Ausgabe Februar 1994

Weißbuch der Kommission der Europäischen Gemeinschaften:

Gedanken zu einem neuen Entwicklungsmodell

Unter dem Titel "Wachstum, Wettbewerb, Beschäftigung - Herausforderungen der Gegenwart und Wege ins 21. Jahrhundert" hat die Kommission der Europäischen Gemeinschaften ein "Weißbuch" ausgearbeitet, das bei der Tagung des Europäischen Rates am 10 und 11. Dezember 1993 in Brüssel Grundlage einer kontroversen Krisendiskussion war. Insbesondere Großbritannien und die Bundesrepublik sperrten sich gegen die Art und das Volumen der Finanzierungspläne für Infrastruktur-, Kommunikations- und Umweltinvestitionen auf Gemeinschafts- bzw. Unionsebene (Vgl. den Anhang der nachstehenden Dokumentation). Der Vierte, abschließende Teil des Weißbuchs plädiert "Für ein neues Entwicklungsmodell". Diesen Abschnitt (Kapitel 10) dokumentieren wir nachstehend im Wortlaut. D. Red.

10.1  Der strukturelle Zusammenhang zwischen Umwelt und Beschäftigung

a) Ineffizienter Ressourceneinsatz in der EG Wir haben heute in der Gemeinschaft ein Entwicklungsmodell, das Arbeit und Natur, zwei unserer Hauptressourcen, suboptimal kombiniert. Das Modell ist gekennzeichnet durch eine ungenügende Nutzung der Arbeitsressourcen und eine übermäßige Nutzung natürlicher Ressourcen und führt zu einer Verschlechterung der Lebensqualität. Die Gemeinschaft muß untersuchen, auf welche Weise ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum gefördert werden kann, das zu einer stärkeren Arbeitsintensität bei gleichzeitig niedrigerem Verbrauch an Energie und natürlichen Ressourcen beiträgt.

i) Die zu geringe Nutzung des Arbeitskräftepotentials Die Nutzung der Ressourcen an Arbeitskräften ist jahrzehntelang gehemmt worden. Die Steigerung der Arbeitsproduktivität ist zwar ein wichtiger Faktor für den kontinuierlichen Anstieg des Nettoeinkommens pro Kopf gewesen, doch scheint nunmehr ein kritischer Punkt erreicht.

Auf der einen Seite i s t d i e S u b s t i t u t i o n v o n A r b e i t d u r c h K a p i t a l v o n e i n e r s t ä n d i g e n Z u n a h m e d e s E n e r g i e- u n d R o h s t o f f v e r b r a u c h s b e g l e i t e t, w a s e i n e n R a u b b a u a n U m w e l t r e s s o u r c e n b e w i r k t.

Auf der anderen Seite s i n d d i e U n t e r n e h m e n ss t r a t e g i e n d e r m a ß e n s t a r k d u r c h d a s M o t i v, A r b e i t s k r ä f t e e i n z u s p a r e n, g e p r ä g t, daß der Produktivitätsgewinn auf Unternehmensebene durch eine zunehmende Kostenbelastung der Allgemeinheit aufgehoben wird. Eines der frappierendsten Beispiele ist die Arbeitslosigkeit: Unternehmen setzen Arbeitskräfte frei, doch dafür steigen die Aufwendungen für die Arbeitslosenunterstützung. Durch den Finanzbedarf, der sich aus dieser Belastung des Sozialversicherungssystems ergibt, erhöhen sich die indirekten Arbeitskosten weiter, was wiederum die Tendenz zu Arbeitseinsparungen verstärkt. Außerdem führt dieser Zusammenhang zu erheblichen Einbußen bei der Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt, da auch in Niedriglohnländern immer mehr anspruchsvolle Technik eingesetzt wird. Viele Länder haben versucht, das Problem über restriktivere Regelungen im Sozialversicherungsbereich zu bewältigen, jedoch mit begrenztem Erfolg. Armut und Einkommensgefälle nehmen zu; dadurch kommen soziale Spannungen auf, vielfach leidet darunter die Lebensqualität in den städtischen Ballungsgebieten. Die zu geringe Nutzung der Arbeitskraft ist offenbar nicht allein quantitativer, sondern auch qualitativer Art. Da die Arbeit in standardisierter Weise und häufig in riesigen Betrieben abläuft, ist eine Kluft zwischen dem Menschen und seiner Arbeit entstanden. Der daraus anders als etwa in Kleinunternehmen und landwirtschaftlichen Betrieben - resultierende Motivations- und Kreativitätsschwund dürfte sich nicht allein darauf auswirken, wie angenehm eine Arbeitsstelle empfunden wird, sondern auch auf die Wirtschaftsleistung. Einigen Unternehmen ist es gelungen, Humankapitaleinbußen auszugleichen, indem sie kleine, mehr oder weniger unabhängige Produktionseinheiten schufen, die effizient und flexibel miteinander kombiniert sind.

