
Bild: Friedrich Merz, CDU-Parteivorsitzender und Kanzlerkandidat, bei einer Pressekonferenz nach der Bundestagswahl in Berlin, 24.02.2025 (Florian Gaertner / IMAGO / photothek)
Deutschland hat gewählt und das Ergebnis lautet: Das Land strahlt in Schwarz-Blau und Friedrich Merz wird voraussichtlich neuer Bundeskanzler. Erstmalig seit den Anfängen der Republik existiert eine rechts-konservative Mehrheit, da die AfD nun auch im Bund voll „angekommen“ ist. Und diese neue Kraft wird sie weidlich auskosten. „Wir werden sie jagen“, das Leitmotiv ihres Ehrenvorsitzenden Alexander Gauland dürfte in den kommenden Jahren noch deutlicher erklingen als schon bisher.
Die enorme Vergrößerung der AfD-Fraktion ist das bleibende Vermächtnis der unsäglichen Kakophonie der Ampelregierung und ihres kläglich Scheiterns nach nur drei Jahren. Zur Erinnerung: Noch bei seiner Sommer-Pressekonferenz 2023 hatte der Bundeskanzler vorhergesagt, dass die „Schlechte-Laune-Partei“ AfD nicht mehr Prozente erreichen werde als bei der letzten Wahl. Nun reiht sich diese von der Realität brutal widerlegte Aussage in eine Vielzahl nicht gehaltener Ankündigungen, von den zu bauenden Wohnungen bis zu den avisierten „Abschiebungen im großen Stil“.
Das Wachstum der Rechtsradikalen ist allerdings auch der Tatsache geschuldet, dass es auch der Union nicht gelungen ist, den Zuspruch zur AfD wieder entscheidend zu reduzieren. Im Gegenteil: Merz hat mit seinem eklatanten Wort- und Tabubruch, der ersten gemeinsamen Abstimmung mit der AfD im Bundestag, maßgeblich zu der fatalen thematischen Engführung im Wahlkampf beigetragen. Durch seine Spaltung der politischen wie gesellschaftlichen demokratischen Mitte1 wurde Migration zu dem zentralen Wahlkampf-Thema – als das einzige Politikfeld, bei dem der AfD Kompetenzwerte eingeräumt werden.
Allerdings konnte selbst die Verantwortungslosigkeit der Merzschen „Achterbahnfahrt“ (Markus Söder) seinem Wahlsieg nicht mehr viel anhaben. Daran zeigt sich: Eigentlich war der Wahlkampf für SPD, Grüne und FDP infolge des Ampel-Elends bereits verloren, bevor er überhaupt begonnen hatte.
Diese Wahl war in besonderem Maße nicht primär eine Wahl des keineswegs sonderlich beliebten Unions-Spitzenkandidaten, sondern eine Abwahl der Ampelkoalition und speziell des Noch-Kanzlers. Während des gesamten kurzen Winterwahlkampfs blieben die Werte der drei Ampelparteien wie einbetoniert. Zu fundamental war offensichtlich der Vertrauensverlust der vergangenen drei Jahren, als dass die Wähler sich noch einmal für die Ampelkandidaten hätten begeistern können. Das erklärt die massiven Verluste der FDP, die mit ihrem Kurs der „Opposition in der Regierung“ die Hauptverantwortliche für die desaströse Performance der Ampel war, wie auch der SPD, deren Kanzler die erforderliche Führung bis zum krachenden Rausschmiss der FDP hat vermissen lassen.
Die fatale Konsequenz: Mit dem Absturz der SPD fehlt unserer Demokratie das alte Fundament, nämlich die Konkurrenz zweier Volksparteien, die einen Wechsel der Kanzlerschaft erst ermöglicht. Nach den drei Ampeljahren gibt es offenbar nur noch eine Partei, der nennenswerte Teile der Bevölkerung die Führung des Landes zutrauen, während die SPD unter der Nicht-Führung von Olaf Scholz zu einer bloßen Ergänzungspartei geschrumpft ist.
