Die falschen Versprechen des digitalen Kapitalismus, Teil II

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Wie aber sieht es mit dem Versprechen der Digitalisierung aus, eine ökologische Restrukturierung der Volkswirtschaften durch geringeren Ressourcenverbrauch zu fördern? Optimistischen Berechnungen zufolge könnten elektronische Zeitungen und Bücher Millionen Tonnen Papier einsparen, was theoretisch zu einer Reduzierung der Treibhausgasemissionen um einige Megatonnen führen würde. Allerdings fehlen in solchen Rechnungen meist die dafür benötigten Computer, Smartphones und E-Reader, deren Herstellung und Betrieb ebenfalls CO2-intensiv sind. Ähnliche Berechnungen für andere neue digitale Technologien wie Elektrofahrzeuge oder Smart Homes berücksichtigen keine Glasfaserkabel, Sensoren, Prozessoren, Displays und vieles mehr, für deren Herstellung Rohstoffe in großen Mengen verbraucht werden. Unberücksichtigt bleibt auch, dass bei der Produktion und für den Betrieb dieser Produkte elektrischer Strom benötigt wird und die Entsorgung oder das Recycling älterer und defekter Produkte ebenfalls energieaufwendig ist. Und doch haben all diese Technologien erhebliche Auswirkungen auf die „wirkliche Ökonomie“ von Energie- und Stofftransformationen.
Gewiss könnten neue Materialien auf Kohlenstoffbasis, die leicht und billig sind und Strom mit begrenztem Wärmeverlust leiten, zahlreiche Industrien verändern, darunter die Automobil-, Luftfahrt- und Elektronikindustrie. Zudem schätzt McKinsey, dass Elektrofahrzeuge bis 2030 weltweit etwa 30 Prozent, in China, in der EU und in den USA sogar fast die Hälfte aller verkauften Neuwagen ausmachen könnten. Doch die Umstellung auf Elektroautos und leichte Flugzeuge würde den Verkehr, auf den heute fast die Hälfte des weltweiten Ölverbrauchs und mehr als 20 Prozent der Treibhausgasemissionen entfallen, keineswegs weniger ressourcenintensiv machen.
Vielmehr führte ein Zuwachs bei der Elektromobilität zu einem exorbitant steigenden Bedarf an Kupfer, einem unverzichtbaren Werkstoff für nahezu alle Arten von elektrischen Geräten. Zudem benötigen Elektrofahrzeuge im Vergleich zu Benzinern eine größere Menge an Metallen wie Kobalt, Lithium sowie an schweren wie leichten Seltenen Erden. So rechnet etwa die Schweizerische Investitionsbank damit, dass sich der Batteriemarkt allein durch Elektrofahrzeuge bis 2025 verzehnfachen könnte, was zu einem Anstieg des Nickelverbrauchs um mehr als 40 Prozent und einem mehr als doppelt so hohen Kobaltverbrauch führen würde; auch die Graphitnachfrage würde sich von 13 000 Tonnen im Jahr 2015 auf über 800 000 Tonnen im Jahr 2030 vervielfachen. Würde nur jedes zweite bereits auf dem Markt befindliche kraftstoffbetriebene Auto durch ein Elektrofahrzeug ausgetauscht und setzten sich die aktuellen Trends im weltweiten Absatz fort, so würde allein die Menge der dafür benötigten Metalle die Entwaldung durch den Bergbau rasant beschleunigen und entsprechend höhere ökologische Schäden sowie soziale Konflikte mit der lokalen Bevölkerung verursachen.
