Ausgabe August 2024

Die Aktualität von Srebrenica

Von der Leugnung des Genozids zur »Serbischen Welt«

Gedenken zum 28. Jahrestag des Völkermords von Srebrenica, 11.07.2023 (IMAGO / Pixsell / Armin Durgut)

Bild: Gedenken zum 28. Jahrestag des Völkermords von Srebrenica, 11.07.2023 (IMAGO / Pixsell / Armin Durgut)

Am 11. Juli jährte sich der Völkermord von Srebrenica zum 29. Mal. Eine UN-Resolution hat die Erinnerung an die Gräueltaten jüngst auf eine neue Grundlage gestellt. Derweil unternehmen auf dem Balkan Nationalisten neuerlich den Versuch, großserbische Ambitionen umzusetzen – die Leugnung des Genozids fungiert dabei als Katalysator.

Sommer 1995: In der UN-Enklave in Srebrenica sammeln sich immer mehr verzweifelte Menschen, sie fliehen vor heranrückenden serbischen Einheiten, wähnen sich hier, unweit des unscheinbaren Städtchens im Osten Bosnien und Herzegowinas, einigermaßen in Sicherheit. UN-Soldaten aus den Niederlanden sollen die sogenannte Schutzzone absichern. Doch die Schutzzone fällt. Die UN-Einheiten stehen unter dem Kommando von Oberstleutnant Thomas Karremans, mehrfach erbittet dieser Nato-Unterstützung, die aber bleibt aus. Die Allianz lässt die mangelhaft ausgebildeten UN-Soldaten in der immer bedrohlicher werdenden Lage allein. Mit verheerenden Folgen: Am 11. Juli macht der bosnisch-serbische General Ratko Mladić mit seinen Truppen kurzen Prozess: Jungen und Männer werden systematisch von den Frauen getrennt und umgebracht. Mehr als 8300 Tote – der erste Völkermord auf europäischem Boden nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs.

Orchestrierte Verschleierung der Verbrechen

Um die Verbrechen zu verschleiern, gehen die Täter anschließend mit großer Präzision vor: Die Überreste der Ermordeten werden zunächst vor Ort verscharrt und später an immer neue Orte verbracht. Die gezielte Vertuschung der Verbrechen erschwert die Suche nach den sterblichen Überresten bis heute. Noch immer versucht die internationale Kommission für vermisste Menschen mit DNA-gestützten Analysen mühsam die im Land verteilten Leichenteile aufzuspüren, zu identifizieren und somit die lange Suche der Angehörigen nach ihren Familienmitgliedern zu beenden. Regelmäßig werden sterbliche Überreste der Toten an unterschiedlichen Stellen gefunden, mitunter liegen die Fundorte mehr als 50 Kilometer voneinander entfernt.[1] Trotz der orchestrierten Verschleierungspolitik hat das Internationale Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag (ICTY) in etlichen Urteilen die Auslöschungsabsichten der relevanten Akteure festgestellt. Ex-General Ratko Mladić wurde 2017 vom Haager Tribunal unter anderem wegen Völkermords verurteilt – nachdem er sich jahrelang sowohl in Bosnien und Herzegowina als auch in Serbien versteckt gehalten hatte.[2]

Auch der ehemalige bosnische Serbenführer Radovan Karadžić wurde wegen des Genozids und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vom UN-Tribunal letztinstanzlich zu lebenslanger Haft verurteilt.[3] Beiden wurde zudem der mehr als dreijährige Beschuss der Hauptstadt Bosnien und Herzegowinas zur Last gelegt. Zivilisten wurden in dieser Zeit beim Einkaufen, beim Wasserholen, Kinder beim Spielen regelrecht hingerichtet. Die Belagerung Sarajevos, bei der die serbischen Angreifer nicht zwischen Militärs und Zivilisten unterschieden, gilt als längste Belagerung in der jüngsten Militärgeschichte.[4]

Botschaft des ICTY: Verbrechen werden gesühnt, egal wie spät

Auch wenn die Urteile gegen Mladić und Karadžić mehr als 20 Jahre nach den begangenen Gräueltaten gefällt wurden, ging von den Haager Richtersprüchen eine wegweisende Botschaft aus: Egal wie lange die Täter sich dem Zugriff der internationalen Strafverfolgung entziehen – die Verbrechen werden dennoch gesühnt.

