Ausgabe Juli 2024

Georgisches Aufbegehren – gegen die prorussische Oligarchie

Protest in Georgien gegen das sogenannte »russische Agentengesetz«. Auf eine Wand gemalte europäische und georgische Flaggen in Tiflis, 14.5.2024 (IMAGO / Scanpix / Martin Pedaja)

Bild: Protest in Georgien gegen das sogenannte »russische Agentengesetz«. Auf eine Wand gemalte europäische und georgische Flaggen in Tiflis, 14.5.2024 (IMAGO / Scanpix / Martin Pedaja)

Als die georgische Regierung im vergangenen Jahr ein Gesetz über ausländische Agenten ins georgische Parlament einbrachte, löste das Massenproteste aus – am Ende musste sie ihr Gesetz wieder zurücknehmen.[1] Damals versprach die Regierung, es nie wieder zur Abstimmung zu bringen. Doch im April brach sie ihr Versprechen und legte das Gesetz dem Parlament erneut vor, unter geändertem Namen, jedoch mit weitgehend identischem Inhalt. Prompt brachen in ganz Georgien abermals Proteste aus – in einem noch nie dagewesenen Ausmaß. Auch die Partner Georgiens, die EU und die USA, empfahlen mit allem Nachdruck, das Gesetz zurückzunehmen. Doch dieses Mal blieb die Regierung bei ihrem Kurs: Das „Gesetz über die Transparenz des ausländischen Einflusses“ trat in Georgien am 28. Mai in Kraft.

Es steht für eine dramatische Richtungsänderung in der georgischen Politik, die sich bereits seit zwöf Jahren vollzieht – innenpolitisch hin zu einem oligarchischen Autoritarismus und außenpolitisch hin zur Orientierung nach Russland. Seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1991 hatte Georgien bis dato die Integration in die EU und die Nato angestrebt und galt – nach den baltischen Staaten – als Vorreiter demokratischer Reformen im postsowjetischen Raum. Als sich 2012 aber Bidsina Iwanischwili und die von ihm gegründete Partei „Georgischer Traum“ (GT) bei den Parlamentswahlen gegen die „Vereinigte Nationale Bewegung“ des damaligen Staatspräsidenten Micheil Saakaschwili durchsetzte, änderte sich dieser Kurs – bis heute ist der GT an der Macht. Kontrolliert wird die Regierungspartei von Iwanischwili, dem reichsten Mann Georgiens. Dessen Vermögen entspricht etwa einem Fünftel des georgischen Bruttoinlandsprodukts. Bis November 2013 regierte er Georgien als Premierminister, danach nurmehr inoffiziell: Während er selbst gelegentlich politisch unbedeutende Ämter ausübt, wie zuletzt das des Ehrenvorsitzenden der Partei, wurden viele Schlüsselminister, wie Ministerpräsidenten und Innenminister, mit Mitarbeitern seiner verschiedenen Unternehmen besetzt. Der jetzige Innenminister etwa war früher Personenschutzchef von Iwanischwili.[2]

Iwanischwili gehört zu einem oligarchischen Netzwerk, das seinen Reichtum in Russland in den Jahren unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion durch zwielichtige Methoden erlangte. Diese aus dem oligarchischen Milieu stammenden Praktiken wie Erpressung, Einschüchterung, Agieren aus dem Hintergrund sowie Korruption in Politik und Justiz hat Iwanischwili fest in der georgischen Politik verankert. Ihm geht es nicht um die staatlichen Interessen Georgiens, sondern um den Ausbau seines persönlichen Vermögens und seiner Macht. Die Aussage des russischen Schachweltmeisters und Dissidenten Garry Kasparow, manche Staaten hätten eine Mafia, aber in Russland habe die Mafia ihren Staat, trifft auch auf Iwanischwili und den georgischen Staat zu. In den vergangenen zwölf Jahren hat er seine Macht immer autoritärer ausgebaut. Heute kontrolliert Iwanischwili das Parlament, die Regierung, die Justiz und die größten Medien des Landes. Da er befürchtet, seine Partei könnte die Parlamentswahlen im Herbst 2024 verlieren, die erstmals als Verhältniswahlen durchgeführt werden, sucht er jetzt nach Wegen, um an der Macht zu bleiben. Mit dem „Transparenzgesetz“ möchte er nun die Zivilgesellschaft als verbliebenen unabhängigen Akteur in der georgischen Politik ausschalten und besonders die Wahlbeobachtungsorganisationen ins Visier nehmen.

