
Bild: Covid-Intensivstation an der Dresdner Uniklinik, 19.1.2021 (IMAGO / Max Stein)
Als einen „täglichen Ritt auf der Rasierklinge“ umschrieb der Geschäftsführer der Ameos-Kliniken in Sachsen-Anhalt, Freddy Eppacher, die Situation der Krankenhäuser im November. Planbare Operationen mussten abgesagt, Mitarbeiter*innen aus anderen Bereichen abgezogen werden, um Intensivbetten für Corona-Patient*innen frei zu bekommen. Manchmal wurden Erkrankte 40 Kilometer weiter ins nächste Krankenhaus gefahren. „Es ist ein tägliches Jonglieren um einige wenige Betten.“[1] Zum Zeitpunkt des Interviews war die Zahl der Corona-Neuinfektionen erstmals seit Beginn der Pandemie auf über 50 000 gestiegen und alle Alarmglocken schrillten. Dabei hatte sich die in Koalitionsverhandlungen befindliche Ampel zwei Wochen zuvor gerade auf das Ende der pandemischen Notlage verständigt. Was als Signal für den seit fast zwei Jahren herbeigesehnten „neuen“ Normalzustand gedacht war, kollidiert nun mit der zu lange verdrängten pandemischen Wirklichkeit.
Ameos ist eines der in der Krankenhaus- und Pflegelandschaft Deutschlands tätigen privatwirtschaftlichen Unternehmen, das mit der Gesundheit der Menschen Profite zu machen sucht. Es gehört mehrheitlich der in Zürich ansässigen Carlyle-Gruppe, einem der größten privaten Beteiligungsfonds in den USA. Mit inzwischen 93 Einrichtungen hat sich Ameos seit 2011 in mehreren Bundesländern als ein Player auf dem deutschen Gesundheitsmarkt etabliert. Im Februar 2020, kurz bevor das Virus Deutschland erreichte und den ersten Lockdown erzwang, gingen in Magdeburg massenhaft Pflegekräfte gemeinsam mit Ärzt*innen gegen den Klinikbetreiber auf die Straße, weil dieser sich weigerte, Tarifverträge einzuhalten, die Beschäftigten zu Lohnverzicht zwang und Betriebsrät*innen unter Druck setzte.[2] Das, worüber Eppacher nun Krokodilstränen vergießt, ist auch eine Folge der jahrzehntelang forcierten Privatisierung im Gesundheitswesen, mit Begleiterscheinungen, die Beschäftigte wie Patient*innen gleichermaßen auszubaden haben.
Versorgungsdesaster mit Ansage
Seit 18 Monaten stehen die Gesundheitsarbeiter*innen – Pflegekräfte und Ärzt*innen ebenso wie Labor- und Reinigungspersonal – nun an der Corona-Front. Längst sind die Akklamationen von den Balkonen im Frühjahr 2020 verklungen, denn auch Solidarität erschöpft sich, wenn die eigenen Nerven blank liegen und ein zweiter, vielleicht noch schlimmerer Corona-Winter vor der Tür steht. Im Oktober gab es wieder erste Ausbrüche in Pflegeheimen, in deren Folge alte Menschen starben. Dort wird nun wieder die Testpflicht eingeführt, und wenn die Infektionsdynamik noch weiter Fahrt aufnimmt, drohen noch restriktivere Maßnahmen. Gleichzeitig stehen ungeimpfte Mitarbeiter*innen, die das Virus möglicherweise einschleppen, am Pranger, der moralische Druck ist enorm gestiegen. Dass es für das Gesundheitspersonal noch keine Impfpflicht gibt, ist nur auf die Furcht der Politik zurückzuführen, noch mehr Pflegende könnten ihrem Beruf dann den Rücken kehren. Eine Zwangsimpfung, erklärt die Vorsitzende des Deutschen Pflegerats, sei „hochproblematisch“, weil sie „Gegenwehr“ auslösen würde.[3] Ähnlich sieht es der Pflegebeauftragte der Bundesregierung, Andreas Westernfellhaus, der zwar „null Verständnis“ dafür aufbringt, wenn sich Pflegekräfte nicht impfen lassen, aber dennoch gegen eine Impfplicht votiert. Der Deutsche Ethikrat hingegen empfiehlt eine ernsthafte und rasche Prüfung einer berufsbezogenen Impfpflicht in Bereichen, in denen besonders vulnerable Menschen versorgt werden.