ii) Die übermäßige Nutzung von Umweltressourcen Die zu geringe Nutzung des Arbeitskräftepotentials geht mit einer übermäßig en Nutzung von Umweltressourcen und natürlichen Ressourcen einher. In den letzten zwei Jahrzehnten und vor allem seit 1973 ist immer deutlicher zu Tage getreten daß diese Ressourcen nicht unbegrenzt sind. Da die Marktpreise dieses Mißverhältnis zwischen der Knappheit der natürlichen und Umweltressourcen und ihrem Verbrauch nicht genügend berücksichtigen, ist deren übermäßige Nutzung systematisch geworden. Aus mehreren Gründen kann dies nicht so weitergehen: - Die Beseitigung von Altlasten (Beispiel: Entgiftung von Werksgelände) bringt immer höhere Kosten mit sich; - beschränkte Verfügbarkeit und Qualitätsminderung der natürlichen und umweltmäßigen Ressourcen belasten künftige Generationen und verringern das Potential für langfristigen wirtschaftlichen Wohlstand; - würden die gegebenen industriellen Verbrauchs- und Produktionsmuster auf die ganze Welt ausgedehnt, so benötigte die Erde ein Zehnfaches der derzeit verfügbaren Ressourcen; diese Extrapolation veranschaulicht das Ausmaß der weltweiten Verteilungskämpfe, die drohen, falls es nicht gelingt, die gegenwärtigen Trends umzukehren; - bestimmte Formen der Umweltschädigung bedrohen nicht bloß örtliche Ökosysteme, sondern auch das natürliche Gleichgewicht der ganzen Erde (Klima, Ozonschicht, Artenvielfalt usw.).

D i e s e E f f i z i e n z m ä n g e l s t e l l e n e rh e b l i c h e, a b e r v e r b o r g e n e W o h lf a h r t s v e r l u s t e d a r. Da eine Ressource wie die Umwelt, für die kein Preis berechnet wird, in der traditionellen volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung nicht berücksichtigt wird, stehen nur Teilschätzungen zur Verfügung.

So wird allgemein anerkannt, daß die e x t e r n e n K o s t e n d e r h e ut i g e n V e r k e h r s s y s t e m e a l l e i n b er e i t s 3 b i s 4 % d e s B I P a u s m a c h e n (Umweltverschmutzung, Unfälle, Staus). Mit den zunehmenden wissenschaftlichen Erkenntnissen steigt die Besorgnis über diese Kosten, die ja letztendlich jemand zu tragen hat. Zu den Effizienzmängeln unseres heutigen Entwicklungsmodells gehören auch die externen Effekte, die mit der Nutzung fossiler Energieträger und der Kernenergie verbunden sind.

Obgleich durch den technologischen Fortschritt viele Probleme gelöst werden können, kann Energie nicht mehr als unbegrenzt verfügbare Ressource gelten, vor allem wenn die externen Kosten im Zusammenhang mit Klimawandel, Übersäuerung, Gesundheitsrisiken, Atommüll und Strahlungsgefahren in Rechnung gestellt werden. Der Energie kommt daher im neuen Entwicklungsmodell eine Schlüsselrolle zu. Betrachtet man genauer, wie die Gemeinschaft ihre Arbeits- und Umweltressourcen nutzt, so ist festzustellen, daß die Anreizstruktur der EG-Wirtschaft einige fundamentale Schwächen aufweist, teils durch staatliches Handeln (z.B. steuerliche Behandlung von Arbeitskosten, Verkehrsinfrastruktur), teils durch die Marktkräfte (externe Umwelteffekte) verursacht.