Dabei wurden vom UN-Tribunal nicht nur die Verbrechen der bosnisch-serbischen Täter geahndet, sondern auch die Verantwortung Serbiens bestätigt: Serbiens Machthaber Slobodan Milošević hatte rigoros die Schaffung eines Großserbiens betrieben, systematisch wurden bosnische Gebiete „gesäubert“, Hunderttausende Menschen wurden vertrieben, getötet, Zehntausende Frauen und Mädchen vergewaltigt[5], die meisten von ihnen Bosniakinnen. Mit den Schuldsprüchen legte das ICTY eine neue Grundlage zur Anerkennung von sexualisierter Gewalt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit.[6] Die systematische Anwendung sexualisierter Gewalt als Kriegswaffe war Teil der genozidalen Politik, deren Kulminationspunkt der Völkermord von Srebrenica darstellte.

Obwohl Milošević vor einer Verurteilung in Den Haag in Haft verstarb, wurde die Kausalität seiner Politik für die in Bosnien und Herzegowina begangenen Verbrechen zweifelsfrei festgestellt. Nicht zuletzt belegten die Schuldsprüche gegen die beiden ehemaligen Mitarbeiter des serbischen Staatssicherheitsapparates Jovica Stanišić und Franko Simatović, dass hochrangige Vertreter Serbiens in die brutalen Kriegsverbrechen auf bosnischem Boden verstrickt waren.

Am Anfang stand die Ausrufung der Republika Srpska 1992 – der serbisch dominierte bosnische Landesteil ist in seiner heutigen Verfasstheit das Resultat der gezielten Vernichtung und Vertreibung aller Nichtserben. Obwohl es Berichte über die fortgesetzten Gewaltexzesse gab, hatte sich die Weltgemeinschaft lange nicht dazu durchringen können, die Täter zu stoppen. Erst nach dem Gewaltexzess in Srebrenica setzte die internationale Gemeinschaft auf Verhandlungen zur Beendigung des Krieges. Mit dem Friedensabkommen von Dayton[7] wurden die dreieinhalb Jahre währenden Kampfhandlungen beendet, die undemokratischen und ethnonationalistischen Machtstrukturen jedoch zementiert.

Statt einer Katharsis, eines Neuanfangs erleben Bosnien und Herzegowina sowie die Region des Westbalkans nun eine gefährliche Radikalisierung der Agenden. Die Kriegsverbrecherurteile finden so gut wie keinen Echoraum, selbst verurteilte Täter gelten als Helden. Somit existiert eine Kontinuität der völkischen Ideologien – die toxischen Narrative laden sich neuerlich gefährlich auf.

Speerspitze der Radikalisierung: Banja Luka und Belgrad

Die Führungen in Banja Luka unter Milorad Dodik, Präsident der Republika Srpska, wie auch in Belgrad unter Präsident Aleksandar Vučić setzen dabei gezielt auf die Leugnung des Genozids von Srebrenica. Dieser geschichtsrevisionistische Ansatz fungiert als Katalysator für eine gezielte Hass- und Segregationspolitik mit dem Ziel, die großserbischen Machtansprüche der 1990er Jahre weiterzutreiben. Der neue Spin heißt „Serbische Welt“ (Srpski Svet) – de facto ein Revival der großserbischen Politik von Slobodan Milošević.

Das politische Konzept der „Serbischen Welt“ sieht vor, die Serben auf dem Balkan in einem Land zusammenzuführen.[8] Dabei sind die Parallelen zum Putinschen Ideengebäude der „Russischen Welt“ (Ruski Mir)[9] evident – ein Konstrukt, mit dem der Kreml den Angriffskrieg auf die Ukraine ideologisch unterfütterte. Denkt man das Konzept „Serbische Welt“ zu Ende, erscheint die Schaffung eines Staates für alle Serben erneut einzig durch Gewaltakte realisierbar, auch wenn versichert wird, man strebe eine „friedliche Lösung“ an. Fest steht: 29 Jahre nach Ende des Bosnienkrieges sind die ideologischen Konstrukte, die zum Völkermord führten, so stark wie nie. Neuerlich entfalten sie ihre destruktive Wirkung.