Die Befürchtungen einer „Gegenwehr“ sind nicht unberechtigt. Denn die sich seit Wochen steigernden Warnungen vor einem überlasteten Gesundheitssystem, insbesondere in Bezug auf die Intensivstationen, sind keine Folge materieller Knappheit, sondern personellen Mangels. Im Vergleich zur Situation vor einem Jahr stehen in Deutschland mittlerweile 5000 Intensivbetten weniger zur Verfügung, weil Pflegekräfte fehlen, die sie betreuen könnten. Mitte November gab es noch gut 3000 freie Intensivbetten in Deutschland, rund 2800 Corona-Patient*innen wurden intensivmedizinisch betreut. Eine von dem Mathematiker Andreas Schuppert und dem Leiter des Intensivregisters der DIVI, Christian Karagiannidis, verantwortete Modellrechnung[4] ging bei 15,8 Millionen potentiell infektionsanfälligen Menschen im Frühherbst davon aus, dass – selbst wenn die Inzidenz nicht über 250 stiege und das Infektionsgeschehen stark abgemildert würde – bis Ende November mindestens 3500 Patient*innen intensivmedizinisch zu versorgen seien. Inzwischen ist diese Prognose bereits überholt, und die schlimmsten Szenarien prognostizieren 10 000 Corona-Intensivpatient*innen bis Weihnachten. Da diese jünger sind als in den ersten Wellen der Pandemie und – glücklicherweise – seltener sterben, steigt durch die längeren Liegezeiten jedoch der Betreuungsbedarf.
Es ist ein Versorgungsdesaster mit Ansage. Schon im Winter und spätestens nach Ende der dritten Corona-Welle im Frühsommer war absehbar, dass immer mehr Pflegekräfte den Dienst quittieren, sich krankschreiben lassen oder ganz aus dem Beruf aussteigen. Schon unter normalen Bedingungen ist die Arbeit im Krankenhaus oder im Pflegeheim enorm belastend, die Pandemie hat dies nun um ein Vielfaches verstärkt. Eine erste in Deutschland durchgeführte Studie hat ergeben, dass nicht nur das hohe Ansteckungsrisiko und der große körperliche Einsatz, sondern vor allem psychischer Stress durch die Konfrontation mit den sterbenden Patient*innen und ihren Angehörigen die Pflegekräfte über die Grenze ihrer Belastbarkeit gebracht haben.[5]
Fatale Diskrepanz zwischen Berufsethos und Berufsalltag
Dazu kommt das ständige Gefühl der Pflegenden, den eigenen Ansprüchen nicht mehr gerecht werden zu können und die ihnen anvertrauten Patient*innen zu vernachlässigen. „Moralische Verletzung“ wird dieses Phänomen, das aus der Diskrepanz zwischen Berufsethos und Berufsalltag erwächst, genannt. Es ist kein Problem des einzelnen Pflegenden, sondern betrifft das Kollektiv der im Gesundheitsbereich Tätigen: „Ich tat mein Bestes, aber es war nicht gut genug“, ließe sich dieser aus den schlechten Arbeitsbedingungen resultierende Konflikt beschreiben.[6] Eine kürzlich durchgeführte Blitzumfrage der Deutschen Krankenhaus-Gesellschaft (DKG) belegt, dass über die Hälfte der Klinken im vergangenen Jahr mehr Intensivpersonal verloren hat als in den Jahren davor und insbesondere Häuser mit großer Intensivkapazität aufgrund von Kündigung, Arbeitszeitreduktion, internem Arbeitsplatzwechsel oder Krankheit der Pflegekräfte Betten sperren mussten.[7]
Mit Streiks Entlastung erkämpft