Daher stellt sich die Frage, ob die Wachstumszahlen nicht zu einem immer größeren Teil Scheinfortschritte anstelle einer echten wirtschaftlichen Entwicklung messen und ob nicht viele herkömmliche ökonomische Begriffe (wie z.B. das, was man üblicherweise unter BIP versteht) für zukünftige Politikentwürfe ihre Relevanz verlieren.

b) Die Forderung nach einem neuen Modell der "nachhaltigen Entwicklung" Die unausgewogene Nutzung der verfügbaren Ressourcen - zu geringer Einsatz des Faktors Arbeit, übermäßiger Einsatz von Umweltressourcen - stimmt eindeutig nicht mit den Präferenzen der Gesellschaft überein, wie sie über das demokratische System geäußert werden: Die Menschen wollen für sich und für ihre Kinder mehr Arbeitsplätze und ein gutes Einkommen, aber auch mehr Lebensqualität. Letzteres kommt in einer immer stärkeren Nachfrage nach einer angenehmen Arbeitsumwelt und umweltfreundlichen Waren und öffentlichen Gütern zum Ausdruck. Jede neue Politik wird echte Antworten auf die Frage liefern müssen, wie die Verschlechterung der Umweltbedingungen verringert und die Lebensqualität allgemein verbessert werden kann. Zum einen bedeutet dies, daß das gegenwärtige negative Verhältnis zwischen "klassischem" Wirtschaftswachstum und Umweltqualität durch ein positives Verhältnis ersetzt werden muß.

Die Menschen sehen nicht mehr ein, warum es zum Anstieg der offiziellen Wachstumsziffern beitragen soll, wenn immer mehr Verpackungsmaterial anfällt und immer mehr Werbung im Briefkasten steckt. Was zum anderen die Verbesserung der Lebensqualität anbetrifft, so geht es nicht allein um den Schutz der Lebensräume und der Natur, sondern auch um landschaftliche Schönheit, eine bessere Einpassung von Neubauten und Verkehrsinfrastruktur in historische Innenstädte, die Ausstattung städtischer Gebiete mit Parks und anderen Grünflächen usw. Wird hier angesetzt, kann die Lebensqualität von Millionen von Menschen wesentlich verbessert werden. Es bedarf somit einer Neuorientierung, damit die Gesellschaft in den Genuß von mehr Lebensqualität gelangt, und zwar bei niedrigerer Verbrauchsintensität und folglich einer geringeren Belastung der Umweltressourcen. In diesem Zusammenhang muß auch die Schaffung persönlich befriedigenderer Arbeitsplätze gesehen werden, desgleichen die Förderung persönlicher Verantwortlichkeit und gesellschaftlicher Teilhabe durch die Nutzbarmachung von Humankapitalressourcen in dezentralen sozialen Netzen.

D a s n e u e E n t w i c k l u n g s m o d e l l f ü r d i e G e m e i ns c h a f t m u ß a l s o d a s P r o b l e m d e r i n e f f i z i e n t e n N u t z u n g d e r v e r f ü g b ar e n R e s s o u r c e n a u f b r e i t e r E b e n e a ng e h e n, d. h. m i t B l i c k a u f d i e G e s a m tl e b e n s q u a l i t ä t d e s B ü r g e r s. Einige dieser Aspekte haben eine gemeinschaftliche Dimension.

So ist der Übergang zu einem tauglicheren Wirtschaftsmodell leichter zu bewerkstelligen, wenn mehrere Länder gemeinsam vorgehen, da dies Kosten mindert und mehr Ergebnisse bringt.

Darüber hinaus geht es bei vielen Maßnahmen implizit oder explizit um eine sektorale Politik sowie die Beeinflussung der Marktkräfte im Binnenmarkt. Diese potentielle neue Rolle für die Gemeinschaft wird nunmehr ausdrücklich im Vertrag anerkannt, da die Sicherung einer dauerhaften und umweltgerechten Entwicklung als eines der Gesamtziele der Gemeinschaft genannt wird.

