Ausgabe November 2022

Vertieft, vertrocknet, vergiftet: Das Elend unserer Flüsse

Der Rhein bei Köln mit einem Pegel von 74 cm, 18.8.2022 (IMAGO/Panama Pictures/Christoph Hard)

Bild: Der Rhein bei Köln mit einem Pegel von 74 cm, 18.8.2022 (IMAGO/Panama Pictures/Christoph Hard)

Wer derzeit in Frankfurt an der Oder über die Promenade schlendert, sieht Bagger auf der polnischen Seite arbeiten. Sie bauen Steinwälle, sogenannte Buhnen, die in den Fluss ragen. Mit den Bauwerken sollen die Wassermassen in die Flussmitte umgeleitet werden, damit sich dort die Fließgeschwindigkeit erhöht und sich die Oder tiefer in ihr Bett eingräbt. Ziel ist eine Wassertiefe von 1,80 Meter, die die Flussschifffahrt praktisch im ganzen Jahr ermöglichen soll. Denn Polen hat Großes vor mit dem Grenzfluss, und dafür muss die Fahrrinne der Oder für Binnenschiffe vertieft werden.

Das Nachbarland plant in Świnoujście (Swinemünde) an der Ostsee einen riesigen neuen Containerhafen, der wenige Kilometer hinter der deutsch-polnischen Grenze jährlich zwei Mio. Standardcontainer umschlagen soll. Die Stadt Świnoujście liegt auf der Insel Usedom, das Container-Terminal soll auf der gegenüberliegenden Swina-Seite gebaut werden, dort, wo es bereits eine Hafenanlage für Flüssigerdgas gibt, ein sogenanntes LNG-Terminal. Und weil die zwei Mio. Container irgendwie ins Landesinnere geschafft werden müssen, funktioniert der Plan nur, wenn die Ware auch über die Oder verschifft werden kann.

Aber das ist nur der kleine Teil des Plans für die Oder. Der größere ist die „Oder-Elbe-Donau-Wasserstraße“, die einen Weg von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer eröffnen soll. Grundlage ist ein Staatsvertrag zwischen Tschechien und Polen, auch Ungarn ist mit an Bord. Das tschechische Verkehrsministerium legte Ende 2018 eine Machbarkeitsstudie vor, nach der das Gesamtprojekt fast 600 Mrd. Kronen (22 Mrd. Euro) kostet. Ende 2020 stellte die Regierung des damaligen Premierministers Andrej Babiš die ersten 15 Mrd. Kronen (550 Mio. Euro) zur Verfügung, mit denen der tschechische Teil der Oder von Ostrava bis zur polnischen Grenze hin schiffbar gemacht werden soll.

Die Elbe ist in Tschechien bereits bis Ústí nad Labem mit Staustufen kanalisiert, riesige Doppelschleusen garantieren, dass vier Schubverbände gleichzeitig angehoben oder abgesenkt werden können. Bei Děčín soll nun eine neue Schleuse gebaut werden, die Umweltverträglichkeitsprüfung ist bereits abgeschlossen. Aber dahinter ist Schluss, auf deutscher Seite ist die Elbe noch nicht so stark zum Kanal reguliert. Im Gegenteil: In Sachsen-Anhalt, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern sind die Elbauen ein solch einzigartiges Landschaftsbiotop, dass sie als Biosphärenreservat unter Schutz gestellt wurden. Die tschechische Flussschifffahrt kommt allerdings immer häufiger zum Erliegen, denn die Elbe hatte auch in diesem Sommer wieder so wenig Wasser, dass im Unterlauf sogar die Autofähren eingestellt werden mussten.