Ignoriert wird im Digitalisierungshype fast vorsätzlich, dass viele Metalle und Mineralien schon jetzt als „kritisch“ gelten,[1] nicht allein weil sie für viele verschiedene Zwecke benötigt werden – für die Erzeugung von Energie aus erneuerbaren Quellen, für die Energieübertragung, für militärische Systeme und eben auch für die vielfältigen Anwendungen, die als Digitalisierung von Industrie und Gesellschaft firmieren. Als „kritisch“ müssen diese Metalle auch deswegen betrachtet werden, weil erstens einige unter ihnen – wie etwa Kupfer – bereits physisch erschöpft sind und mit keinen neuen wesentlichen Erkenntnissen über relativ hochkonzentrierte Lagerstätten zu rechnen ist, weshalb wir längst nicht nur von peak oil, sondern auch von peak minerals sprechen sollten.[2] Zweitens wird die Produktion einiger Metalle nicht steigen, sondern eher sinken, zusammen mit ihrer Konzentration in den bestehenden Produktionsstätten. Und drittens dürften die Preise für seltene und stark nachgefragte Metalle in naher Zukunft erheblich anziehen. Infolgedessen werden dann auch weniger konzentrierte Lagerstätten dieser Rohstoffe wirtschaftlich interessant und folglich auch ausgebeutet. Je niedriger jedoch die Konzentration dieser Metalle in der Erdkruste ist, desto größere Mengen giftiger Chemikalien, Wasser und Energie werden für deren Förderung benötigt – mit entsprechenden Folgen für die Natur, die Arbeitnehmer und die Bevölkerung vor Ort. Daher müssen in der Debatte über die Digitalisierung auch Risiken in den Lieferketten von Rohstoffen berücksichtigt werden.
Stromfressende Datenzentren
Aber auch andere Arten der sogenannten Rebound-Effekte[3] sollten in den Blick genommen werden. Dazu gehören nicht zuletzt der Stromverbrauch aller neuen „smarten“ Produkte und die wachsende ICT-Infrastruktur, auf die sich das System stützen wird. Heute ist die Cloud zu einer zentralen Metapher des Internets geworden und Daten werden als „das neue Öl der Weltwirtschaft“ bezeichnet. Aber genau wie das alte fossile Öl haben Daten eine materielle Basis, auch wenn diese weniger sichtbar ist als Bohrtürme in der arabischen Wüste. All jene Webseiten, auf denen Menschen einkaufen, ihre Bankgeschäfte abwickeln, miteinander in Kontakt treten, Bücher ausleihen, ihre politischen Überzeugungen kundtun und von denen im Zeitalter der Digitalisierung die Produktion, der Vertrieb und die Nutzung essentieller Güter und Dienstleistungen abhängen, benötigen eine physische Infrastruktur. Diese besteht aus Telefon- und Glasfaserleitungen, Satelliten und Kabeln am Meeresboden sowie aus riesigen Lagerhallen, die vollgestopft sind mit Hochleistungscomputern, deren Verbrauch an Metall, Energie und Wasser gigantisch ist. Diese Informationsfabriken, die größer sind als moderne Flugzeugträger, heißen Data Centers und sind im Eigentum der Informationshändler Alphabet, Amazon, Apple, Facebook, Google und Microsoft (und in China von Alibaba, Baidu und Tencent).
Das explosive Wachstum digitaler Daten, Big Data, E-Commerce, das Internet of Things und der stetig wachsende Internetverkehr aller Art haben große und kleine Rechenzentren zum Rückgrat der digitalen Wirtschaft werden lassen. Diese Rechenzentren sind einer der am schnellsten wachsenden Stromverbraucher in den OECD-Ländern und einer der wichtigsten Treiber beim Bau neuer Kraftwerke. Im Jahr 2016 verbrauchten Rechenzentren weltweit rund 416 Terrawatt und damit gut drei Prozent des gesamten weltweit zur Verfügung stehenden Stroms, und fortan wird sich ihr Strombedarf voraussichtlich alle vier Jahre verdoppeln: Bis 2025 könnten Rechenzentren dann sogar bis zu einem Fünftel des weltweit verfügbaren Stroms verbrauchen und damit zu einem der größten Umweltverschmutzer dieses Planeten werden.[4] All dies würde dazu führen, dass der CO2-Fußabdruck der gesamten Informations- und Kommunikationstechnik an jenen der Luftfahrtindustrie heranreicht. Noch weit mehr Energie wäre indes erforderlich, wenn die Blockchain-Technologie[5] sich im internationalen Zahlungsverkehr durchsetzen sollte, verbrauchen ihre Transaktionen doch zehntausend Mal so viel Energie wie herkömmliche Finanzsysteme. Dabei ist es keineswegs eine gute Nachricht, dass die Digitalindustrie zunehmend Strom aus erneuerbaren Energiequellen bezieht; denn diese Quellen stehen dann eben nicht mehr für andere Zwecke zur Verfügung.