c) Saubere Technologie als Schlüsselfaktor Ein wichtiger Aspekt des neuen Entwicklungsmodells wird darin bestehen, unser künftiges wirtschaftliches Wohlergehen von einer schädlichen Beeinflussung der Umwelt abzukoppeln und sogar aus dem negativen Verhältnis Wirtschaft/Umwelt ein positives zu machen. Der Schlüssel zum Erfolg liegt darin, daß über kurz oder lang eine neue Basis "saubere Technologie" geschaffen werden muß. Bedeutsame Beispiele zeigen bereits, daß eine solche Entkopplung möglich ist, wenn die Umweltressourcen explizit in die Produktionsfunktion eingehen. Deutschland und Japan hatten zwar in den letzten zwei Jahrzehnten das höchste Wirtschaftswachstum in der industrialisierten Welt zu verzeichnen, doch ging es mit einer nur unbedeutenden Zunahme des Energieverbrauchs einher, während zuvor eine lineare Beziehung als normal angesehen wurde. Triebkraft hinter diesem grundlegenden Wandel war ein hoher Energiepreis, der - ebenfalls anders als üblicherweise erwartet - das Wirtschaftswachstum nicht hemmte, sondern eher förderte. In ökonomischen Modellen wird der Stand der Technik in der Regel als exogene Große betrachtet.

Es sollte jedoch eingesehen werden, daß er ganz wesentlich von fundamentalen Anreizen bedingt ist, die vom Staat und der Privatwirtschaft ausgehen. Und es sollte klar gesagt werden, daß jeder technische Fortschritt von Menschen erzielt wird und beharrliche Investitionen in Humankapital somit von vitaler Bedeutung sind. Eine große Aufgabe für die kommenden Jahre ist es, unsere heutigen Umweltprobleme zu lösen. Die neue integrierte Technologie, von der bisher höchstwahrscheinlich nur die Spitze des Eisberges zu sehen ist, dürfte einen geringeren Bedarf an neuen Umweltressourcen mit sich bringen; dies liegt an: - einer verbesserten "Naturproduktivität" der Erzeugnisse: z.B. hoher Energienutzungsgrad, niedrige Rohstoffintensität (leichtere Autos usw.); - einer längeren Produktnutzungsdauer: dadurch werden Reparaturund Prüfleistungen interessanter, also äußerst arbeitsintensive Tätigkeiten; - mehr Wiederverwendung und Wiederverwertung: weitaus häufigerer Einsatz derselben Grundstoffe oder Ersatzteile; - besserer Verfahrenstechnik: Abwasser, Festmüll usw. fallen zum größten Teil im Produktionsprozeß und nicht beim Endverbraucher an. Die immer stärkere Anwendung der neuen sauberen Technologie wird eine kontinuierliche Erneuerung des Kapitalstocks in der Gemeinschaft herbeiführen und besondere Ansprüche an die Qualifikationen von Ingenieuren und Führungskräften stellen.

Dem Eindringen der sauberen Technologie in die Industrie wird weit mehr Bedeutung zukommen als den Umweltreinigungsaktivitäten wie Müll- und Abwasseraufbereitung, wie wichtig dieser Bereich heute und in nächster Zukunft auch sein mag. Er wird wohl relativ und sogar absolut an Bedeutung einbüßen, je stärker sich die Gesellschaft dem umweltgerechten Entwicklungsmodell annähert. Die neue saubere Technologie wird nicht nur für bessere Umweltbedingungen in der Gemeinschaft sorgen, sondern voraussichtlich auch sekundäre Vorteile für die Gemeinschaft zeitigen: - Was die Wettbewerbsfähigkeit anbetrifft, würde es die Wirtschaft der Gemeinschaft insgesamt kräftigen, wenn ihre Ressourcen optimal genutzt werden und kostspielige Reinigungsarbeiten nicht mehr anfallen; darüber hinaus ergäben sich durch die Vorreiterrolle Vorteile, die nicht zu unterschätzen sind, da die neue Technologie nicht nur in den hochindustrialisierten Ländern, sondern auch in den neuen Industrieländern und Entwicklungsländern eine Notwendigkeit darstellt.

In strategischer Hinsicht: Die äußerst große Energie- und Rohstoffabhängigkeit der Gemeinschaft von anderen Teilen der Welt würde verringert und wäre besser zu steuern; weniger Einfuhren bedeuten Einsparungen, die zur Förderung einer dauerhaften und umweltgerechten Entwicklung eingesetzt werden könnten, insbesondere durch den Transfer von sauberer Technologie in Entwicklungsländer.

International würde die Gemeinschaft vorexerzieren, wie das Konzept der umweltgerechten Entwicklung in die Praxis umzusetzen ist; sie würde ihren übermäßigen Verbrauch an Primärressourcen einschränken und so die künftigen weltweiten Verteilungsprobleme in bezug auf knappe natürliche und Umweltressourcen entschärfen helfen.