In ihrem aktuellen Zustand ist auf der Elbe Schifffahrt selten länger als sechs Monate möglich. Deshalb verhandelt Tschechien mit Deutschland über ein neues Abkommen, um die Schiffbarkeit der Elbe zu verbessern. Zwar stimmt es, dass eine auf dem Fluss transportierte Tonne Fracht weniger Kohlendioxid verursacht, als wenn diese auf der Straße transportiert würde. „In der Gesamtbetrachtung schneidet die Wasserstraße aber schlechter ab, wenn sie dafür ausgebaut werden muss“, sagte Steffi Lemke, als sie noch nicht Bundesumweltministerin war, sondern grüne Bundestagsabgeordnete aus Sachsen-Anhalt und Mitglied der Parlamentariergruppe „frei fließende Flüsse“. In dieser haben sich Abgeordnete von Union, SPD, Linkspartei, FDP und Grünen zusammengeschlossen, um parteiübergreifend gegen den Flussausbau zu agieren. Denn auch Deutschland investiert etwa in den Donau-Ausbau, insgesamt mehr als eine Mrd. Euro. Noch ist die Donau hinter Straubing auf etwa 70 Kilometern nicht in ein genormtes Korsett gezwängt, es gibt Überschwemmungsflächen, Altarme und fast natürliche Ufer. Doch um die Schifffahrtsverhältnisse zu verbessern, werden seit 2020 zwischen Straubing und Vilshofen Buhnen in den Fluss gebaut, Ufer befestigt, die Sohle ausgebaggert.

Auch die Elbe darf nicht bleiben, wie sie ist, zumindest nicht dort, wo die Deutschen einen ökonomischen Nutzen aus ihr ziehen. Rund um Hamburg wird die Elbe regelmäßig ausgebaggert. Damit die immer größeren Containerschiffe den Hamburger Hafen erreichen können, wird der Fluss eben angepasst. Die jüngste – mittlerweile neunte – Vertiefung wurde Anfang 2022 beendet, Kostenpunkt: rund 800 Mio. Euro. Seit Januar sollen nun Schiffe mit 13,50 Meter Tiefgang auf dem 130 Kilometer langen Elbabschnitt fahren können.

Umweltpolitiker wie der niedersächsische Grüne Stefan Wenzel hatten vor der letzten Elbvertiefung gewarnt, der Mündungstrichter werde verschlicken. Viele Elbfischer hätten wichtige Fanggründe verloren, der Stint, einst wichtigster Fisch, sei im Naturschutzgebiet Elbe und den Inseln nahezu verschwunden. „Die gesamte Be- und Entwässerung des Marschlandes, insbesondere des Obstanbaugebietes ‚Altes Land‘ ist in Gefahr“, so Wenzel. Tatsächlich verschlickt jetzt sogar die Fahrrinne, Baggerschiffe, die dafür sorgen sollen, dass sie mindestens 13,50 Meter tief ist, kommen kaum noch hinterher.

Die Grenze des Machbaren ist überschritten

Baggern, Normen, Stauen – seit jeher hat sich der Mensch die Flüsse zunutze gemacht. Doch jetzt müssen wir erkennen: Die Grenze des Machbaren ist überschritten. Biotope versagen ihren Dienst als Wasserspeicher, Grundwasserleiter trocknen aus, Trinkwasser wird knapp, Lieferketten unterbrechen, weil die Flüsse nicht mehr schiffbar sind. Im Juli 2019 betrug der Elbpegel in Magdeburg nur noch 45 Zentimeter. Am 18. August dieses Jahres fiel der Pegel des Rheins in Emmerich gar auf minus drei Zentimeter, ein neuer Negativrekord. Dass hier auf dem Niederrhein überhaupt noch Schiffe fahren konnten, lag lediglich daran, dass die Fahrrinne immer weiter ausgebaggert worden war.

Die Erderhitzung hat unser gemäßigtes Klima bereits so stark verändert, dass Extremwetter immer häufiger werden und ganze Täler unbewohnbar machen: Simbach am Inn in Niederbayern wurde im Sommer 2016 von einem sogenannten tausendjährigen Hochwasser plattgewalzt, 2017 traf es Goslar im Harz, 2018 erwischte es zuerst das Vogtland, dann Orte in der Eifel. 2019 waren Kaufungen nahe Kassel an der Reihe oder Leißling nördlich von Naumburg an der Saale, 2020 dann das fränkische Herzogenaurach oder Mühlhausen in Thüringen. 2021 folgte das Ahrtal, die Orte an der Erft, an Rur und Ruhr.