Verschärfte Rohstoffkonflikte statt Dematerialisierung der Produktion
Vor diesem Hintergrund verbietet es sich, die Digitalisierung als Synonym für eine Dematerialisierung der Produktion zu bewerben und die „4. Industrielle Revolution“ als einen Weg aus der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu feiern, der uns sogar aus den Zwängen der kapitalistischen Verwertungslogik befreien könnte.[6] In der Tat vollzieht sich derzeit eine Wende – weg von fossilen Brennstoffen und einigen erneuerbaren Materialien wie etwa Holz, das für die Papierherstellung benötigt wird, hin zu Metall- und Mineralstoffen, die für die Digitalisierung unentbehrlich sind. Allerdings verlagert sich damit nur der Fokus kapitalistischer Produktion auf andere, ebenso begehrte Rohstoffe, um die heftig gerungen wird.
So hat China, wo derzeit noch immer fast 90 Prozent der Seltenen Erden gefördert und hergestellt werden, bereits damit begonnen, den eigenen Versorgungsbedarf zu priorisieren. In Zukunft wird Peking den Export von Seltenen Erden wohl periodisch oder für längere Zeit einschränken müssen, wenn es denn zum Weltmarktführer in Künstlicher Intelligenz (KI) aufsteigen will. Auch Konflikte um den Zugang zu den größten Lithiumreserven der Welt in Südamerika sind bereits absehbar. Ebenso ist mit einer Zunahme schwerer Menschenrechtsverletzungen in der Demokratischen Republik Kongo zu rechnen, wo sich die weltweit größten Kobaltminen befinden.
Verschärft werden diese neuen Rohstoffkonflikte dadurch, dass die meisten kritischen Metalle über eine überaus niedrige Recyclingquote verfügen; bei den Seltenen Erden liegt diese unter einem Prozent. Hinzu kommt, dass die langlebigen anthropogenen Schadstoffe (beispielsweise Elektronikschrott, neue chemische Verbindungen und Legierungen), die bei der Entsorgung der „intelligenten“ Produkte anfallen, hinsichtlich ihrer Risiken für die menschliche wie außermenschliche Natur noch nicht einmal hinreichend erforscht, geschweige denn „beherrschbar“ sind.
Fest steht aber bereits jetzt: Diesen Gefahren werden überproportional jene Menschen ausgesetzt, die von den Segnungen der „digitalen Revolution“ am wenigsten zu erwarten haben: Menschen in den Ländern des globalen Südens. Denn die Produktion „smarter“ Geräte wird zu einer dramatischen Vervielfachung des Exports von Elektronikschrott aus reichen Industrieländern auf die Deponien Afrikas und Asiens führen. Nur eine Handvoll an Produzenten und ein winziger Bruchteil der Verbraucher in Europa und Nordamerika zeigen bislang überhaupt ein Interesse daran, was mit ihren alten Smartphones, Displays und Computern auf der wilden Müllhalde von Aghogbloshi nahe Accra, der Hauptstadt Ghanas, geschieht. Dort wird etwa das begehrte Kupfer durch das Verbrennen von Elektrokabeln und Schaltkreisen „gefördert“. Der toxische Qualm, der dabei entsteht, vergiftet Mensch und Natur; die Schwermetalle und das Quecksilber, die dabei austreten, fließen zumeist direkt in den Atlantik und haben unter anderem zu einem Fischsterben vor der Küste Accras geführt.