10.2 Ansätze zur Erleichterung des Strukturwandels

a) Politik der mikroökonomischen Strategie Eine neue auf sauberer Technologie basierende Industriestruktur aufzubauen, in der wirtschaftlicher Wohlstand nicht mehr mit Umweltschädigüng gleichbedeutend ist, dürfte ohne aktive und schöpferische Unterstützung durch öffentliche Maßnahmen nicht gelingen.

Hierzu bedarf es einer Korrektur unseres heutigen p o l it i s c h e n I n s t r u m e n t a r i u m s, s ow e i t e s e i n e i n e f f i z i e n t e R e s s o u r c e n n u tz u n g i n d e r G e m e i n s c h a f t b e g ü ns t i g t. Besondere Aufmerksamkeit ist den zahlreichen Vorschriften zu widmen, die in den letzten Jahrzehnten nach und nach geschaffen worden sind, jedoch den Zielen des neuen umweltgerechten Entwicklungsmodells nicht mehr entsprechen.

Darüber hinaus muß dafür gesorgt werden, d a ß i n d i e M a r k t p r e i s e d e r P r o d u k t e s y s t e m a t i s c h a l l e e x t e rn e n K o s t e n e i n g e h e n, d i e s i e d e r G es e l l s c h a f t v e r u r s a c h e n. Die Neuorientierung sollte dazu führen, daß alle Wirtschaftsakteure und Entscheidungsträger klare Signale und Anreize erhalten. Der erste Schlüsselfaktor für eine Politik der mikroökonomischen Strategie liegt in einer wirkungsvollen Schwerpunktverlagerung der Grundlagenforschung auf Bereiche mit besonderer Bedeutung für das umweltgerechte Entwicklungsmodell (erneuerbare Energieträger, Recycling und neue Werkstoffe, Biotechnologie usw.).

Die Neuausrichtung betrifft auch die Wirtschaftswissenschaft und insbesondere die "umweltbewußte" Wirtschaftsrechnung ("green accounting"), bei der es im wesentlichen um eine systematische Analyse und Schätzung aller externen Effekte geht. Durch die Kombination natur- und wirtschaftswissenschaftlicher Informationen sind Probleme der Nutzung natürlicher Ressourcen und entsprechende Lösungsansätze leichter zu erkennen und einzuordnen.

Der zweite Schlüsselfaktor besteht darin, daß die U m s e tz u n g d e r G r u n d l a g e n f o r s c h u n g s e rg e b n i s s e i n m a r k t f ä h i g e I n n o v a t io n e n b e s c h l e u n i g t w i r d. Zu diesem Zweck wäre ein schlüssiges Angebot an pragmatischen Anreizen für die Wirtschaftsakteure zu entwickeln, die Investitionen im Bereich der neuen Produkte und Produktionsverfahren in Betracht ziehen (u.a. in Zusammenhang mit neuen und innovativen Formen der Arbeitsorganisation). Dies dürfte zu einer positiven Wirkungsspirale führen, durch die sich das Vertrauen von Verbrauchern und Investoren in das Gesellschaftsprojekt einer umweltgerechten wirtschaftlichen Zukunft wechselseitig festigt.

b) Das politische Instrumentarium auf makroökonomischer Ebene Das genannte Spektrum an Anreizen impliziert die schrittweise systematische Überprüfung vieler politischer Instrumente, von denen einige eine gemeinschaftliche Dimension haben. Hierbei verdienen folgende Instrumente besondere Aufmerksamkeit:

I n d i r e k t e S t e u e r n für Umweltbelastung sind ein wirkungsvolles Mittel, um gegen verborgene Subventionen vorzugehen, sofern die externen Kosten von der Gesellschaft insgesamt zu tragen sind. Die Marktpreise müssen daher möglicherweise so korrigiert werden, daß die mit der Nutzung bestimmter Produkte verbundene Umweltschädigung berücksichtigt wird (z.B. bei Energieträgern entsprechend ihrem CO2-Gehalt).

S t e u e r v o r s c h r i f t e n und insbesondere Steuervergünstigungen - die gegenwärtig vielfach eine negative Umweltwirkung haben (z.B. großzügige Steuervergünstigungen für Pkw-Nutzung, eine Grundstücksbesteuerung, die die Stadtrandentwicklung begünstigt, usw.) - sind ein wirkungsvolles Mittel, um umweltgerechte Wirtschaftsaktivitäten (z.B. vorwettbewerbliche Forschung über umweltfreundliche Innovationen) zu fördern.