Um diesen Entwicklungen entgegenzuwirken, brachten Deutschland und Ruanda bei den Vereinten Nationen eine Resolution ein, die im Mai 2024 in der Vollversammlung zur Abstimmung kam. Schließlich stimmten 84 Länder für einen internationalen Srebrenica-Gedenktag, 68 enthielten sich. Serbien votierte dagegen, ebenso China, Russland, Ungarn und 15 weitere Staaten.

Zuvor hatte Präsident Vučić in Serbien öffentlichkeitswirksam gegen die Resolution agitieren lassen.[10] Am Tag der Abstimmung hüllte er sich in die serbische Fahne und zeigte im New Yorker Sitzungssaal den nationalistischen Drei-Finger-Gruß. Wie weit Serbien davon entfernt ist, historische Tatsachen anzuerkennen, bewies auch das Statement des stellvertretenden serbischen Ministerpräsidenten, der die Abstimmung zu einem „Verbrechen gegen Serbien“[11] umdeutete.

Neue Eskalationsspiralen

Als Reaktion auf die UN-Resolution beriefen Vučić und Dodik im Juni 2024 in Belgrad eine „Allserbische Versammlung“ ein. Das Treffen mündete in einer „Deklaration zum Schutz der nationalen und politischen Rechte und der gemeinsamen Zukunft des serbischen Volkes“. Serbiens Präsident betonte zudem, man werde die Republika Srpska nicht aufgeben.[12]

Spätestens nach der Versammlung steht zweifelsfrei fest: „Srpski Svet“ stellt eine Kampfansage an die bestehende Friedensordnung auf dem Balkan dar. Ganz so, wie Wladimir Putin die „Schutzrolle“ für russische Bevölkerungen[13] außerhalb des russischen Staates instrumentalisiert, stellt Serbien mit dem Konzept der „Serbischen Welt“ die Souveränität und Existenz der Nachbarstaaten offen infrage.

Eine Antwort der internationalen Gemeinschaft auf die großserbische Machtdemonstration blieb – wie so oft – aus. Der aggressive Ethnonationalismus kann sich auf diese Weise immer weiter Bahn brechen. In Serbien wird im öffentlichen Raum mit Graffitis dem Kriegsverbrecher Mladić gehuldigt, Anhänger serbischer Fußballmannschaften laufen mit T-Shirts ihres „Helden“ auf oder zeigen Banner, die etwa Angriffe auf das Nachbarland Kosovo propagieren („When the army returns to Kosovo“).[14]

Wer die Täter als Helden feiert, glorifiziert auch die begangenen Verbrechen. Diese Kultur der Gewaltverherrlichung wird sowohl in Belgrad als auch in Banja Luka bewusst gefördert, nicht zuletzt, da sich die politischen Akteure mit diesen Instrumenten der Wählermobilisierung an der Macht halten. Dazu stellte die Kommissarin für Menschenrechte des Council of Europe in einem Bericht 2023 fest: Das Versagen, sich mit den Verbrechen und den Hintergründen des Konflikts auseinanderzusetzen, habe „katastrophale Konsequenzen“ für den Umgang mit Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und das Zusammenleben in der Region.[15] Eine Neuauflage von Gewaltexzessen, ähnlich wie in Srebrenica in den 1990er Jahren, erscheint nicht mehr ausgeschlossen.