Robotik und KI: Die drohende Automatisierung des Krieges
Doch die Welt wird durch die Digitalisierung nicht nur schmutziger, die technologische Entwicklung schürt obendrein gewalttätiges, kriegerisches Handeln. Geopolitische Konflikte um den Zugang zu jenen Rohstoffen, die für die „4. Industrielle Revolution“ benötigt werden, treten jedoch nicht an die Stelle der anhaltenden Konflikte um Erdöl und Erdgas, sie werden diese in den kommenden Jahrzehnten aber ergänzen und befördern. Hinzu kommt, dass kriegerische Auseinandersetzungen künftig verstärkt mit Hilfe digitaler Technologien geführt werden, mit Robotik und KI. Denn diese sind sogenannte Dual-Use-Technologien, die sich für zivile wie militärische Zwecke einsetzen lassen. Und damit ist auch das dritte Versprechen der Digitalisierung in Zweifel zu ziehen, wonach diese die Welt in ein friedfertigeres Habitat verwandeln soll. Das Internet, das gerade Jahr fünfzig Jahre alt wurde, ist aus einer engen Zusammenarbeit zwischen der US-Regierung, dem US-Militär und einigen amerikanischen Elite-Universitäten hervorgegangen – eine Kooperation, die seit Jahrzehnten aufs Beste funktioniert. Im „Digital-Capital-Military Complex“ spielen heute zuvorderst die Unternehmen des Silicon Valley – allen voran Google, Amazon und Microsoft – eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung und Nutzung von KI-basierten autonomen Systemen.
Diese Systeme sind Dual-Use-Produkte im wahrsten Sinne des Wortes. Dies gilt zuvorderst für alle Varianten der „autonomen Kontrolle“ von Maschinen, Transport- und Fortbewegungsmitteln, die ihre Umgebung mit Sensoren wahrnehmen und dann selbstständig Aktionen durchführen können. Aber auch Technologien, die bereits für den autonomen Gütertransport in Häfen und anderen überschaubaren Gebieten zum Einsatz kommen, werden für die Entwicklung „intelligenter Waffensysteme“ eingesetzt: Sensoren, Bilderkennung, Softwaresysteme für Autopiloten, GPS, große Datenbanken und leistungsstarke Computer.[7]
Gegenwärtig treibt der kommerzielle Sektor den technologischen Fortschritt in der Robotik und KI voran. Besonders gut lässt sich dies am Beispiel von Flugdrohnen studieren. Im zivilen Bereich werden sie vor allem in der Logistik eingesetzt. Sie helfen nicht nur bei der Paketzustellung, sondern auch in der Landwirtschaft und im Energiesektor. Künftig sollen sie zudem bei der Inspektion von Eisenbahngleisen oder bei Arbeiten in schwer zugänglichen Bereichen wie Offshore-Windparks, unterirdischen Pipelines oder stillgelegten Atomkraftwerken eingesetzt werden.
Allerdings kommen Drohnen schon längst auch im Krieg zum Einsatz. Insbesondere in den USA und China schreitet die Entwicklung intelligenter Waffensysteme derzeit rasant voran. Aber auch Russland, Israel, Südkorea und viele andere Länder nutzen bereits die Vorteile von Militärrobotern. Eine zentrale Rolle spielen schon jetzt ferngesteuerte Fluggeräte. Sie werden vor allem in Afrika sowie im Nahen und Mittleren Osten eingesetzt, wo sie selbstständig in ihr Einsatzgebiet fliegen, um aus der Luft feindliche Kämpfer zu töten. Auf dem Boden gewinnen autonome Waffensysteme (AWS) ebenfalls an Bedeutung. So hat die südkoreanische Armee an ihrer Grenze zu Nordkorea bereits seit längerem eine Selbstschussanlage (SGR-A1) installiert; und die Bundeswehr verfügt über das autonome Verteidigungssystem MANTIS, das der Flugabwehr dient. Die USA wollen bis spätestens 2040 autonome Waffen- und Aufklärungssysteme vollständig in die Formation ihrer Armee integrieren; außerdem wird dort an Unterwasserdrohnen für den Einsatz bei der U-Boot-Aufklärung und der Minensuche gearbeitet.
