
Bild: Rishi Sunak und Liz Truss bei einer BBC-Debatte in Hanley, Stoke-on-Trent, 25.7.2022 (IMAGO/Xinhua)
Wer gedacht hatte, Boris Johnsons Rücktritt sei eine Art britischer Zeitenwende, ein klarer Bruch der Konservativen Partei mit dem spezifisch britischen Rechtspopulismus, den Johnson mit dem Brexit auf der Insel eingeführt hat, der wurde schon wenige Tage nach dessen Abtritt eines Besseren belehrt. Dabei war die Hoffnung vieler Briten auf einen „clean break“ zunächst nicht ganz so abwegig, wie sie heute scheint. War doch Johnsons Fall von der eigenen Partei erzwungen worden, nachdem er sich so tief in sein eigenes Lügennetz verstrickt hatte, dass es am Ende auch den konservativen Abgeordneten zu viel wurde, die zuvor seinen für die britische Demokratie und das Land so zerstörerischen Kurs kritiklos mitgetragen hatten.
Doch schon wenige Tage später begann eine 180-Grad-Wende der Partei. Rishi Sunak, der mit seinem Rücktritt als Finanzminister den Sturz des Premiers erst ins Rollen gebracht hatte, wurde als Verräter gebrandmarkt. Er schaffte es zwar noch in die Endrunde um Johnsons Nachfolge, gegen seine Konkurrentin Liz Truss werden ihm aber kaum mehr Chancen eingeräumt. Das hat einen einfachen Grund: Johnson ließ – Trump ganz ähnlich – durch die ihm weiter treu ergebene Boulevardpresse unmittelbar nach seinem Rücktritt erklären, er sei eigentlich unrechtmäßig gestürzt worden und dafür sei im Wesentlichen Sunak verantwortlich. Truss wiederum spürte offenbar schnell, dass diese Dolchstoßlegende zumindest bei den Parteimitgliedern gut ankommt, wo der Premier im übrigen auch weiterhin populärer ist als sie selbst, und so präsentiert sie sich jetzt taktisch erfolgreich als loyale und legitime Johnson-Nachfolgerin.
Auf ihrer Wahlkampftour erklärte Truss zum Beispiel, sie glaube nicht, dass Johnson das Parlament während der „Partygate“-Affäre in die Irre geführt habe, als ob diese unbestrittene Tatsache einfach nur reine Meinungssache sei. Erstaunlicher noch: Sie fügte hinzu, nach ihrem Sieg werde sie den Untersuchungsauschuss, vor dem sich Johnson im Herbst wegen seiner Lügen im Unterhaus verantworten muss, einfach auflösen.
Der für einen kurzen Moment möglich scheinende Selbstreinigungsprozess der Partei ist damit längst verspielt. Und das in einer Situation, in der die Insel im Herbst in eine Wirtschaftskrise schlittern wird, neben der die deutschen Ängste vor höheren Energiepreisen wie müde Luxusprobleme wirken. Eine Krise, die ganz wesentlich auf das Konto der seit zwölf Jahren regierenden Tory-Partei geht und die Liz Truss sogar noch auf die Spitze treiben dürfte, wenn sie bei ihren jetzigen Ankündigungen bleibt, die vor allem weitere Steuererleichterungen für Besserverdienende versprechen. Viele auf der Insel fragen sich bereits jetzt, ob und wie lange Truss, wenn sie denn am 5. September zur Premierministerin gekürt wird, diesen drohenden „Winter of Discontent“ politisch überhaupt überleben kann. Das einzige, was damit einigermaßen sicher erscheint in diesen letzten Sommerwochen des Jahres 2022, ist die ungute Gewissheit, dass Großbritannien auch weiterhin nicht zur Ruhe kommen wird.