Die im Gesundheitsbereich Beschäftigten reagieren inzwischen allerdings nicht mehr nur mit individuellem Rückzug, sie haben auch begonnen, sich gegen die unzumutbaren Arbeitsbedingungen zu wehren. Nicht nur bei Ameos, sondern auch bei großen Klinikkonzernen wie Helios oder Asklepios rumort es. Im Juni 2020 demonstrierte beispielsweise das bundesweite Aktionsbündnis „Keine Profite mit unserer Gesundheit“ in acht deutschen Städten. Im März 2021 streikten die Mitarbeiter*innen der Helios-Kliniken für mehr Lohn. Die Beschäftigten bei Asklepios in Brandenburg sind seit April immer wieder im Ausstand, Mitte November scheiterte die sechste Verhandlungsrunde zwischen dem Unternehmen und der Gewerkschaft Verdi. In Hamburg musste Asklepios die Kündigung einer Betriebsrätin zurückziehen, die es gewagt hatte, in einem Interview über die Missstände in den Krankenhäusern zu berichten. Den längsten und erfolgreichsten Arbeitskampf allerdings können die Beschäftigten der kommunalen und Universitätskrankenhäuser in Berlin verbuchen. Nach einem Ultimatum von 100 Tagen und 31 Tagen Streik setzten sie zuerst bei der Charité, dann beim Klinikverbund Vivantes, der die städtischen Kliniken betreibt, den lange geforderten Entlastungstarifvertrag durch. Allerdings gelang es nicht, die outgesourcten Tochtergesellschaften von Vivantes vollständig unter das Tarifdach des Öffentlichen Dienstes zurückzuholen. Der Streik hat indessen Signalwirkung über Berlin hinaus, weil er auch eine Kampfansage an die Politik war. Seit Jahren versäumen es die Bundesländer, die notwendigen Investitionen in den Krankenhäusern zu tätigen. Diese müssen aus dem laufenden Budget bezahlt werden und verschlingen Mittel, die dann beim Personal fehlen. Auch das hat zur Misere in den Kliniken geführt.
Anhaltender Widerstand von Diakonie und Caritas
Eine lange Geschichte der Verhinderungen und Versäumnisse kennzeichnet auch die Situation in der Altenpflege, wo es aufgrund der enorm zersplitterten Betreiberlandschaft und des geringen Organisierungsgrades der oft Teilzeitbeschäftigten sehr viel schwieriger ist, Arbeitskämpfe zu organisieren. Anfang dieses Jahres standen die Chancen für den von Verdi und dem Arbeitgeberverband BVAP ausgehandelten flächendeckenden Tarifvertrag, für den sich auch Arbeitsminister Hubertus Heil engagiert hatte, gar nicht so schlecht. Doch dann scherte die Caritas als einer der beiden wichtigen konfessionellen Träger mit fadenscheinigen Argumenten aus. Die Diakonie schloss sich an. Im Prinzip geht es ihnen nach wie vor um den Erhalt kirchlicher Sonderrechte, denn nichts fürchten die beiden Arbeitgeber mehr als gewerkschaftlichen Einfluss in ihren Einrichtungen.
Mit einiger Verspätung reagierte Gesundheitsminister Jens Spahn im Rahmen einer Pflegereform.[8] Ab Juli 2022 dürfen Versorgungsverträge nur noch mit Pflegeeinrichtungen abgeschlossen werden, die ihre Beschäftigten nach einem Tarifvertrag oder tarifähnlich bezahlen. Der Arbeitgeberanteil der Rentenversicherung, so das verlockende Angebot an die Pflegedienste und -heime, soll dann aus Steuermitteln bestritten werden. Schon nach Bekanntwerden des Gesetzes kritisierte Verdi, dass die kommerziellen Anbieter sich nun nach Belieben irgendeinen Tarifvertrag aussuchen könnten, der mit einer Pseudogewerkschaft abgeschlossen wird. Ab Mitte nächsten Jahres wird sich zeigen, was das Gesetz für die Mitarbeiter*innen wert ist.
