicht gesunken, sondern um 15 Prozentpunkte gestiegen. Sie liegt heute weit über dem Maastricht-Limit. Das widerspricht dem Geist des Vertrages.
3. Der Vertrag verlangt zu Recht Nachhaltigkeit der Konvergenz. Dafür wurde zwar der sogenannte "Stabilitätspakt" erfunden. Er kann jedoch dauerhafte Haushaltsdisziplin nicht gewährleisten. Seine Sanktionsdrohung ist allenfalls glaubwürdig, wenn nur ein einzelnes Land oder sehr wenige Länder betroffen sind. Da Sanktionen nicht automatisch eintreten, dürfte es aber kaum eine qualifizierte Mehrheit für die Anwendung des Paktes geben, wenn eine größere Zahl von Ländern gleichzeitig die Defizitgrenze verletzt. Die Stabilität des Euro kann der Pakt daher nicht sichern.
4. Seit dem Maastricht-Jahr 1991 haben sich zudem die strukturellen Probleme in Europa verschärft. Die Arbeitslosigkeit ist weiter gestiegen. Gerade auch Deutschland und Frankreich - die Motoren der Europäischen Integration - sind nicht gut gerüstet für den verstärkten Strukturwandel und den härteren Wettbewerb in der Währungsunion. Der Euro löst das europäische Beschäftigungsproblem nicht. Da der Wechselkurs in einer Währungsunion nicht mehr als Anpassungsinstrument zur Verfügung steht, müssen die Arbeitsmärkte erheblich flexibler werden - in Deutschland, aber auch anderswo. Hier fehlt jedoch die klare Trendwende. Wenn es nicht vor Beginn der Währungsunion dazukommt, muß mit wirkungslosen Experimenten der Nachfragestimulierung und vor allem auch mit politischem Druck auf die Europäische Zentralbank gerechnet werden.
5. Die derzeitige wirtschaftliche Ausgangssituation ist daher denkbar ungeeignet für den Start der Währungsunion. Eine geregelte Verschiebung um einige Jahre mit gemeinschaftlich vereinbarten Auflagen über zu erreichende weitere Konsolidierungsfortschritte muß ernsthaft als polititische Option in Betracht gezogen werden. Sie wäre keine politische Katastrophe und könnte von niemandem als Signal eines Ausstiegs aus dem Integrationsprozeß gedeutet werden. Der dauerhafte Erfolg des Euro ist wichtiger als der Zeitpunkt seiner Einführung.
6. Eine geregelte Verschiebung wäre für kein Land ein Grund, in seinen Konsolidierungsanstrengungen nachzulassen. Denn damit würde es dokumentieren, daß es sich entweder das Ziel finanzpolitischer Disziplin nicht zu eigen macht oder gar nicht dazu in der Lage ist. Mit einem solchen Land die Währungsunion zu beginnen, wäre ein Kardinalfehler.
7. Scheitert der Versuch, im Konsens eine geregelte Verschiebung zu erreichen, dann muß jedenfalls für eine unnachsichtige Prüfung der Konvergenz gesorgt werden. Dann darf nicht zum Tabu erklärt werden, daß die Währungsunion mit einer kleinen Gruppe von Ländern beginnt. Statt dessen müssen die Konvergenzkriterien auch im Sinne der Nachhaltigkeit so streng wie möglich ausgelegt werden so streng wie es der Vertrag erlaubt. Wer die Konvergenzkriterien nicht ernst nimmt, untergräbt das Vertrauen in die faktische Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank und in die Stabilität des Euro. Die Erwartung eines von Anfang an schwachen Euro - nach innen wie nach außen - wurde den Start der Währungsunion mit einer schweren Hypothek belasten.