D i e D y n a m i k d e s B i n n e n m a r k t s kann so beeinflußt werden, daß sie eine optimale Ressourcennutzung in der Gemeinschaft herbeiführt: Zum einen bietet ein gesunder Wettbewerb, bei dem für alle die gleichen Bedingungen gelten, größere Chancen, den erforderlichen technologischen Umbruch und die Erneuerung des Kapitalstocks herbeizuführen; zweitens könnten in die Vergabenormen für öffentliche Aufträge ausdrücklich umweltgerechte Zielsetzungen einfließen; drittens werden innergemeinschaftliche Standortverlagerungen zur optimalen Nutzung der Umweltressourcen in der Gemeinschaft sowie zur Verringerung extrem hoher Umweltbelastungen in einigen Gebieten beitragen. Das gleiche gilt natürlich auch für die Erweiterung der Gemeinschaft.

A u ß e n h a n d e l s p o l i t i k u n d P o l i t i k d e r Z u s a m m e n a r b e i t: Da Umweltprobleme in vieler Hinsicht grenzübergreifend und global sind, führen sie zu engerer internationaler Zusammenarbeit. In zahlreichen Fällen läßt sich zeigen, daß es eine wirtschaftliche Lösung für Umweltprobleme in der Gemeinschaft (Übersäuerung, Gewässerverschmutzung, CO2- Erzeugung) ist, Mittel der Gemeinschaft auf die Bewältigung von Umweltproblemen im Ausland zu verwenden. Dies gilt auch für Strukturprobleme in den Bereichen Wachstum und Beschäftigung Wirksame und auf Dauer tragfähige Lösungen erfordern auch hier, daß der internationalen Dimension Rechnung getragen wird, vor allem in bezug auf die Nachbarregionen der Gemeinschaft wie Mittel- und Osteuropa, die GUS und den Mittelmeerraum.

c) Das politische Instrumentarium auf sektoraler Ebene Neben den Instrumenten auf makroökonomischer Ebene verfügt die Gemeinschaft auch in ganz bestimmten Sektoren über gewisse Instrumente, die an Bedeutung gewinnen dürften, je stärker die Gemeinschaft sich dem neuen Wirtschaftsmodell annähert. Besondere Beachtung verdienen folgende Sektoren (im fünften Umweltaktionsprogramm wurde bereits explizit auf sie eingegangen):

E n e r g i e: Der Energieverbrauch steht im Mittelpunkt des neuen Entwicklungsmodells. Mit der Liberalisierung des Binnenmarkts für Strom und Gas kommen auf die Gemeinschaft strategische Entscheidungen zu, die bisher allein Sache der Mitgliedstaaten waren. Es geht insbesondere um einen kräftigen Ausbau der Nachfragesteuerung und eine Diversifizierung des Angebots in Richtung umweltfreundliche Energieträger. In der Vergangenheit eingesetzte wichtige Instrumente wie Euratom bedürfen der Umorientierung und Verstärkung. 

V e r k e h r: Die im vorangehenden Abschnitt erwähnten erheblichen Wohlfahrtseinbußen müssen durch eine Überprüfung der Infrastrukturplanung und -investitionen (vor allem in städtischen Bereichen) wettgemacht werden. Die herkömmliche Steuer- und Subventionsinstrumente sowie die Raumordnungs- und Stadtplanungskonzepte könnten z.B. gründlich überarbeitet werden.

L a n d w i r t s c h a f t: Die derzeitige GAP-Reform führt zur Verringerung der Preisstützung, die ausgeglichen wird durch direkte Finanzhilfen für die bäuerlichen Betriebe und andere Maßnahmen zur Prämierung des ökologischen Landbaus, sowie zu einer gerechten Vergütung von Tätigkeiten die das hydrogeologische Gleichgewicht (Trinkwasserqualität, Erosionsverhütung usw.) schützen und von landschaftspflegerischem Wert sind. Diese Tendenz sollte in den kommenden Jahren schrittweise verstärkt werden. Auf diese Weise können die derzeitigen Ungleichgewichtslagen im Umweltbereich zunehmend abgebaut und gleichzeitig eine neue Grundlage für umweltgerechte Aktivitäten und mehr Lebensqualität in ländlichen Gebieten geschaffen werden.

