
Bild: Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez während einer Wahlkampfveranstaltung in Málaga, 11.6.2022 (IMAGO/ZUMA Wire, Jesus Merida)
Als EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Mitte September Pläne für eine europaweite Übergewinnsteuer für Energieunternehmen vorstellte, nach der Einnahmen über 180 Euro pro Kilowattstunde mit einer temporären Abgabe belastet werden sollen, muss den spanischen Premier Pedro Sánchez eine Welle der Genugtuung durchlaufen haben. Schließlich hatte wenige Stunden zuvor das Parlament in Madrid auf Initiative seiner Regierung in erster Lesung einen ganz ähnlichen Vorschlag angenommen.
Das spanische „Gesetz zur vorübergehenden Besteuerung von Energieunternehmen und Finanzinstituten“ sieht vor, dass Banken mit Jahresgewinnen über 800 Mio. Euro in den nächsten beiden Jahren 4,8 Prozent auf Nettozinsgewinne und Kundengebühren abführen müssen. Energieunternehmen mit Gewinnen über einer Mrd. Euro sollen jährlich eine Steuer in Höhe von 1,2 Prozent all ihrer Verkäufe zahlen. So sollen die Gewinne, die die führenden Unternehmen durch die kriegsbedingt gestiegenen Gas- und Strompreise bzw. steigende Zinsen erwirtschaftet haben, gerechter verteilt werden.
Während im EU-Vorschlag lediglich die krisenbedingten Übergewinne – also die Differenz der Gewinne aus dem Zeitraum 2019 bis 2021 zu den Gewinnen in der vom Ukrainekrieg gezeichneten Periode – mit 33,3 Prozent abgeschöpft werden sollen, will Spanien also die gesamten Umsätze besteuern. Bei einer Einigung in Brüssel müsste die Besteuerung der spanischen Unternehmen zwar eventuell an den europäischen Rahmen angepasst werden. Aber die Stoßrichtung ist die gleiche: Wer von der Krise besonders profitiert, muss sich auch besonders solidarisch zeigen.
Allein die drei großen spanischen Stromerzeuger Naturgy, Endesa und Iberdrola haben im ersten halben Jahr fast ein Viertel mehr verdient als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Zugleich treiben steigende Energiepreise und eine Inflation von derzeit fast elf Prozent die Lebenshaltungskosten der Spanierinnen und Spanier in die Höhe. Die Last der Krise müsse „gerecht auf alle Schultern“ verteilt werden, so Pedro Sánchez im Parlament.
Bereits im Juni hatte der Sozialist öffentlichkeitswirksam die Übergewinnsteuer angekündigt, als Ergänzung zur bereits seit Oktober 2021 wirksamen Sonderabgabe für Energieunternehmen. Die rechte Opposition aus der konservativen Volkspartei und der rechtsextremen Vox stimmte gegen die Extra-Steuer, aber die Unterstützung des kleineren Koalitionspartners Unidas Podemos, der linken Más Pais sowie der katalanischen, baskischen und galicischen Regionalparteien war Sánchez gewiss. Sieben Mrd. Euro sollen durch die Sondersteuer in den nächsten zwei Jahren in die Staatskasse fließen. Die Verwendung der Einnahmen wird im Entwurf nicht konkretisiert, aber laut Regierung sollen damit Maßnahmen zur Senkung der gestiegenen Lebenshaltungskosten finanziert werden, wie etwa die seit Anfang September wirksame Senkung der Preise im öffentlichen Nahverkehr und Stipendien für Studierende.
Ebenso wichtig wie die Umverteilung der Krisenfolgen ist Pedro Sánchez die Signalwirkung, die das Gesetz in Richtung Europa hat. Hochbefriedigt äußerte er in einem Interview mit dem staatlichen Fernsehen nach der Parlamentsabstimmung, dass die EU nun „endlich“ Spaniens Rezepte übernehme: „Wir fordern bereits seit einem knappen Jahr, im Strom- und Energiemarkt zu intervenieren, Preise […] zu deckeln und stärker die Interessen der Arbeiterklasse und Mittelschicht zu verteidigen.“[1] Das unterstreicht die Rolle, in der sich die spanische Linkskoalition gerne sieht: als Vorreiter progressiver Politik in Europa und als Garant klassischer sozialstaatlicher Prinzipien in Spanien.