Mit dem Einsatz autonomer Waffensysteme wird sich auch das Kriegsgeschehen gravierend verändern. Bislang entscheiden „in letzter Instanz“ noch immer Menschen, wann und unter welchen Bedingungen Kampfmittel eingesetzt werden. Doch in Zukunft dürfte die KI-gestützte Ziel-Identifikation in Angriffssystemen einen Großteil des Kampfgeschehens bestimmen und Menschen in vielen Kampffunktionen ersetzen. Das militärstrategische Ziel ist dabei schon jetzt erkennbar: Die Kampfmaschine der Zukunft wird unverwundbar sein, denn sie hat keinen verletzlichen menschlichen Körper. Innerhalb von Millisekunden soll sie zwischen Freund und Feind unterscheiden und eine taktische Entscheidung fällen können. Angesichts der moralischen Implikationen, die eine solche Automatisierung der Kriege mit sich bringt, wird es aus technischer Sicht entscheidend, „unanticipated situations“ so weit wie möglich zu minimieren, also jene Situationen, in denen Computerausfälle oder Fehlentscheidungen der Systeme wegen schwieriger äußerer Bedingungen sehr wahrscheinlich sind. Das gilt etwa bei Nebel oder wenn ein Ziel nicht richtig identifiziert werden kann und der Computer daher Schwierigkeiten hat, zwischen einer Zivilistin und einem Kombattanten oder gar Terroristen zu unterscheiden – aber auch, wenn der Computer nicht klar erkennen kann, wann ein Soldat sich ergibt. Vor allem aber ist es für eine Maschine recht schwierig, wenn nicht gar unmöglich, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu folgen, also etwa moralisch zu entscheiden, ob „es sich lohnt“, ein Krankenhaus zu zerstören und 50 Kinder zu töten, um ein ausgewähltes Ziel zu treffen.
Dessen ungeachtet wird auf internationalen Konferenzen längst darüber diskutiert, ob KI-basierte Waffensysteme ohne menschliche Kontrolle nicht ein größeres Maß an Verlässlichkeit und Verantwortlichkeit gewährleisten können, als wenn ein Mensch seine Finger im Spiel hat. Tatsächlich handelt es sich dabei um eine Scheindebatte: Denn es ist fraglich, ob sich menschliche Entscheidungsträger im Notfall gegen den von einer „intelligenten Maschine“ empfohlenen Angriff entscheiden oder ihr nicht einfach blindlings vertrauen werden. Zudem besteht die Gefahr, dass der Einsatz von Maschinen die Abfolge militärischer Operationen enorm beschleunigt, was deren Kontrolle durch die militärische Führung zu einem zunehmend schwierigen Unterfangen macht.[8] Über kurz oder lang droht selbst die Arbeit und Verantwortung des Generalstabs durch technische Verfahren ersetzt zu werden, wie sie bereits auf den internationalen Finanzmärkten angewendet werden. Die Folge wäre eine weitgehend unabhängige Auftragserfüllung durch Computer und Algorithmen. Schließlich dürfte der Einsatz automatischer Waffensysteme auch dazu führen, dass die Hemmschwelle für den Einsatz von Waffen gegen jedwede „Angreifer“ weiter abgesenkt wird.
Die drei Versprechen des digitalen Kapitalismus und ihre verheerenden Kehrseiten zeigen somit eines allzu deutlich: Die Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft wird das Wachstums- und Produktivitätsdilemma des (über-)reifen Kapitalismus nicht auflösen, sie wird den Kapitalismus noch nicht einmal „grüner“ machen und vor allem nicht friedfertiger. Die Erfahrung mit früheren Etappen des sogenannten technologischen Fortschritts lehrt, dass auch Digitalisierung und KI – wenn überhaupt – nur wenig dazu beitragen werden, die drängenden Probleme unserer Zeit zu lösen. Stattdessen dürften die digitalen Technologien mit ziemlicher Sicherheit Konflikte neuen Ausmaßes heraufbeschwören, die gänzlich neuer Lösungen bedürfen.