Comeback ohne Vorbild
Was Friedrich Merz als Person anbelangt, hat es ein derartiges Comeback eines Politikers, der fast 20 Jahre von der politischen Bildfläche verschwunden war, in der Geschichte der Republik bisher nicht gegeben. Aber genau so einzigartig wie dieses Comeback war seine Fähigkeit, die ohnehin gegen ihn existierenden Vorbehalte zu bestätigen. Merz ist das Kunststück gelungen, bereits im Wahlkampf große Teile der Bevölkerung gegen sich aufzubringen. Mit seiner Abstimmung mit der AfD agierte er als strategieloser Zauberlehrling, der seine rechtsradikalen Besen nun nicht mehr eingefangen bekommt. Denn damit hat er den Zweifel geweckt, ob er dieses Land sicher und verlässlich von der demokratischen Mitte aus führen wird. Auch wenn es keine Koalition mit der AfD geben wird – Merz‘ Absage ist in dieser Hinsicht glaubhaft –, der Verdacht der Möglichkeit einer weiteren Zusammenarbeit wird bleiben.
Hier entpuppt sich die real-existierende rechtskonservative Mehrheit im Land als eine schwere Hypothek für die kommende Legislaturperiode. Denn damit steht stets die Frage im Raum: Warum hält Merz es nicht mit seiner eigenen Devise, „ich gucke nicht rechts und nicht links; ich gucke in diesen Fragen nur geradeaus. Ich lasse mich von dem, was wir für richtig halten, nicht mehr abbringen, nur weil die Falschen es auch für richtig halten.“ Mit dieser, dem Pokerspiel abgeschauten Politik des „All in“hat Merz der AfD in die Hände gespielt. Denn wenn es nur auf das Ergebnis ankommt: Warum wird die Politik dieser rechten Mehrheit jetzt nicht umgesetzt? Wir, so die Rechtsradikalen, sind bereit, jene Gesetze durchzusetzen, für die es mit jeder der möglichen neuen Koalitionen, ob mit SPD und/oder Grünen, keine Mehrheit gibt. Dieses Lockangebot wird die AfD der Union – und speziell dem Kanzler – ständig vorhalten. Und gerade im Osten dürfte dieses Angebot in den Kommunen oder eines Tages auch in einem Bundesland immer attraktiver werden. Längst mehren sich dort die Stimmen, die für ein Koalieren mit der AfD plädieren. Wer wollte garantieren, dass die CDU nicht eines Tages auch als Partei nur „halbloyaler Demokraten“ (Levitsky/Ziblatt) agiert wie ihre schon lange mit der FPÖ paktierenden Parteifreunde in Österreich?
Merz selbst hat dafür gesorgt, dass aus der durchaus vorhandenen Wechselstimmung ein Wechsel-Zweifel wurde, der mit seiner Person verbunden ist. Geblieben sind tiefe Gräben in der Gesellschaft, aber auch zwischen den demokratischen Parteien. Merz dürfte es daher nicht leichtfallen, eine Koalition mit den Wahlverlierern zustande zu bringen. Das wird gewiss auch nicht dadurch erleichtert, dass er beim offiziellen Wahlkampfauftakt der Union mit Blick auf die potenziellen Partner bei SPD und Grünen hämisch verkündete: „Sie glauben ja gar nicht, wie nachdenklich die alle werden, wenn man denen mal die Autoschlüssel vorhält und denen zeigt, was am nächsten Tag vielleicht passieren kann: zu Fuß oder Dienstwagen?“ Nein, kluges, strategisches Agieren, das vom Ende her denkt, sieht anders aus. Aber stets impulsgetriebenes Handeln nach dem Prinzip Linnemann „Einfach mal machen“2 taugt eben nicht für komplexe politische Situationen.
Dabei kommt es gerade jetzt darauf an, die Sache, wenn schon nicht vom Ende, so doch wenigstens vom Anfang einer möglichen Koalition her zu denken, die allerdings bereits jetzt massiv belastet ist. Angesichts des von ihm angerichteten Desasters bedarf es nun seitens des kommenden Kanzlers erheblicher vertrauensbildender Maßnahmen. Denn nichts benötigt das Land heute mehr als eine starke, handlungsfähige Regierung – als Antidot gegen den aufziehenden neuen Faschismus. Tatsächlich haben die vergangenen Wochen deutlich gemacht, wie sehr sich Europa und speziell Deutschland in der Zange der Faschisten befindet – und zwar in zweifacher Hinsicht, außen- wie innenpolitisch.