Tatsächlich ist Spanien seit dem Regierungsantritt des Sozialisten in der internationalen Politik sehr viel präsenter als zuvor. Im Gegensatz zu seinem konservativen Vorgänger Mariano Rajoy spricht Sánchez fließend Englisch und versteht es, sich auf internationalem Parkett zu bewegen. Der Madrider Nato-Gipfel im Juni geriet mit wirkungsmächtigen Bildern vom Gala-Essen im Prado und freundlich-herzlichen Umarmungen von Amtskollegen zum PR-Coup in Sachen südeuropäischer Gastfreundschaft. Und innerhalb der EU konnte Spanien während der Krisen der vergangenen Jahre erfolgreich seine Positionen durchsetzen. Bereits während der Corona-Pandemie ebnete der spanische Kampf für Corona-Bonds den Weg für den europäischen Next-Generation-EU-Fonds. Mit 70 Mrd. Euro ist Spanien zudem das Land, das am meisten von diesen Hilfen profitiert, auch wenn die Verteilung der Gelder wegen administrativer Flaschenhälse stockt.
Auch in der gegenwärtigen Energiekrise fanden die spanischen Forderungen Gehör. Gemeinsam mit Portugal hat Madrid der EU bei der Strompreisregulierung die sogenannte iberische Ausnahme abgerungen: Während im restlichen Europa immer noch das Gas als derzeit teuerste Energiequelle den Strompreis diktiert, deckelt Spanien die Gaspreise und konnte so die Stromkosten um ein Fünftel senken. Dieses Ausscheren aus den europäischen Marktrichtlinien kann Spanien sich erlauben, weil es sein Gas nicht primär aus Russland bezieht, sondern aus den USA, Nordafrika und Qatar, überwiegend über fünf Flüssiggas-Terminals. Über mehr Aufbereitungsanlagen für Flüssiggas verfügt kein anderes europäisches Land. Vom restlichen Europa ist die iberische Halbinsel, was die Energieversorgung betrifft, zudem weitgehend abgeschnitten.
Licht aus, Heizung runter
Mit den gleichen Argumenten erreichte Spanien eine Ausnahme vom europäischen Gasnotfallplan. Während im Rest der EU 15 Prozent Energie eingespart werden müssen, um die Gasspeicher nicht zu strapazieren, sind es in Spanien nur sieben Prozent. Erreichen will Madrid das unter anderem mit Temperaturvorgaben: Im Sommer durften Innenräume in öffentlichen Einrichtungen und die Gemeinschaftsräume in Hotels sowie Kaufhäuser, Kinos, Büros und Geschäfte auf nicht weniger als 27 Grad gekühlt werden, mit Ausnahmen für die Gastronomie oder Branchen mit körperlich intensiver Arbeit. Im Winter wiederum soll auf nicht mehr als 19 Grad geheizt werden. Dauerhaft geöffnete Türen in Geschäften, die die gekühlte oder aufgewärmte Luft nach draußen entweichen lassen, sind ebenso tabu wie illuminierte Schaufenster nach 22 Uhr. Laut dem Netzbetreiber Red Eléctrica fiel schon in den ersten Tagen nach Inkrafttreten der Verordnung die landesweite Stromnachfrage im Vergleich zur Vorwoche um durchschnittlich fünf Prozent.