Auf der anderen Seite führt zu wenig Wasser zu existenziellen Problemen: Zwei Drittel des Berliner Trinkwassers werden aus Uferfiltrat der Spree gewonnen. Deshalb – so ein Vertrag zwischen Berlin und Brandenburg – sollen mindestens acht Kubikmeter Wasser je Sekunde über die Landesgrenze fließen. Wie aber kann das gelingen, wenn am Pegel Leibsch im Unterspreewald nicht einmal mehr ein halber Kubikmeter Wasser fließt – wie in den Trockenjahren 2018, 2019 oder 2022? Mittlerweile gibt es Pläne, eine Rohrleitung an die Ostsee zu verlegen und das schnell wachsende Berlin mit einer Meerwasser-Entsalzungsanlage zu versorgen.

Goldalge, Quecksilber, Chemikalien: Das Fischsterben in der Oder

Weniger Wasser verändert auch die Flussbiotope, sorgt für eine andere „Flusschemie“. Plötzlich treiben hunderte Tonnen toter Fische auf der Oder. Polens Präsident Andrzej Duda hatte sich Ende August früh festgelegt: „Die Katastrophe in der Oder wurde nicht von Menschen verursacht“, erklärte er. Hohe Temperaturen, niedriger Wasserstand – Duda brachte den Klimawandel als Ursache ins Spiel. Nun gibt es zum Fischsterben gleich zwei Untersuchungsberichte, einen polnischen und einen deutschen. Beide kommen zu dem Ergebnis, dass die Goldalge Prymnesium parvum das massenhafte Fischsterben ausgelöst hat. Eine Zeitlang galten auch Quecksilber, Rückstände aus Lösungsmitteln und andere toxische Chemikalien als mögliche Ursache. Woher die Goldalge, woher Quecksilber und toxische Chemikalien stammen, das sagen beide Berichte indes nicht.

Fest steht jedoch: Die Blüte der Goldalge erzeugt ein Toxin, dass die Atmungsorgane von Kiementieren schädigt. Fische, Muscheln, Schnecken sind qualvoll erstickt. Wie es aber zu der plötzlichen Algenblüte kommen konnte, ist strittig: Die einzellige Mikroalge kommt eigentlich nur im salzigen Meer- oder Brackwasser vor – nicht aber im Süßwasser der Oder. Politiker der polnischen Oppositionspartei Bürgerkoalition hatten aufgedeckt, dass es 282 illegale Einleitungen von Abwässern in die Oder gab, darunter auch salzhaltige aus dem Bergbau. Doch viele Bergbauunternehmen sind in Staatsbesitz und es ist Wahlkampf in Polen – ein Umweltskandal käme der regierenden PiS-Partei da extrem ungelegen: Angler sind hier schließlich ein großes Wählerpotenzial. Der polnische Untersuchungsbericht spricht davon, dass die Wasserqualität der Oder schon in den vergangenen Jahren schlecht war und einen hohen Salzgehalt aufwies. Zudem hätten hohe Temperaturen im Sommer das Wachstum der Alge begünstigt.

Nach Angaben der Wasserbiologin Agnieszka Kolada vom polnischen Institut für Umweltschutz wurden 249 Tonnen Fischkadaver auf der polnischen Seite der Oder eingesammelt, auf deutscher Seite waren es mehr als 100 Tonnen. Eine gigantische Menge, wenn man bedenkt, dass es ein Setzling oder eine Rotfeder selten auf 100 Gramm bringen. „Das kann aber nur die Spitze des Eisberges sein, denn nach dem Platzen der Schwimmblase trieben die meisten toten Fische unter Wasser Richtung Ostsee“, sagt Michael Tautenhahn, stellvertretender Leiter des Nationalparks Unteres Odertal. Und es sind nicht nur die Fische, die in der Oder umgekommen sind. Untersuchungen ergaben, dass die Muschelbänke im günstigsten Fall nur 40 Prozent tote Tiere aufweisen, im ungünstigsten aber über 80 Prozent.

„Muscheln und Schnecken sind die Lunge des Flusses“, sagt Tautenhahn, sie würden die Schwebteile – die unter anderem auf zu viel Dünger oder Gülle aus der Landwirtschaft zurückzuführen sind – filtern und den Fluss auf diese Art reinigen. Ihr Tod wird sich deshalb noch in Jahren bemerkbar machen, denn jetzt gelangen diese Stoffe ungefiltert in die Ostsee und sorgen dort für eine weitere Eutrophierung. Sprich: Das Algenwachstum wird dort stark ansteigen und dem Ostseewasser Sauerstoff entziehen, was dem ohnehin schwer angeschlagenen Binnenmeer weiter zusetzen wird. Schon heute gibt es in der Ostsee sauerstoffarme Totwassergebiete mit einer Fläche dreimal so groß wie Mecklenburg-Vorpommern.