Leugnung – die letzte Phase des Völkermordes

Die Gesellschaft für bedrohte Völker weist in diesem Kontext auf die Gefahr hin, die insbesondere von der Leugnung des Völkermordes ausgeht. Sie sei die „letzte Phase des Völkermordes“, angelehnt an das Modell des Genozid-Forschers Gregory Stanton[16]: „Die letzte Phase spricht den Überlebenden erneut das Lebensrecht ab, führt zu Retraumatisierung und bildet die Grundlage für neue Gewaltexzesse.“[17]

Alarmierend erscheint vor diesem Hintergrund vor allem die zunehmende Zahl von Angriffen auf nichtserbische Rückkehrer in der Republika Srpska: Die Rückkehr der ehemals Geflüchteten bzw. Vertriebenen in ihre Wohnorte galt unmittelbar nach Ende des Bosnienkriegs als eine der wichtigsten Bedingungen, um einen tragfähigen Aussöhnungsprozess zu gewährleisten; formuliert wurde dieses Ziel im Daytoner Friedensabkommen (Annex 7).[18]

Angesichts des sich immer brachialer zeigenden aggressiven Nationalismus verschlechtern sich nun wieder die Bedingungen für ein multiethnisches und friedliches Miteinander. Neben den Rückkehrern werden auch andere Akteure immer mehr zum Spielball nationalistischer Provokationspolitik: So sehen sich der Leiter des Srebrenica Memorial Centers, Emir Suljević und sein Team, die die Erinnerungskultur zum Genozid in den vergangenen Jahren auf ein internationales Niveau[19] hievten, behördlichem Druck ausgesetzt.

In diesem Zusammenhang zeigt sich insbesondere das Versagen der internationalen Gemeinschaft: Im Friedensabkommen von Dayton 1995 belohnten die Verhandlungsführer unter Leitung des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton die (bosnisch)-serbischen Einheiten für die von ihnen begangenen Verbrechen mit der Schaffung einer eigenen „Entität“ (Landesteil). Fatalerweise liegt Srebrenica daher heute in der Republika Srpska, deren politische Führung den Genozid leugnet. Mit diesen Unzulänglichkeiten des Friedensschlusses wurde zugleich eine verheerende Botschaft ausgesandt: Terror gegen Zivilisten, Vertreibungen, Morde und Massenvergewaltigungen lohnen sich.

Statt, wie ursprünglich angedacht, das Friedensabkommen abzuändern, ließ die internationale Gemeinschaft das Werk bis zum heutigen Tag unangetastet und zementierte damit jenen Ethnonationalismus[20], der damals zum Bosnienkrieg geführt hatte und nun neuerliche Radikalisierungen und Teilungsabsichten provoziert. Immerhin sorgte der damalige Hohe Repräsentant, der Deutsche Christian Schwarz-Schilling, 2007 per Dekret dafür, dass das Gedenkzentrum in Srebrenica-Potočari nicht länger unter die Zuständigkeiten der Behörden der Republika Srpska fällt, sondern dem Gesamtstaat zugeordnet wurde.[21] Somit wurde eine unabhängige Erinnerungskultur gewährleistet und die Möglichkeiten zur Einflussnahme oder Sabotage durch das Lager der Genozidleugner wurden minimiert.

Dennoch müssen die Einwohner Srebrenicas immer wieder proserbische, nationalistische Provokationen ertragen.[22] Und nicht nur das: Auch international läuft seit Jahren eine gut orchestrierte Leugnungsmaschinerie zur Umdeutung des Genozids, in die auch prominente Vertreter wie der österreichische Literaturnobelpreisträger Peter Handke involviert sind.

Handke hegt Zweifel an den Berichten der Hinterbliebenen über die Vernichtungsmaschinerie – trotz der Urteile des Haager Tribunals, trotz der unzähligen Zeugenaussagen[23] zum Genozid. Er pflegt eine demonstrative Nähe zur Belgrader Führung, bei der Beerdigung von Slobodan Milošević sprach Handke gar an dessen Grab. Dass der Österreicher trotz weltweiter Kritik[24] dennoch den Literaturnobelpreis erhielt und im Februar 2024 mit dem höchsten Staatsorden Österreichs ausgezeichnet wurde[25], belegt, wie wenig staatliche Akteure und internationale Organisationen gewillt sind, die Leugnung des Völkermordes konsequent zu ächten.