Jalta 2.0 – aber ohne Schutzmacht
80 Jahre nach der Konferenz von Jalta erleben wir derzeit eine neue Aufteilung Europas – mit allerdings einem entscheidenden Unterschied: Als sich vom 4. bis 11. Februar 1945 Stalin, Roosevelt und Churchill mit Blick auf das sich abzeichnende Ende des Zweiten Weltkriegs auf der Krim trafen, agierten die Vereinigten Staaten als entschiedene Verteidigerin des demokratischen Europas. Jalta steht für die Entscheidung der Amerikaner, in Europa die Demokratie gegen den Stalinismus zu verteidigen – und dafür auch große Truppenkontingente zu stellen.
Diese Bereitschaft, Schutzmacht des demokratischen Europas zu sein, kommt mit Trump an ein Ende und die jetzt in Riad, Saudi-Arabien, beginnenden „Friedensverhandlungen“ stehen für das Gegenteil: „Ami go home“, die alte vulgär-linke (und stets auch radikal-rechte) Forderung geht jetzt in Erfüllung. Die MAGA-USA wollen raus aus Europa und keine europäische Macht mehr sein.
Trump steht damit für das Ende der transatlantischen Partnerschaft. Die brutale Ironie der Geschichte: Während Deutschland endlich ein wenigstens partielles Decoupling von den totalitären Regimen in Russland und China betreibt, vollzieht Trump-Amerika das Decoupling vom demokratischen Europa. Und obwohl sich diese Entwicklung seit Barack Obamas „Pivot to Asia“ angebahnt hat, wurde Europa von der Brutalität der Trumpschen Ansage voll auf dem falschen Fuß erwischt. Kein Nato-Beitritt für die Ukraine, aber erhebliche territoriale Abtretungen an Russland, zudem keinerlei Mitspracherecht der Ukraine bei den Verhandlungen und für Europa nicht einmal ein Platz am Katzentisch: Mit dieser Ansage bescherte der angeblich so großartige Dealmaker Trump Wladimir Putin den perfekten Deal: Land gegen Diktatfrieden.
Trumps Kalkül ist dabei klar: Was kümmert mich die Ukraine, wenn ich nur meine Ruhe in Europa habe – und sei es eine Friedhofshofe für die Ukraine – und die Europäer für die Kosten aufkommen. „There is a new sheriff in town“, tönte US-Vizepräsident JD Vance bei seiner Aufsehen erregenden Rede auf der jüngsten Münchner Sicherheitskonferenz. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Trump steht für den Rückzug des US-amerikanischen Sheriffs, für den Verzicht auf eine Weltordnungspolitik und für das ausschließliche Leitmotiv „America First“, was noch besser mit „Only America“ zu bezeichnen wäre. Denn Trump interessieren, wenn nicht nur seine eigenen Interessen, dann allenfalls die der USA.
Insofern wäre ein Zweckbündnis zwischen Europa und den USA derzeit wohl schon das höchste der Gefühle. Allerdings machte Vance, auch das ein beispielloser Vorgang, mit seiner Münchner Rede zusätzlich ganz offen Wahlwerbung für die AfD. Damit ist das, was zuvor noch als Privatmeinung des „first buddys“ Elon Musk erscheinen konnte, dessen Kuscheln mit Alice Weidel, faktisch zur Regierungslinie der USA geworden – eine ungeheure Aufwertung der AfD.
Doch mehr noch: Während die Vereinigten Staaten im vergangenen Jahrhundert die Demokratie in Europa gegen die Demokratieverächter, ob nationalsozialistischer oder stalinistischer Provenienz, verteidigten, agieren sie unter Trump heute systematisch auf Seiten der Antidemokraten innerhalb Europas, von Viktor Orbán über Herbert Kickl bis Alice Weidel.