Eine Zeitenwende für hiesige Flüsse?

Es war die deutsche „Bundesanstalt für Wasserbau“ in Karlsruhe, die 2014 im Auftrag der polnischen und deutschen Schifffahrtsverwaltungen ein „Stromregulierungskonzept“ für die Oder erarbeitete. „Eine Verbesserung des ökologischen Potenzials der Grenzoder“ war „kein definiertes Ziel“, heißt es darin. Aber genau das fordert die Wasserrahmenrichtlinie der EU: den Zustand der Gewässer zu verbessern. Deutschland kategorisiert die Oder als „weitgehend unverbauten Fluss“, was die Bundesrepublik verpflichtet, einen „guten ökologischen Zustand“ wiederherzustellen – also den Rückbau von Uferbefestigungen, Steinwällen und anderen Flussbauten hin zu einem natürlichen Ufer. Polen hingegen hat die Oder als vom Menschen „erheblich verändertes“ Gewässer eingestuft. Damit muss lediglich das „gute ökologische Potenzial“ ausgeschöpft werden – und das definiert sich ausschließlich über die Wasserqualität.

„Natürlich kann sich ein Flussbiotop erholen“, sagt Helmut Zahn, einer von noch zwei hauptberuflichen deutschen Flussfischern auf der Oder. Das aber brauche seine Zeit, und zwar ohne neue Katastrophen. Genau die aber sieht er in vollem Gange: Trotz juristischer Auseinandersetzung gehen die Flussbauten zur Vertiefung der Oder auf polnischer Seite unvermindert weiter. Der Fischer vermutet, dass durch die damit verbundenen Aufwirbelungen alter, giftiger Sedimente auch die hohen Quecksilberwerte in den Wasserproben zu erklären sind.

Neben den Bauprojekten setzen zunehmende Dürren den Flüssen immer stärker zu. Die Schwarze Elster, ein 179 Kilometer langer Nebenfluss der Elbe, trocknete 2018 in Brandenburg genauso aus wie die Dreisam vor Freiburg im Breisgau. Deshalb wird vielerorts inzwischen viel Geld investiert, um Wasser wieder länger in der Landschaft zu halten, beispielsweise an der Spree: Ihr Ausbau vor mehr als 100 Jahren wird an vielen Stellen wieder rückgängig gemacht. Die Altarme werden wieder zum normalen Flussbett, die Spree wird dadurch länger. Auch an der Aller in Niedersachsen und an der Havel werden die Uferbefestigungen mit Millionensummen zurückgebaut. Im Juni 2021 verabschiedete der Bundestag gar ein Gesetz, dass eine Zeitenwende einleiten sollte: 150 Jahre lang wurden Ufer befestigt und Flüsse begradigt, damit sie schnell fließen – nun sollen trocken gelegte Auen wieder Wasser speichern, und bis 2050 sollen die Flüsse ihre natürlichen Ufer wiederbekommen. Dafür wurde das Programm „Blaues Band Deutschland“ aufgelegt.

Doch noch lässt die Zeitenwende auf sich warten. Nach dem „Bundesverkehrswegeplan 2030“ sollen in den kommenden sieben Jahren weitere 24,5 Mrd. Euro in die deutschen Wasserstraßen investiert werden: Beispielsweise knapp 400 Mio. Euro in die „Fahrrinnenanpassung der Unter- und Außenelbe“, 48 Mio. in die Flussvertiefung des Mains zwischen Wipfeld und Limbach und mehr als 36 Mio. in die Vertiefung der Außenems. Die Projektliste ist lang. Doch die jüngsten Flusskatastrophen vom Fischsterben in der Oder bis zum negativen Pegelstand im Rhein zeigen eines ganz deutlich: Es ist dringend an der Zeit, die Grenzen der Natur – und speziell der Flüsse als deren Lebensadern – zu respektieren und den auf immer größeren wirtschaftlichen Nutzen angelegten Umgang mit ihnen zu überdenken. Andernfalls stolpern wir von einer Naturkatastrophe in die nächste.

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