Pedro Sánchez versucht sich nun ein weiteres Mal als Impulsgeber für Europa zu inszenieren. Kurz vor der Sommerpause kündigte er an, der EU einen Vorschlag für die Reform des europäischen Strommarktes zu unterbreiten. Dabei soll unter anderem das Merit-Order-Prinzip, nach dem die teuerste Energiequelle den Preis diktiert, revidiert werden. Kommissionspräsidentin von der Leyen weiß der spanische Premier dabei auf seiner Seite. Das verdankt sich allerdings nur zum Teil der Wirkungsmacht des gewieften Marketing-Strategen Sánchez: Seit der Corona-Krise ist weltweit die Bereitschaft zur staatlichen Regulierung bei der Bewältigung von Krisen gestiegen. Auch in der EU finden sich immer weniger Stimmen, die allein auf selbstregulierende Marktmechanismen setzen.
Die »Macht der Mehrheit«
Diese ideologische Trendwende will Sánchez auch innenpolitisch nutzen. Nicht zum ersten Mal berief er sich während der Debatte über die Übergewinnsteuer auf den Erfahrungshorizont der Finanzkrise ab 2008, mit deren wirtschaftlichen und sozialen Folgen das Land teils heute noch kämpft. Mit Blick auf die Nein-Stimmen der Konservativen erinnerte Sánchez in einem Fernsehinterview daran, dass die Volkspartei seinerzeit das spanische Finanzwesen mit einem Milliardenpaket durch die Krise hievte. Die Erinnerung daran ist in Spanien noch sehr präsent: Da die Rettung des Finanzsektors mit massiven Sparmaßnahmen und einer bis heute umstrittenen Arbeitsmarktreform einherging, sorgte sie seinerzeit für öffentlichen Unmut. Die Kritik daran nahm auch die Empörtenbewegung auf, die im Mai 2011 die öffentlichen Plätze besetzte und sich als Verteidiger der Mehrheit, der „99 Prozent“ sah. Einem Großteil der Wählerinnen und Wähler von Unidas Podemos, dem kleineren Koalitionspartner der Sozialisten, sind diese Slogans noch sehr vertraut. Und so war es auch ein Zugeständnis an sie, als Sánchez bei seiner Verteidigung der Übergewinnsteuer auf die Wirkungskraft programmatischer Sätze vertraute: „Die Macht des Geldes ist groß, aber in einer Demokratie gibt es keine größere Macht als die Mehrheit – und deren Interessen wird diese Regierung immer verteidigen.“[2]
Zwar unterschlug Sánchez dabei, dass während der Finanzkrise auch sein Parteikollege und Amtsvorgänger José Luis Rodríguez Zapatero dem Land Kürzungen verordnet hatte, aber die Botschaft ist klar: Die Zeit neoliberaler Wirtschaftspolitik ist vorbei. Stattdessen will Sánchez mit klassisch linken Konzepten punkten. Spanien steht 2023 ein Superwahljahr mit Parlaments-, Regional- und Kommunalwahlen ins Haus. Und Sánchez schielt auch auf die Wählerinnen und Wähler, die zwischen seiner traditionellen Arbeiterpartei und der nicht mehr ganz so neuen Linken schwanken.
Bereits während der Corona-Krise vollzog er mit der „Renta Mínima“, einer von Erwerbsarbeit unabhängigen Grundsicherung, sowie dem Kurzarbeitsprogramm eine Hinwendung zu klassischen sozialstaatlichen Konzepten. Vor allem das bis Ende März 2022 verlängerte Kurzarbeitsprogramm wird inzwischen auch von eher konservativen Medien wie der katalanischen Tageszeitung „La Vanguardia“ hoch gelobt.[3] Tatsächlich zeigt ein Blick auf die makroökonomischen Daten teilweise die Erfolge dieser Politik: Zwar ist die aktuelle Arbeitslosenquote mit 12,6 Prozent relativ hoch, allerdings deutlich niedriger als am Ende des Corona-Jahres 2020, als sie bei 16,1 Prozent lag. Auch der befürchtete Stellenabbau ist nicht eingetreten, im Gegenteil: Stolz verweist die Regierung darauf, dass sich die Zahl unbefristeter Verträge allein im Juli im Vergleich zum historischen Mittel vervierfacht habe.