Eine Kehrtwende tut not
„Wir steuern sehenden Auges auf eine humanitäre Pflegekatastrophe zu“, umschrieb die Präsidentin des Deutschen Pflegerats, Christine Vogler, zum Auftakt des Deutschen Pflegetags im Oktober die Situation in der Pflege und forderte, das System insgesamt auf den Prüfstand zu stellen.[9] 4000 Euro Einstiegsgehalt für eine Fachkraft sei angesichts der hohen Belastungen und der Verantwortung des Pflegeberufs angemessen. Nur so sei es möglich, Kräfte, die den Beruf verlassen haben, oder junge Menschen, die einsteigen wollen, (wieder) zu gewinnen. Spahn lobte dessen ungeachtet sich und sein Ministerium für den durchgesetzten Pflegemindestlohn und die gestiegenen Ausbildungsvergütungen. Weitergehende Lehren aus der Coronakrise für die Pflege zieht eine lesenswerte Denkschrift des Kuratoriums Deutsche Altershilfe (KDA). Durch lange, zähe Traditionen, die unter anderem dem christlichen Dienstgedanken und der militärischen Subordination geschuldet sind, sei die Pflege auch heute noch in autoritären Strukturen gefangen, die sich in ihrer Abhängigkeit vom ärztlichen Beruf und der staatlichen Regulierung auf allen Ebenen manifestiere, so die Analyse. Es bedürfe der gesellschaftlichen Anerkennung des essenziellen Beitrags der Pflege für das Gesundheits- und Sozialwesen, einer Erweiterung ihres Gestaltungsspielraums und ihrer Eigenständigkeit, die mit der „‚Kultur‘ der akzeptierten Unselbstständigkeit“ breche und sich auch in der Leistungsvergütung niederschlage.[10]
Was die Autoren aus wissenschaftlicher Perspektive entwickeln, fordert auch Silvya Bühler von Verdi, nämlich eine Kehrtwende in den Krankenhäusern. Einen entscheidenden Schritt in diese Richtung sieht sie in der Einführung bedarfsorientierter Personalvorgaben, die schon lange auf dem Tisch lägen, von Jens Spahn aber „sträflich ignoriert“ worden seien.[11] Ein zweiter Meilenstein wäre die endgültige Abschaffung des DRG-Systems, also der Abrechnung mittels Fallpauschalen, das zu einer enormen Ökonomisierung der Krankenhausbehandlungen führt und schon während der Pandemie teilweise ausgesetzt worden war.
Noch ist nicht bekannt, von welcher Farbe der oder die neue Gesundheitsminister*in sein wird – und ob er oder sie dann endlich Farbe bekennt. Doch nur wenn auf den Balkonapplaus endlich substanzielle Verbesserungen im Pflegesektor folgen, besteht die Chance, der humanitären Pflegekatastrophe zu entgehen.
[1] Krankenhäuser in Mitteldeutschland verschieben geplante Operationen, www.mdr.de, 11.11.2021.
[2] Vgl. Ulrike Baureithel, Klinik am Limit, in: „Der Freitag“, 13.2.2020.
[3] Pflegerat gegen Impfpflicht für Pflegekräfte, www.aerztezeitung.de, 3.11.2021.
[4] Andreas Schuppert und Christian Karagiannidis, Dynamische Entwicklung der Covid-19- Intensivbelegung im Herbst/Winter 2021/22 in Abhängigkeit von den 7-Tages-Inzidenzen, Preprint 2021.
[5] Subjective burden and perspectives of German healthcare workers during the Covid-19 pandemic, in: „European Archives of Psychiatry and Clinical Neuroscience“, 3/2021.
[6] Vgl. NDR-Info-Podcast „Synapsen“, Folge 39: Moralische Verletzung, www.ndr.de, 8.10.2021.
[7] DKG-Umfrage Oktober 2021: Abwanderungen aus der Intensivpflege, www.dkgev.de, 3.11.2021.
[8] Vgl. Thomas Gerlinger, Nach dem Balkonapplaus: Pflegereform ohne Weitblick, in: „Blätter“, 8/2021, S. 33-36.
[9] Pressemitteilung des Deutschen Pflegerats, 20.10.2021.
[10] Thomas Klie, Hartmut Remmers und Arne Manzeschke, Corona und Pflege: lessons learned. Zur Lage der Pflege in einer gesundheitlichen und gesellschaftlichen Krisensituation, August 2021, www.kda.de.
[11] Vgl. Verdi fordert Kehrtwende in der Krankenhauspolitik, www.verdi.de, 11.11.2021.