Insofern ist es wichtig, die in verschiedenen Mitgliedstaaten laufenden Pilotprojekte zur Herstellung von Biokraftstoffen (Biomasse, Diester, Bioethanol) in wirtschaftlicher und ökologischer Hinsicht zu bewerten, da sich in diesem Bereich möglicherweise umweltfreundliche Energieversorgungsszenarien entwickeln lassen. 

I n d u s t r i e: Neue unternehmensgerechte umweltpolitische Instrumente sind zu nutzen; ein Anfang wurde bereits gemacht mit Öko-Prüfungen, Öko-Gütezeichen, Selbstverpflichtungsvereinbarungen, Haftungsregelungen usw. Teilweise eröffnen sich hier neue Beschäftigungsmöglichkeiten, vor allem bei Dienstleistungen im Bereich des Umweltschutzes.

d) Handlungsmöglichkeiten auf kurze Sicht Wenn die gegenwärtige Wirtschaftskrise tatsächlich nicht allein konjunkturbedingt ist so müssen jetzt die Vorarbeiten für das Langzeitprojekt anlaufen. Das heißt nicht nur, daß die öffentliche Politik entsprechend dem oben Skizzierten systematisch umorientiert werden muß sondern es geht auch um die P l a n u n g a n t i z y k l i s c h e r M a ß n a h m e n, die über ihre konjunkturstimulierende Wirkung hinaus der Zielsetzung des umweltgerechten Entwicklungsmodells gerecht werden.

So sollte eine "U m w e l t i n f r a s t r u k t u r" a u f g e b a u t w e r d e n, die dazu beiträgt, eine weitere Schädigung der Umwelt zu verhüten.

Trotz immer stärkerer Inanspruchnahme von sauberer Technologie werden Reinigungsaktivitäten auf kurze und mittlere Sicht wohl wichtig bleiben und in unmittelbarer Zukunft sogar noch erheblich an Bedeutung gewinnen. Es besteht ein großer Investitionsstau bei Recyclinganlagen (vgl. das Überangebot an Papierabfall), bei Müllverbrennungsanlagen (ausgerüstet nach neuestem technologischen Stand), bei Abwasseraufbereitungsanlagen usw. Derartige Projekte bedingen zumeist Bauarbeiten, wodurch kurzfristig zahlreiche Arbeitsplätze mobilisiert werden könnten; die Finanzierung sollte über Gebühren und Abgaben gemäß dem im Vertrag vorgesehenen Verursacherprinzip geschehen. Das öffentliche Investitionsvolumen und die Beschäftigungswirksamkeit könnten sehr hoch sein, soweit nämlich die vorgelagerte Infrastruktur erst noch geschaffen werden muß, wie z.B. die Kanalisation.

Ebenfalls sehr beschäftigungswirksam kann eine Kapazitätserweiterung bei den öffentlichen Verkehrssystemen sein, durch die sich die Lebensqualität von Millionen von Menschen in den Ballungsgebieten verbessern läßt. Auch läßt sich eine erhebliche Nachfrage - und die ausdrückliche Bereitschaft, dafür zu zahlen - nach umweltfreundlichen Projekten auf örtlicher Ebene feststellen, die Freizeit- und Erholungswert besitzen, wie die Einrichtung von Parks und Spazier- und Radwegen. Der Energieverbrauch ist, wie bereits mehrfach erwähnt, ein Schlüsselfaktor für das neue Modell wirtschaftlicher Entwicklung. Vor allem in privaten Haushalten läßt sich der Energienutzungsgrad ganz erheblich verbessern - oft werden Zahlen um 40 bis 50% genannt -, wenn entsprechende Wohnungsbauinvestitionen vorgenommen werden (Doppel-Dreifachverglasung, Dachisolierung, Hochleistungsboiler). Werden ausreichend Anreize geboten, so können in diesem Bereich zahlreiche Arbeitsplätze entstehen.