Damit erlebt Deutschland seine zweite Zeitenwende, sind wir ein zweites Mal, und noch weit brutaler, am Ende unserer Nachkriegsillusionen angelangt. Die erste unserer Illusionen, die eher von links geteilt wurde, war die Vorstellung einer Friedfertigkeit der Sowjetunion bzw. nach deren Zerfall 1989/90 Russlands. Sie ist mit dem 24. Februar 2022 endgültig zerstoben.3 Die zweite Illusion aber ist die noch fundamentalere, eher von den Konservativen geteilte, dass wir es bei den USA stets mit unseren demokratisch agierenden Alliierten, Partnern, ja sogar Freunden zu tun hätten.4 Ihr Ende ist noch weit dramatischer für das deutsche und europäische Selbstverständnis – und es datiert mit Donald Trumps Inthronisation am 20. Januar 2025.
Auf diese Weise endet tatsächlich das, was wir seit 1945 als den harten Kern des Westens begriffen haben: dass nämlich stets Verlass auf die transatlantische Partnerschaft war, und damit im Ernstfall auf die Verteidigung Europas durch Amerika. Mit Trump ist diese Sicherheit an ein Ende angelangt. Und zugleich endet auch die machtgeschützte Innerlichkeit der deutschen Politik – und damit auch das die Bundesrepublik ein Dreivierteljahrhundert dominierende Primat der Innenpolitik.
Mit Trump wird nun die Außenpolitik endgültig zum neuen Primat Deutschlands, als der stärksten Wirtschaftsmacht innerhalb Europas. Europas Selbstbehauptung wird, ungeachtet der Jahrhundertaufgabe des Klimaschutzes, in den nächsten Jahren die größte Herausforderung speziell der kommenden deutschen Regierung sein. Aber damit dieses Primat der Außenpolitik in den nächsten vier Jahren zum Tragen kommen kann, bedarf es umso mehr dessen, was die Ampelregierung so sehr hat vermissen lassen, nämlich der Handlungsfähigkeit auf Basis von Geschlossenheit – jetzt sowohl nach außen, im strategischen Agieren gegen Putins Russland wie, in anderem Maße, gegen Trumps USA, als auch nach innen, zwecks Reduktion der AfD. Denn auch das kennzeichnet die neue Situation: Indem die US-Regierung sogar im Wahlkampf direkten Einfluss auf die deutsche Politik auszuüben versuchte, haben wir es mit einem Außen zu tun, das voll auf die Innenpolitik durchschlägt. Die klassische Trennung von Außen- und Innenpolitik ist damit faktisch aufgehoben. Das ist die neue Qualität der Herausforderung.
Jahrzehntelang galt die Krise als das Lebenselixier Europas. Krise hat bekanntlich einen doppelten Charakter. Sie kann zur Genesung gereichen, aber auch das Ende einläuten. Wenn Friedrich Merz dieser Tage vor einem neuen ‘33 warnt, vergisst er, dass es davor noch eine Wahl im Jahr 2029 gibt. Die nächsten vier Jahre werden entscheidend für die Verteidigung unseres demokratischen Systems sein. Gelingt es der kommenden Regierung nicht, das Vertrauen der Menschen zurückzugewinnen, drohen auch Deutschland Verhältnisse wie in Österreich, den Niederlanden und vielleicht bald in Frankreich: Wenn die Kräfte der demokratischen Mitte versagen, weil sie sich nur gegenseitig bekämpfen und kannibalisieren, übernehmen irgendwann die Radikalen das Land. Ein solches Strategieversagen wie im Wahlkampf darf sich der künftige Kanzler daher nicht noch einmal leisten – aus Sorge um die Zukunft der Demokratie in Deutschland.
1 Siehe dazu den Beitrag von Miguel de la Riva in dieser Ausgabe.
2 So der stilprägende Titel des Podcasts des CDU-Generalsekretärs und Merz-Beraters.
3 Albrecht von Lucke, Putins Krieg: Das Ende unserer Illusionen, in: „Blätter“, 4/2022, S. 59-66.
4 Ders., Europa ohne Schutzmacht: Angriff von Putin und Trump, in: „Blätter“, 3/2024, S. 5-8.