»Staatsstreich von oben«

Iwanischwilis Vorgehen kann man durchaus als einen „Staatsstreich von oben“ bezeichnen, wie es auch der Politikwissenschaftler Hans Gutbrod formuliert hat. Es ist ein Staatsstreich, der zunächst ohne Panzer und Armee auskommt und zeitgeistgemäß hybrid geführt wird. Bisher wahrt Iwanischwili den Anschein der Legalität, indem er mit Gesetzen operiert, die zwar unzweifelhaft gegen den Geist der Verfassung verstoßen, sich jedoch immer noch in einer rechtlichen Grauzone bewegen. Dazu gehört auch ein jüngst verabschiedetes Gesetz, das es ermöglicht, Offshore-Vermögen unkontrolliert und unversteuert nach Georgien zu transferieren. Davon profitiert der Oligarch Iwanischwili persönlich, zugleich kann nun aber auch russisches Schwarzgeld problemlos nach Georgien übertragen werden. Iwanischwili will das Land so in einen Standort für Geldwäsche verwandeln, den er kontrolliert – mit Russland als Schutzmacht. Ein weiteres Gesetz, das Iwanischwili nach russischem Vorbild übernehmen möchte, ist das „Gesetz zum Schutz der Familienwerte und der Minderjährigen“. Es sieht unter anderem vor, gleichgeschlechtlichen Paaren die Adoption von Kindern zu untersagen; auch vermeintliche „LGBT-Propaganda“ soll unterbunden werden. Dieses Musterbeispiel politischer Homophobie zielt auf die Beschränkung der Grundfreiheiten und speziell der Meinungsfreiheit ab. Es dient aber auch der Propaganda, soll durch Hetze politische Gegner dämonisieren und die der Orthodoxen Kirche Georgiens nahestehende wertekonservative Wählerschaft mobilisieren.

Wie Putin bedient sich Iwanischwili einer paradoxen Mischung aus nationalistischen, konservativen und antikolonialen Parolen. Er spricht von Souveränität und Würde, die vom Westen eingeschränkt würden, und schürt Homophobie, um konservative Familienwerte zu schützen, die seiner Meinung nach vom westlichen, den Georgiern aufgezwungenen Geschlechterbild bedroht seien. Darüber hinaus spricht er von kolonialen Eliten, womit er georgische NGOs meint, die seiner Ansicht nach im Interesse ausländischer Mächte gegen das eigene Land agierten.

Iwanischwili treibt seinen Staatsstreich von oben allerdings nicht nur mit Gesetzen und Ideologie voran, sondern auch mit Praktiken des Terrors und der Einschüchterung. Niemand weiß, wer die Schlägertrupps sind, die Regimegegner zusammenschlagen, oder woher die Anrufe kommen, die Telefonterror gegen Vertreter der Zivilgesellschaft ausüben. Auch die Hooligans, die Autos und Wohnungseingänge von Regimegegnern mit obszönen Bildern und Inschriften beschmieren, bleiben unentdeckt. Iwanischwili möchte nicht nur die politische, sondern auch die gesellschaftliche Opposition ausschalten. Diese Attacken häufen sich und werden für Oppositionelle zunehmend zum Alltag. Währenddessen nimmt die Polizei Aktivisten bei Demonstrationen zu Dutzenden fest, und die Gerichte verurteilen sie im Schnellverfahren.