Die derzeitigen Krisenrezepte folgen dieser Linie, zielen allerdings weniger auf strukturelle Veränderungen und stärker auf die unmittelbare Lebenswirklichkeit ab. Für drei Monate, von September ist Dezember, werden in ganz Spanien die Preise für den öffentlichen Nahverkehr massiv gesenkt. Statt eines universalen Angebots wie des deutschen Neun-Euro-Tickets gibt es ein differenziertes System, von dem vor allem Pendlerinnen und Pendler profitieren sollen: Wer nachweislich auf einer zuvor bestimmten Strecke mindestens 16 Fahrten absolvieren wird, reist künftig gratis. Fahrten unter 100 Minuten mit dem Schnellzug AVE kosten jetzt nur noch die Hälfte. Auch die ÖPNV-Tickets in Großstädten sind, je nach Bezuschussung durch die Lokalregierungen, nur noch halb so teuer. In den ersten zwei Septemberwochen wurden bereits 900 000 kostenlose Mehr-Fahrten-Tickets für Pendler ausgestellt. Die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs in den Ballungsräumen stieg um 27 Prozent.
Kostenlos pendeln, billig einkaufen
Geht es nach dem kleineren Koalitionspartner Unidas Podemos sollen demnächst auch die Preise für eine Auswahl von Grundnahrungsmitteln gedeckelt werden. Die Inflation von knapp 11 Prozent sowie gestiegene Sprit- und Düngerkosten haben die Preise für Lebensmittel in die Höhe getrieben: Um fast 14 Prozent sind sie im August im Vergleich zum Vorjahr gestiegen, darunter auch bei Grundnahrungsmitteln. Besonders dramatisch ist der Preisanstieg bei Speiseöl, das sich um 71 Prozent verteuert hat, bei Mehl und Getreideprodukten (39 Prozent teurer), Milch (über 26 Prozent teurer) und Eiern (über 22 Prozent teurer). Arbeitsministerin Yolanda Díaz von Unidas Podemos verhandelt derzeit mit Verbraucher- und Einzelhandelsverbänden sowie Vertriebsunternehmen über geeignete Möglichkeiten, diese Preise zu deckeln.
Die Pläne stoßen bisher aber auf den massiven Widerstand der Unternehmerverbände. Von „sowjetischer Planung“ sprach Antonio Garamendi, der Präsident des Arbeitgeberverbandes CEOE, die rechte Opposition witterte einen Angriff auf die freie Marktwirtschaft. In der Vergangenheit hat Sánchez nie einen Hehl daraus gemacht, wenn ihm die Pläne der Linken zu interventionistisch waren. Diesmal aber lässt er seine populäre Arbeitsministerin gewähren. Denn selbst wenn die Initiative vom Koalitionspartner ausgeht, könnten auch die Sozialisten von einer Einigung bei einer so grundlegenden Frage wie der Versorgung mit Nahrungsmitteln profitieren.
Und das ist nötig. Denn bisher konnte die Linkskoalition ihre Sozialpolitik kaum in potenzielle Wahlerfolge ummünzen. In Umfragen liegen die Konservativen meist vor den Sozialisten. Analysten führen das auf die Krisenmüdigkeit der Bevölkerung zurück sowie auf den Vertrauensvorschuss, den der neue Chef der Volkspartei Alberto Núñez Feijóo genießt.
Für Prognosen ist es zwar noch zu früh, aber tatsächlich könnte Pedro Sánchez in den kommenden Wochen etwas indirekte Wahlkampfhilfe aus Brüssel bekommen. Denn dass ausgerechnet die konservative EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nun eine Übergewinnsteuer vorschlägt und eine Reform des europäischen Strommarktes fordert, bringt die Europa-Abgeordneten der Volkspartei in Erklärungsnotstand. Wie sollen sie im Europaparlament ein Vorhaben verteidigen, das sie zuhause ablehnen? Pedro Sánchez wird gewiss nicht versäumen, diesen Widerspruch medienwirksam auszuschlachten.
[1] Entrevista a Pedro Sánchez en „La Noche en 24h“, www.rtve.es, 13.9.2022.