Es kracht und knirscht, wohin man auch schaut. Fast scheint es so, als habe Johnson die Bühne noch gerade rechtzeitig verlassen, bevor das ganze Theater zusammenbricht. Die Inflation hat bereits jetzt die seit 40 Jahren nicht mehr erreichte Hürde von 10 Prozent genommen, die Bank of England prognostiziert eine weitere Steigerung auf 13,3 Prozent bis zum Ende des Jahres, die Citi Bank gar 18 Prozent. Gleichzeitig dürften sich die Energiekosten mehr als verdoppeln. Während ein vierköpfiger Haushalt bislang etwa 1200 bis 1600 Pfund pro Jahr für Strom ausgab, könnten das im kommenden April an die 5000 Pfund werden – eine Preissteigerung von fast 300 Prozent. Die Gründe dafür sind vielfältig, wesentlich dazu beigetragen hat die kaum regulierte britische Stromindustrie.[1]
Es droht eine humanitäre Krise
Diese dramatische Verteuerung trifft auf eine schon jetzt zu großen Teilen massiv verarmte Bevölkerung. Die unteren 10 Prozent verlieren durch Inflation und Preissteigerung ab Herbst um die 17 Prozent ihres Netto-Einkommens und da die Briten generell weniger sparen als beispielsweise die Deutschen, dürfte es sich nur um Monate handeln, bis dieser Teil der Bevölkerung in nackte Armut abstürzt. Es trifft aber auch die Mittelschicht: Die University of York geht in einer großangelegten Studie davon aus, dass insgesamt 45 Millionen Briten, also zwei Drittel der Bevölkerung, in diesem Winter ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können und sich verschulden müssen, wenn sie es dennoch tun wollen.[2] Hinzu kommt ein kollabierendes Gesundheits- und Pflegesystem, das schon vor der nächsten, für den Herbst erwarteten Covid-Welle nicht mehr zuverlässig funktioniert. Zwölfstündige Wartezeiten auf einen Rettungswagen sind schon lange keine Ausnahme mehr. Wer diese Hürde als Notfallpatient genommen hat, wartet dann oft noch einmal viele Stunden in der Ambulanz vor dem Krankenhaus, weil dort kein Bett mehr frei ist.[3] Einer der Gründe: Im ganzen Land fehlen 160 000 Pfleger, allein in England zusätzlich über 100 000 Ärzte und Krankenschwestern. Gordon Brown, der ehemalige Labour-Premier warnte unlängst vor einer humanitären Krise, die auf das Land zurolle wie ein Tsunami, sollte die Regierung nicht umgehend nach Lösungen suchen.
In der Downing Street aber ist keiner zu Hause. Boris Johnson, der darauf bestanden hatte, noch bis zum 5. September im Amt zu bleiben, wurde nach einer opulenten Party auf dem Schloss eines Parteispenders zunächst in Slowenien, dann in Griechenland beim Urlauben gesichtet. Derweil erklärte seine potenzielle Nachfolgerin vor laufenden Kameras, sie halte es für „bizarr“, sich bereits jetzt um die drohende Krise zu kümmern, schließlich sei der Wettbewerb um die Nachfolge Johnsons für den gesamten August geplant und dabei bleibe es, Krise hin oder her.
Wenn Truss dann doch gelegentlich durchblicken lässt, wie sie ab September regieren will, schütteln nicht nur Mitglieder der Opposition verzweifelt den Kopf, auch aus der eigenen Partei hagelt es Kritik. Michael Gove – ein Brexit-Veteran, der sicher nicht zum linken Flügel der Tories gezählt werden kann – bezeichnete Truss‘ Plan, neue Schulden aufzunehmen, um Besserverdienende steuerlich zu entlasten, als „Ferien von der Realität“. Ein solcher Plan lasse allenfalls die Aktienwerte der Großanleger in die Höhe schnellen, auf Kosten der ärmeren Bevölkerung, und löse die anstehenden Probleme nicht einmal im Ansatz.