Angesichts einer in den vergangenen Jahren dämonisierten und geschwächten Opposition glaubte Iwanischwili, nun den richtigen Zeitpunkt für die Verabschiedung des Transparenzgesetzes und die endgültige Festigung seiner Macht gewählt zu haben. Mit starkem Widerstand rechnete er nicht. Doch sein Kalkül ging in zwei Punkten nicht auf. Bereits die Ankündigung des Gesetzentwurfs brachte Zehntausende Menschen auf die Straßen der Hauptstadt Tiflis und anderer georgischer Großstädte. Weder die Verwandlung Georgiens in ein oligarchisches Regime noch seine Rückkehr hinter den neuen russischen Eisernen Vorhang sind für die Mehrheit der Georgier akzeptabel. Und so wurden die Massenproteste auch nicht von der Opposition und den NGOs initiiert, sondern von der georgischen Jugend getragen, die bisher als völlig unpolitisch galt. Studierende und Schüler gingen auf die Straße, um ihre Zukunft zu verteidigen. Damit ist der Protest keineswegs einer der „liberalen NGOs“, wie manche es darstellen wollen, sondern ein landesweiter Aufstand, an dem ausnahmslos alle Gesellschaftsschichten teilnehmen, friedlich und kreativ. Jede Demonstration verwandelt sich in eine Performance auf der riesigen Bühne der georgischen Städte.

Bruch mit dem Westen

Getäuscht hat sich Iwanischwili, zweitens, in der Reaktion der EU und der USA. Beide haben sich klar gegen das „Transparenzgesetz“ positioniert. Iwanischwili blieben zwei Optionen: entweder einzulenken und Schwäche zu zeigen oder Stärke zu beweisen und den Bruch mit dem Westen in Kauf zu nehmen. Er entschied sich für Letzteres und eskalierte sogar. Das Gesetz wurde in einer noch schärferen Form verabschiedet als ursprünglich angekündigt. Entgegen früheren Beteuerungen, das Gesetz würde Privatpersonen nicht betreffen, ist nun jeder georgische Staatsbürger verpflichtet, im Zuge einer Organisationsüberprüfung seine personenbezogenen Daten, einschließlich der sensibelsten, auf Anforderung der Regierung preiszugeben, erklärt der georgische Jurist Vakhushti Menabde. Andernfalls droht eine Strafe von 5000 Lari (umgerechnet 1700 Euro) – eine Summe, die das Durchschnittsgehalt in Georgien mehrfach übersteigt. Mit diesem Instrument kann nun jeder Aktivist und jede Nichtregierungsorganisation in den finanziellen Ruin getrieben werden, wodurch jegliche Tätigkeit, die von der Regierung als unerwünscht angesehen wird, unterbunden werden kann.

Der dreiste und den diplomatischen Gepflogenheiten völlig unangemessene Ton, den die Mitglieder des GT gegenüber der EU und den USA anschlagen, erinnert an den der Sprecherin des russischen Außenministeriums, Marija Sacharowa, oder russischer Propagandisten wie Wladimir Solowjew oder Margarita Simonjan. Premierminister Irakli Kobachidse sowie andere Mitglieder der regierenden Partei haben auch den deutschen Botschafter in Tiflis verbal angegriffen. Angesichts der Tatsache, dass Deutschland, auch historisch betrachtet, der engste Partner Georgiens in der EU ist, haben die deutsch-georgischen Beziehungen unter Iwanischwili nun einen historischen Tiefpunkt erreicht.

Der Bruch mit dem Westen erfolgt indes vor dem Hintergrund des Versuchs, die Beziehungen zu China – mit dem Bau des Tiefseehafens in Anaklia wurde nun ein von den USA sanktioniertes chinesisches Unternehmen beauftragt – sowie zu den BRICS-Staaten zu stärken. Es wird jedoch deutlich, dass Russland unter diesen Staaten für Georgien eine besondere Rolle spielt.

Auch wenn Russland den GT wegen seines harten Vorgehens in Georgien lobt und der Partei den Rücken stärkt, gibt es weder Garantien noch Gegenleistungen für diese prorussische Haltung. Zugleich hat der GT seinen Wählern im Gegenzug für den vollständigen Bruch mit der EU und den USA nichts zu bieten. Premierminister Kobachidse versuchte zwar, seine Wahlkampagne auf der Idee zu gründen, Georgien könnte Abchasien und Südossetien von Russland als Gegenleistung für einen Bruch mit dem Westen erhalten, aber diesen Versuch hat die russische Seite sogleich abgewiesen.