Schließlich läßt sich, um die zweifache Herausforderung von Arbeitslosigkeit und Umweltbelastung zu meistern, auch in Betracht ziehen, die Arbeitskosten zu senken und dies dadurch zu finanzieren, daß die Abgaben auf Umweltbelastungen erhöht werden. Ein Vorschlag der Kommission liegt auf dem Tisch, der in jeder Hinsicht der Perspektive eines langfristigen Strukturwandels entspricht und eine Kohlendioxid- und Energiesteuer vorsieht: Es wird also gegen externe Effekte des Energieverbrauchs vorgegangen, und gleichzeitig kann das erhebliche Aufkommen dieser steuerlichen Maßnahme (1% des BIP) darauf verwendet werden, die Belastung der Unternehmen durch hohe Lohnkosten zu verringern.

Ein wichtiger Aspekt des Vorschlags ist, daß - wie allgemein befürwortet - dazu übergegangen wird, stärker indirekte Steuern einzusetzen und die Steuerbemessungsgrundlage bei Energieträgern zu vergrößern und ausgewogener zu gestalten. Derartige Vorschläge finden in der Bevölkerung der Gemeinschaft Unterstützung: Rund 60% der europäischen Bürger sind für eine solche Steuer.

10.3 Zusammenfassung

Wir müssen begreifen, was für ein Strukturwandel sich gegenwärtig in der Gemeinschaft vollzieht, und wir müssen entsprechend handeln. Es kommt darauf an, ein Gesellschaftsprojekt für mehr Lebensqualität in der Gemeinschaft zu entwickeln, das die Menschen motivieren kann und so die erforderliche schöpferische Energie erzeugt:

a) Die schwerwiegenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme, vor denen die Gemeinschaft heute steht, sind Ergebnis verschiedener grundlegender Effizienzmängel: ein qualitativer und quantitativer Untereinsatz von Arbeitskräften, kombiniert mit einem Übereinsatz natürlicher und umweltmäßiger Ressourcen. Beide Faktoren sind Kernbestandteil des Modells der wirtschaftlichen Entwicklung, dem die Gemeinschaft in den letzten Jahrzehnten gefolgt ist.

b) Hauptziel eines neuen Entwicklungsmodells ist es, an die Stelle des negativen Verhältnisses, das heute zwischen Umweltbedingungen und allgemeiner Lebensqualität einerseits und wirtschaftlichem Wohlstand andererseits besteht, ein positives Verhältnis zu setzen. Die Einführung von sauberer Technologie auf breiter Ebene ist hierbei ein Schlüsselaspekt. Die wissenschaftlichen Kenntnisse sind vielfach schon da, sie warten nur darauf, ins Wirtschaftssystem einfließen zu können.

c) Der Übergang zu einem neuen Modell der "umweltgerechten Entwicklung" setzt voraus, daß ein schlüssiges Angebot an marktbestimmten Anreizen entwickelt wird. Hierbei geht es im Kern darum, das bestehende makroökonomische und sektorpolitische Instrumentarium systematisch zu überprüfen, geleitet von dem Grundsatz, daß alle externen Kosten in die Marktpreise eingehen müssen.

Viele politische Entscheidungen in den Bereichen Besteuerung, Subventionsvergabe, Wettbewerb, Infrastruktur, Arbeitsorganisation, Bodennutzung, Stadtplanung usw. waren nach und nach jeweils in bestimmten konkreten Zusammenhängen oder aber aufgrund von langfristigen Erwägungen zustande gekommen, die mit dem Ziel einer dauerhaften und umweltgerechten Entwicklung nicht mehr vereinbar sind. In noch stärkerem Maße gilt dies für die sektorale Politik in den Bereichen Energie, Verkehr, Industrie und Landwirtschaft, bei denen bestimmte Entscheidungen, die in den 50er und 60er Jahren getroffen wurden, gründlich überprüft werden müßten. d) Die Empfehlungen für kurzfristige Maßnahmen zur Überwindung der Rezession sollten bereits in die Richtung der genannten Umorientierung der Politik gehen. In der gleichen langfristigen Perspektive liegt auch ein erhebliches Beschäftigungspotential, nämlich in Bereichen wie Umweltinfrastruktur, Verbesserung der Energieeffizienz, Schaffung von natürlichen Erholungsgebieten und Renaturierung geschädigter Gebiete.

*) Der Rat entscheidet mit qualifizierter Mehrheit unter Mitentscheidung "europäischen Parlaments (Artikel 189b); Leitlinien und Vorhaben von gemeinsamem Interesse, welche das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats betreffen, erfordern die Zustimmung des betreffenden Mitgliedstaats.

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