Miloševicś Propagandaminister in neuer, alter Mission

Auch im Umgang mit Aleksandar Vučić werden die Fakten mitunter außer Acht gelassen: Westliche Akteure verdrängen gern, dass Vučić unter Miloševič als Propagandaminister eine tragende Rolle im Kontext der Vernichtungspolitik der bosnischen Muslime spielte. Wenige Tage nach dem Massenmord in Srebrenica hetzte er in menschenverachtender Art und Weise: Für einen getöteten Serben werde man 100 Muslime umbringen.[26] Dessen ungeachtet begann Deutschland in der Amtszeit von Kanzlerin Angela Merkel, diesen diskreditierten Akteur in den Fokus der deutschen Balkanpolitik zu rücken, begleitet von dem naiv anmutenden Kalkül, aus einem überzeugten großserbischen Hassprediger einen überzeugten Europäer zu machen. Vučić´ weiß diese Naivität seit Jahren zu nutzen: Manchmal mimt er den gefälligen Partner des Westens, zelebriert jedoch parallel seine Nähe zum Kreml.[27]

Im Windschatten des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine nutzt Vučić die Gunst der Stunde, um gezielte Destabilisierungen in den Nachbarländern – insbesondere Bosnien und Herzegowina sowie Kosovo – zu orchestrieren, großserbische Machtdemonstrationen werden immer evidentere Eckpfeiler der Vučićschen Politik. Es ist offensichtlich, dass Belgrads Machthaber – ganz wie einst sein Ziehvater Miloševič – austestet, wie weit er angesichts westlicher Beschwichtigungspolitiken gehen kann. Damit aber muss der Ansatz der EU und USA, den Westbalkan mit einem vermeintlich kooperierenden Belgrader Machthaber in „Stabilität“ zu halten[28], angesichts der immer weiter fortschreitenden Gewaltbereitschaft, der offenen Angriffe auf die Existenz der Nachbarstaaten und der damit einhergehenden Verschlechterung der sicherheitspolitischen Lage als gescheitert angesehen werden.

Angriffe auf die staatliche Souveränität der Nachbarländer

Jüngstes Beispiel der serbischen Provokationspolitik: Am 7. Juli, nur wenige Tage vor dem Jahrestag des Völkermordes, marschierten Armeeangehörige der serbischen (!) Streitkräfte zum Gedenken an die Opfer der deutschen Offensive im Zweiten Weltkrieg in der bosnischen Stadt Prijedor auf. Prijedor liegt in der Republika Srpska und steht – ebenso wie Srebrenica – als Symbol für grausame Kriegsverbrechen an der nichtserbischen Bevölkerung während des Bosnienkrieges.[29] Die Bilder des in der Nähe gelegenen Gefangenenlagers Omarska[30] gingen damals um die Welt.

Dass fast drei Jahrzehnte nach Kriegsende Militärangehörige des ehemaligen Aggressors bosnische Städte für Aufmärsche nutzen können, spiegelt vor allem das Unvermögen des Westens wider, den Bekundungen nach einem „Nie wieder“ auch Taten folgen zu lassen. Zu lange haben sowohl Washington als auch Brüssel dem Treiben Belgrads und Banja Lukas zugeschaut. Die Organisation „Mütter von Srebrenica“, die im Völkermord unzählige männliche Familienangehörige verloren hatten, forderten angesichts der Prijedorer Machtdemonstration ein sofortiges Eingreifen der internationalen Gemeinschaft, verbunden mit der Frage: „Sind wir in unseren Häusern sicher?“

Denn zweifelsfrei dreht sich die Spirale der Gewalt in der Region bereits von neuem: Im September 2023 verübte ein bewaffnetes serbisches Kommando im Norden des Kosovo einen Terroranschlag, und es steht außer Frage, dass auch ein Vertrauter Vučićs involviert war.[31] „Das organisierte Verbrechen, das politisch, finanziell und logistisch von Belgrad unterstützt wird, greift unseren Staat an“, kommentierte Kosovos Premierminister Albin Kurti den klaren Versuch, das Land zu destabilisieren.[32]