Außenpolitisch hat das Gesetz für Georgien bereits jetzt Folgen: Während die EU Beitrittsgespräche mit der Ukraine und Moldau eröffnete, legte sie die weitere EU-Integration des Landes auf Eis. Und entgegen den Hoffnungen des GT haben die USA Sanktionen verhängt und weitere angekündigt. Zwar ist die EU dem US-Beispiel noch nicht gefolgt, doch viele Menschen in Georgien hoffen, dass auch Brüssel und insbesondere Deutschland Stärke demonstrieren, insbesondere mit Blick auf die Fußball-EM, die der GT für seine Propagandazwecke nutzen möchte.

Die endgültige Entscheidung über die Zukunft des Landes wird – trotz anhaltender Proteste – bei den Parlamentswahlen 2024 fallen. Zwar befürworten über 80 Prozent der georgischen Staatsbürger die Integration in die EU, doch diese Zustimmung muss noch in Wahlstimmen gegen Iwanischwili umgewandelt werden. Diesem steht jedoch die „administrative Ressource“ zur Verfügung – damit ist nicht nur der repressive Apparat des Staates gemeint, sondern auch die Beamten und Angestellten. Die Regierung droht diesen bei Illoyalität mit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes, was viele Familien in ihrer Existenz bedrohen würde.

Die georgische Präsidentin Salome Surabischwili, die 2018 noch mit großer Unterstützung Iwanischwilis und seiner Partei ins Amt gewählt wurde, jedoch die antieuropäische Wende des Oligarchen nicht mitmachte, erklärte die Wahlen 2024 mittlerweile zu einem Referendum über die europäische Zukunft Georgiens und initiierte die „Georgische Charta“. Diese verpflichtet die unterzeichnenden Parteien, innerhalb eines Jahres ein Reformpaket umzusetzen und anschließend Neuwahlen anzuordnen. Das Reformpaket sieht unter anderem vor, alle Gesetze, die der EU-Integration Georgiens im Wege stehen (wie das Agenten- oder das Offshoregesetz) zurückzunehmen sowie eine Amnestie für alle 2024 politisch Verurteilten zu erlassen. Die Justiz soll sowohl vom politischen Einfluss als auch von der Dominanz des Richterclans befreit werden.[3] Reformiert werden sollen zudem der Hohe Justizrat Georgiens (das Selbstverwaltungsorgan der Justiz), die Staatsanwaltschaft, die einer stärkeren parlamentarischen Kontrolle unterzogen werden soll, das Innenministerium und der Sicherheitsdienst, die beide als Stützpfeiler des Iwanischwili-Regimes gelten, sowie andere Bereiche wie die Zentralbank, die ebenfalls der politischen Kontrolle Iwanischwilis unterliegen. Die Charta gibt der angeschlagenen und zersplitterten Opposition die Chance, geschlossen und mit einem klaren Programm aufzutreten, ohne sich auf eine einheitliche Wahlliste zu verpflichten. Bis jetzt haben sich ihr alle Oppositionsparteien bis auf zwei angeschlossen.

Ob es im Herbst tatsächlich zu fairen und freien Wahlen kommt, ist allerdings fraglich – insbesondere wenn es dem GT gelingt, durch Manipulationen der Gesetze die georgischen Wahlbeobachter auszuschalten. Ebenso ungewiss ist, ob Iwanischwili und seine Partei eine mögliche Wahlniederlage anerkennen würden. Die EU und die USA sollten sich daher darauf vorbereiten, dass Iwanischwili sich an die Macht klammert, etwa indem er die Parlamentswahlen massiv fälscht oder eine eventuelle Wahlniederlage nicht anerkennt und gegen die dann zu erwartenden Massenproteste der georgischen Bevölkerung mit Gewalt vorgeht.

[1] Vgl. Anna Jikhareva, Georgische Träume, georgische Realität, in: „Blätter“, 5/2023, S. 21-24.

[2] Iwanischwili’s companies – the forge for government officials, transparency.ge, 1.5.2015.

[3] Vakhushti Menabde, Der Kampf um das Justizsystem in Georgien, ostwest.space, 31.10.2023.

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