Die Realität ist außer Kraft gesetzt
Nun sind die Tories spätestens seit Thatcher dafür bekannt, sich vor allem um die eigenen Wähler zu kümmern, aber das, was gegenwärtig in Großbritannien geschieht, treibt dieses Muster gefährlich auf die Spitze. Dass es überhaupt so weit kommen konnte, liegt im Wesentlichen an zwei Dingen: Der erste Grund ist die Verschiebung der Partei in den rechtspopulistischen Raum, in dem die Realität einfach außer Kraft gesetzt wurde, womit ein Kompetenzverlust der politisch Agierenden einhergeht. Die Voraussetzung für einen Sitz am Kabinettstisch unter Johnson war der bedingungslose Glaube an sein Kernprojekt, den harten Brexit, dessen für die Wirtschaft überwiegend schädliche Folgen aber nicht benannt und damit auch nicht angegangen werden durften. Ein politisches System, das Macht aber nur für jene verspricht, die die Realität zugunsten eines ideologischen Projekts dauerhaft ignorieren, wird nur in Ausnahmefällen kompetente Figuren oder Experten anziehen. Johnson war das weitgehend egal, solange er unangefochten an der Spitze saß. Und so wurden spätestens seit 2019 die Probleme der britischen Wirtschaft und des Gesundheitssystems immer nur dann überhaupt zu lösen versucht, wenn es gar nicht mehr anders ging. Selbst dann aber kam es nicht zu dringend nötigen, grundlegenden Reformen, sondern nur zu kurzfristigen Maßnahmen, die den Kern des Problems schlicht ignorierten.
Liz Truss geht bei ihren Wahlkampfauftritten sogar noch einen Schritt weiter. Mitte August erklärte sie, der Brexit habe zu überhaupt keinen Problemen für die britische Wirtschaft geführt, und die von ihr als Wirtschaftsministerin abgeschlossenen Handelsverträge seien deutlich besser als die, die Großbritannien zuvor in der EU gehabt hatte.
Beides ist unwahr: Die von ihr verhandelten Verträge mit Drittländern sind im Wesentlichen Kopien der alten EU-Abkommen und da, wo sie davon abweichen, für die heimische Landwirtschaft eine echte Bedrohung, wovor sie im Übrigen auch von ihrem eigenen Ministerium gewarnt worden war.[4] Aber Truss hat sich offenbar entschlossen, rücksichtslos Johnsons Politikstil der kühnen Behauptungen und dreisten Lügen zu kopieren. Wird sie dabei ertappt, leugnet sie ihre vorherigen Aussagen oder vollzieht einen U-Turn.
Die konservativen Parteimitglieder, seit Johnson an derartige Manöver gewöhnt, scheint das wenig zu kümmern. Schlimmer noch: Truss scheint gerade deshalb ihre Favoritin zu sein. Man wählt trotz allem weiterhin eher jemanden, der wider besseres Wissen fantastische Märchen erzählt, als den, der an die bittere Realität erinnert.
Womit wir direkt beim zweiten Grund für die surreal anmutende Untätigkeit der regierenden Tories in diesem seltsamen Sommer sind. Es ist für Truss vorerst völlig egal, welche Probleme die britische Bevölkerung umtreiben. Gewählt wird der oder die Nachfolgerin des noch amtierenden Premiers nämlich nicht vom Volk, auch nicht von den gewählten Parlamentariern, sondern ausschließlich von der sehr kleinen Minderheit der konservativen Parteimitglieder, die mit geschätzt 160 000 Menschen lediglich 0,3 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Diese Parteibasis ist zudem nicht nur mehrheitlich weiß, männlich, eher wohlhabend und im Schnitt 57 Jahre alt[5] – also in keiner Hinsicht repräsentativ für die britische Bevölkerung –, sie ist auch wesentlich radikaler und populistischer als der durchschnittliche Tory-Wähler und die konservativen Parlamentarier. So ergab eine Studie des King’s College in London, dass 72 Prozent der konservativen Parteimitglieder der Aussage zustimmen, dass es für arme und reiche Briten unterschiedliche Gesetze geben solle – gegenüber 5 Prozent der Tory-Abgeordneten. Ähnlich sieht es bei der Todesstrafe aus: Die Hälfte der Parteimitglieder ist klar dafür, unter den Abgeordneten knapp ein Fünftel.[6]
Nun haben die Tories ihre Premiers schon öfter gestürzt und niemand hat diese eigentlich undemokratische Regelung bislang je hinterfragt. Diesmal aber könnte es anders sein. Denn die Tory-Parlamentarier hatten sich klar für den gemäßigteren Sunak ausgesprochen. Sollte Truss das Rennen am Ende gewinnen, würde das bedeuten, dass zum ersten Mal eine nicht-repräsentative, vergleichsweise radikale konservative Parteibasis den nächsten Premier gegen den Willen der gewählten Volksvertreter durchgesetzt hat. Das stünde klar im Gegensatz zur britischen Verfassung, die, auch wenn sie nicht als einzelnes Dokument niedergeschrieben ist, per Konvention deutlich festlegt, dass das Parlament der Souverän im Staat ist und nicht eine Partei bzw. deren Mitglieder, die noch dazu nur einen verschwindend kleinen Anteil der Bevölkerung ausmachen.