Der Terrorakt unterstrich neuerlich Vučićs Bereitschaft, das großserbische Projekt konsequent voranzutreiben. Sein Counterpart in Bosnien, Milorad Dodik, unternahm Ende Juni 2024 seinerseits neue Schritte hin zu einer Sezession der bosnischen Republika Srpska. In einem Dokument forderte er eine „friedliche Auflösung“ Bosnien und Herzegowinas und die Schaffung zweier unabhängiger Staaten.[33] Demonstrative Unterstützung kommt derweil aus Russland: Kreml-Propagandist Alexander Dugin erklärte Ende Juni bei einem Treffen mit Dodik in Sankt Petersburg, wenn Russland in der Ukraine gewinne, werde es große Veränderungen geben, vor allem in Bezug auf Serbien und die Republika Srpska.[34]

Altbekannte Muster – Lessons learned?

Mit Rückendeckung des Kremls setzen Vučić und Dodik somit auf immer neue Eskalationsschleifen: Martialische Rhetorik, Drohungen, Freund-Feind-Narrative, Angriffe auf staatliche Institutionen, Destabilisierungen – die Parallelen zu den 1990er Jahren sind nicht zu übersehen. Dies alles seien altbekannte Muster, dieselben Narrative, dieselben Methoden zur Vorbereitung eines serbischen Staates, warnt denn auch der Sarajevoer Historiker Edin Omerčić.[35]

Doch kommen die Warnungen an? Hat der Westen aus dem folgenreichen Versagen in den 1990er Jahren gelernt? Der Völkermord von Srebrenica gilt den politischen Akteuren zweifelsohne nach wie vor als Blaupause für die Vernichtung der bosnischen Muslime. Daraus die Lehren zu ziehen und nach Jahren des Appeasements endlich eine rigorose Containmentpolitik gegenüber destabilisierenden Großideologien und gefährlichem Ethnonationalismus anzustrengen, sollte eine tragende Säule künftiger westlicher Balkanpolitik sein. Wichtigstes Ziel muss es dabei sein, eine Wiederholung der brutalen Gewaltakte der 1990er Jahre unter allen Umständen zu verhindern und dafür jene politischen Kräfte zu stärken, die völkischer Auslöschungspolitik ein Ende setzen wollen.

[1] Annabelle Werner, The International Commission on Missing Persons: The Search for Bosnia’s Missing is Key to Positive Peace, balkandiskurs.com, 9.11.2023.

[2]    Marion Kraske, Mladić-Urteil: „Abscheuliche Taten“ und dennoch nichts gelernt, boell.de, 23.11.2017.

[3] Srdjan Govedarica, Als Kriegsverbrecher vor Gericht, in Ost-Sarajevo gefeiert, deutschlandfunk.de, 20.3.2019.

[4]  Kenneth Morrison, Ratko Mladić: orchestrator of the brutal siege of Sarajevo, theconversation.com, 22.11.2017.

[5] In Višegrad und anderen Städten existierten Vergewaltigungszentren in Hotels, in Polizeistationen, in denen Frauen den Tätern über längere Zeit schutzlos ausgesetzt waren.

[6] Crimes of Sexual Violence, Landmark Cases, icty.org.

[7] Dayton Peace Agreement, osce.org, 14.12.1995.

[8] Call of Minister Vulin for the creation of the „Serbian World” provokes condemnations, europeanwesternbalkans.com, 20.7.2021.

[9] Oleksandr Zabirko, Russkij mir. Vom kulturellen Konzept zur geopolitischen Ersatzideologie, bpb.de, 15.6.2023.

[10] Una Hajdari, Serbia reels at UN resolution on Srebrenica massacre, politico.eu, 22.5.2024.

[11] Samir Huseinovic und Zoran Arbutina, UN-Resolution zu Srebrenica: Genugtuung und Empörung, dw.com, 24.5.2024.

[12] Serbian, Ethnic Serb Leaders Urge Unity, But Avoid Mention Of Separation From Bosnia, rferl.org, 8.6.2024.

[13]  Russkiy Mir: „Russian World”. On the genesis of a geopolitical concept and its effects on Ukraine, dgap.org, 3.5.2016.