Für eine Zukunft jenseits des digitalen Kapitalismus
Umso wichtiger wäre daher eine breite öffentliche Debatte über grundsätzliche Fragen, die die Digitalisierung aufwirft. Dazu gehört die „Tyrannei des Überwachungskapitalismus“, die uns zu „dressierten Menschen“ macht.[9] Doch mehr noch wäre zu klären, was denn daran erstrebenswert sein kann, so viele Menschen wie irgend möglich zu ersetzen und überflüssig zu machen – und dies nicht nur als Arbeitskräfte, sondern in vielerlei Hinsicht. Wem ist gedient, wenn Maschinen anstelle von Menschen eingesetzt werden, die Entscheidungen schneller treffen, als wir denken, insbesondere wenn es um den Einsatz tödlicher Waffen geht? Wie können wir die Kontrolle über digitale Infrastrukturen behalten bzw. wiedererlangen und diese so gestalten, dass sie möglichst vielen Nutzern und vor allem sozialen Zielsetzungen dienen? Vor allem aber: Wie könnten Zielkonflikte einer nachhaltigen Lösung zugeführt werden, die sich zwischen wirtschaftlichen Zwecken und ökologischen Zwängen abzeichnen?
Bei alledem ist eine Banalität in Erinnerung zu rufen: Letztendlich entscheiden immer noch Menschen – und noch nicht die Maschinen – über die Weiterentwicklung technischer Systeme. Daher sollten wir die Grenzen für jegliche Form der technischen Weiterentwicklung und Optimierung setzen, die nicht überschritten werden dürfen. Eine „Wende hin zu weniger“ – sei es bei Technologie, Profit oder Konsum –, wie sie von den Mitstreitern der „Postwachstums“-Debatte propagiert wird, wird es im Kapitalismus indes nicht geben. Denn dazu müsste dessen Verwertungsdynamik außer Kraft gesetzt werden. Wer jedoch die als Selbstläufer konstruierte technologisch induzierte Dynamik der Selbstverwertung des Werts verlangsamen, gar außer Kraft setzen wollte, sähe sich heute wie einst beim Beginn des industriekapitalistischen Zeitalters dem Vorwurf der „Maschinenstürmerei“ ausgesetzt.
Dies aber ist ein Vorwurf, den jeder aufgeklärte Geist scheut wie der Teufel das Weihwasser. Wer indes eine Zukunft jenseits des digitalen Kapitalismus noch immer für möglich hält, sollte diesen Vorwurf nicht scheuen. Spätestens seit der Entwicklung der Nukleartechnologie ist es offensichtlich, dass der Glaube des „Homo faber“ an die Möglichkeit unbeschränkter Machbarkeit geradewegs in die Katastrophe führt. Daher heißt es endlich Abschied nehmen von dem Credo „Was immer wir können, müssen wir auch machen“ (Günther Anders).
[1] Vgl. Deutsche Rohstoffagentur, Rohstoffe für Zukunftstechnologien, Berlin 2016.
[2] Vgl. dazu ausführlicher: Elmar Altvater und Birgit Mahnkopf, The Capitalocene. Permament capitalist counter-revolution, in: Leo Panitch und Greg Albo (Hg.), Socialist Register 2019, S. 79-99.
[3] Vgl. Tilman Santarius u.a. (Hg.), Rethinking Climate and Energy Policies. New Perspectives on the Rebound Phenomenon. New York 2016.
[4] Vgl. Anders S. G. Andrae und Thomas Edler, On Global Electricity Usage of Communication Technology: Trends to 2030, in: „Challenges“, 6/1, S. 117-157.
[5] Vgl. dazu: Daniel Leisegang, Bitcoin: Demokratiefeindlicher Irrweg, in: „Blätter“, 12/2017, S. 91-94.
[6] Vgl. Paul Mason, PostCapitalism. A Guide to Our Future, London 2015.
[7] Vgl. Thomas Küchenmeister, Autonome Waffen: Killerroboter außer Kontrolle?, in: „Blätter“, 9/2019, S. 37-40.
[8] Vgl. Michael Klare, Artificial Intelligence and the Future of War, in: „Le Monde diplomatique“, Oktober 2018.
[9] Vgl. Shoshana Zuboff, Der dressierte Mensch. Die Tyrannei des Überwachungsstaats, in: „Blätter“, 11/2018, S. 101-111 .