Eine Diskussion über die Legitimität ihrer Wahl allerdings dürfte eins der kleineren Probleme für Liz Truss sein, wenn sie denn am 5. September tatsächlich in die Downing Street einzieht. Ignoriert sie die Krise und hält damit ihre Versprechen an die Parteimitglieder, dürfte ihr das Land ziemlich bald um die Ohren fliegen. Vollzieht sie stattdessen einen U-Turn und schnürt im September doch dicke Hilfspakete, dürfte die Parteirevolte gegen sie nicht lange auf sich warten lassen. Und dann ist da natürlich noch Johnson selbst, der, Trump folgend, schon jetzt vom „Deep State“ spricht, der ihn in die Knie gezwungen habe. Ein Mann, der ganz offensichtlich im Hintergrund sein Comeback vorbereitet. „Hasta la vista, baby!“ waren nicht zufällig seine letzten Worte im Parlament.
Brüchiger Gesellschaftsvertrag
Jenseits dieses Personenkults aber haben weder er noch die heutige rechtspopulistische Tory-Partei Lösungen für die von ihnen verursachten Krisen anzubieten. Ganz davon abgesehen, dürfte es im September auch schlicht und einfach zu spät sein, um den auf die Insel zurollenden sozialen Notstand noch nachhaltig aufzuhalten.
Die bekannte Kolumnistin Caitlin Moran sinnierte neulich in der konservativen „Times“, ob die Mächtigen eigentlich vergessen hätten, dass der Gesellschaftsvertrag eines Volks mit seiner Regierung darauf beruhe, dass diese für Sicherheit und Stabilität sorge: „Wenn Du Dir aber Deine verrotteten Zähne selber ziehen und aus Deiner ungeheizten Wohnung in die öffentliche Bücherei vor der Kälte flüchten musst, dann könnte es durchaus sein, dass der nächste Premier erleben wird, dass sein Volk nicht nur seine Rechnungen nicht mehr bezahlen wird, sondern auch den Gesellschaftsvertrag mit seiner Regierung aufkündigt.“[7] Es dauert bekanntlich sehr lange, bis die höflichen Briten die Geduld mit den Regierenden verlieren. In diesem Winter ist aber auch das nicht mehr auszuschließen.
[1]John Burn-Murdoch, The energy bills emergency has barely begun, in: „Financial Times”, 18.8.2022.
[2] Pippa Crerar, Two-thirds of UK families could be in fuel poverty by January, research finds, in: „The Guardian”, 18.8. 2022.
[3] Tom Calver und Shaun Lintern, Deaths rise as A&E crisis leads to ambulance delays, in: „The Sunday Times”, 21.8.2022; Overseas Hiring Spree to bail out care homes, in: „The Times”, 18.8.2022.
[4] Graham Lanktree, UK’s Liz Truss was warned of blow to food sector under Australia and New Zealand trade deals, www.politico.eu, 12.7.2022.
[5] Tim Bale, Paul Webb und Monica Poletti, Grassroots: Britain’s party members: who they are, what they think, and what they do, Queen Mary University of London 2018.
[6] Vgl. The populist gene is firmly encoded in our transatlantic rightwing parties, www.ft.com.
[7] Caitlin Moran, ‚Zombie government‘ is harsh on zombies – at least they have a plan, in: „The Times“, 11.8.2022.