[14]  Pjotr Sauer, ‘A climate of violence’: Serbian football ultras in spotlight after Kosovo monastery siege, theguardian.com, 11.10.2023.

[15]  Council of Europe, Commissioner for Human Rights, Dealing with the Past for a Better Future – Resolute efforts on dealing with the violent past are required in the region of the former Yugoslavia, coe.int, 23.11.2023.

[16]  Gregory H. Stanton, The Ten Stages of Genocide, genocidewatch.com, 1996.

[17]  Editorial: Nie wieder Genozid: Aufarbeitung statt Leugnung!, in: „Für Vielfalt“, 5/2022, gfbv.de.

[18]  Annex 7. Agreement on Refugees and Displaced Persons, ohr.int.

[19]  Toby Axelrod, Holocaust and Srebrenica survivors launch Jewish-Muslim effort to prevent genocides, jpost.com, 30.1.2024.

[20]  Demokratische Grundprinzipien wie die Gleichheit aller Bürger wurden durch die Dayton-Verfassung eliminiert. Juden, Roma und andere (ostali) besitzen im bosnischen Staatswesen nicht die gleichen Rechte wie die Mitglieder der drei konstitutiven Völker (Kroaten, Serben und Bosniaken). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in mehreren Grundsatzurteilen (unter anderem Sejdic/Finci, Zornic, Kovacevic) entschieden, dass diese völkischen Ansätze, die die drei Ethno-Parteien HDZ, SNSD und SDA besserstellen, nicht mit europäischem Recht vereinbar seien. Mangels internationalen Drucks wurde bislang keiner der wegweisenden Richtersprüche zugunsten eines Bürgerstaates implementiert.

[21]  Marion Kraske, Setzt den Leugnern des Genozids etwas entgegen, zeit.de, 11.7.2020.

[22]  Vgl. Al Jazeera Balkans, Srebrenicom odjekivali pucnji i cetnicke pjesme uoci Božica, youtube.com, 7.1.2019.

[23]  Oral History: Lives Behind the Field of Death, srebrenicamemorial.org.

[24]  Ed Vulliamy, Peter Handke’s Nobel prize dishonours the victims of genocide, theguardian.com, 12.10.2019.

[25]  Adelheid Wölfl, Proteste gegen Van der Bellens Auszeichnung für Handke, derstandard.de, 29.2.2024.

[26]  Remember Srebrenica, Vucic: kill one Serb and we will kill 100 Muslims, youtube.com, 10.7.2015.

[27]  Vgl. Statt EU-Balkan-Gipfel: Serbischer Präsident trifft sich in China mit Putin, euractiv.de, 19.10.2023.

[28]  Leon Hartwell, Our Serbian friend, the genocide glorifier-in-chief, neweasterneurope.eu, 1.7.2024.

[29]  Dirk Auer, Erschütternde Zeitzeugenberichte vom Bosnienkrieg, deutschlandfunk.de, 15.8.2022.

[30]  212 Brdska Brigada Srebrenik, Bosnia and Herzegovina death camps for muslims OMARSKA/TRNOPOLJE 6.8.92, youtube.com, 26.9.2011.

[31]  Kosovo-Serbe Radojcic bekennt sich zu Überfall, tagesschau.de, 29.9.2023.

[32]  Gunmen storm village in northern Kosovo in attack blamed on Serbia, politico.eu, 24.9.2023.

[33]  Analysts on the plan for the „peaceful dissolution“ of BiH: The authors know it is unrealistic, europeanwesternbalkans.com, 5.7.2024 sowie: Plan for the „peaceful dissolution of BiH” withdrawn from the agenda of the RS parliament, ebd., 10.7.2024.

[34]  Dugin: Ako Rusija pobijedi u Ukrajini, Zapad ce se drugacije ponašati prema Srbiji i RS-u, klix.ba, 30.6.2024.

[35]  Edin Omercic, Bosna i Hercegovina u demografskoj projekciji Srpske demokratske stranke: od regionalizacije do dehumanizacije, prilozi.iis.unsa.ba, 13.11.2023.

Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

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