Ausgabe Juli 1998

Gedrängel in der neuen Mitte

Richtig lustig ist der Wahlkampf bisher. Wer Spaß an Klatsch, flotten Sprüchen und Anekdoten mit bösartiger Pointe hat, der kommt auf seine Kosten. Ob CDU-Generalsekretär Peter Hintze an den Tankstellen nicht mit einen Wahlplakat gegen bündnisgrüne Benzinpreisvorstellungen landen kann, die die Urheber selbst dann gar nicht mehr vertreten mögen, ob sein FDP-Kollege Guido Westerwelle Bundeskanzler Helmut Kohl den schnellstmöglichen Rückzug aus dem Amt empfiehlt, aber dennoch mit ihm weiter koalieren möchte, oder ob der neue Regierungssprecher Otto Hauser die Grundzüge seines Jobs vor laufenden Kameras erlernt - das alles hat einen ziemlich hohen Unterhaltungswert. Mit Politik hat es allerdings wenig zu tun. Nun war Wahlkampf von jeher die Zeit der zugespitzten Formulierungen, die mehr die Gefühle als den Verstand ansprechen sollten. Ernsthafte Sachdebatten finden in der Mitte einer Legislaturperiode statt. Aber Rudimente politischer Aussagen und damit auch der eigentliche Kern inhaltlicher Kontroversen sind von der Ära Konrad Adenauers bis zu den Anfangsjahren von Helmut Kohl selbst auf dem Höhepunkt hitziger Kampagnen erhalten geblieben.

Die Diskussion über das Für und Wider der Ostpolitik von Willy Brandt wurde emotional, oft unsachlich, sogar von diffamierenden Untertönen beherrscht geführt. Dennoch blieben die konzeptionellen Unterschiede der Außenpolitik von SPD und Union hinter allem Getöse und Wortgeklingel stets erkennbar. Worin unterscheiden sich die Überzeugungen eines Gerhard Schröder von denen eines Helmut Kohl prinzipiell? In gar nichts. Wo sollen dann die inhaltlich zündenden Fragen (und Antworten) in einem Wahlkampf herkommen? Werbeprofis raten zu Kopfplakaten. Es ist ja nicht so, daß es an Themen mangelte. Die anhaltende hohe Arbeitslosigkeit, die europäische Integration, die Zukunft des Rentensystems, die Grenzen des Sozialstaats, die Probleme beim Prozeß der deutschen Einigung, die künftige Rolle der NATO, die künftige Rolle nationaler Regierungen, die künftige Rolle Deutschlands in der Welt - all diese Themen berühren die Bevölkerung unmittelbar und es ließe sich über sie trefflich streiten. Um im Wahlkampf damit erfolgreich zu sein, müßten jedoch Politiker über ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit im Blick auf die reale Umsetzbarkeit ihrer Konzepte verfügen, und die Parteien hätten sich klar voneinander abzugrenzen, um unterscheidbar zu sein. An beidem hapert es. Die Vorstellungen des CDU-Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf hinsichtlich der Rente sind denen der Bundestagsabgeordneten Andrea Fischer von den Bündnisgrünen sehr viel ähnlicher als denen seines Parteifreundes Norbert Blüm, der wiederum seine Ansicht weitgehend mit dem SPD-Sozialexperten Rudolf Dreßler teilt.

Wenn die programmatischen Grenzen zwischen den Parteien verschwinden, gewinnen Sympathiewerte und Vertrauenswürdigkeit einzelner Politiker an Bedeutung. Es ist eine Ironie der Geschichte, daß ausgerechnet die traditionsreichste deutsche Partei - die SPD - jetzt mit einem Kanzlerkandidaten in den Wahlkampf zieht, der mit seiner prononcierten Distanz zu Traditionen und Programmen auf Stimmenfang geht. Gerhard Schröder, der möglicherweise als erster Bundeskanzler der Bundesrepublik aus der Opposition heraus ins Amt gewählt wird, wirbt für seine Person: er will eher trotz als wegen seiner Partei geholt werden. Da liegt er im Trend der europaweiten Entwicklung.

Für den Bedeutungsverlust vor allem der großen Parteien gibt es mehrere Gründe. Seit dem Ende der bipolaren Welt fällt es allen Gruppen, aber ganz besonders den Volksparteien, immer schwerer, sich als Vertreter konkurrierender Gesellschaftsmodelle zu profilieren. Vom Kampf der Systeme übrig geblieben ist am ehesten noch eine Bindung an das jeweilige soziokulturelle Milieu einer Partei. Die Wahlentscheidungen einer alleinstehenden Akademikerin aus einer Großstadt für die Grünen, eines arbeitslosen Familienvaters aus dem Ruhrpott für die SPD und eines niederbayerischen Bauern für die CSU haben mindestens ebenso viel mit einem Gefühl der Zugehörigkeit zu den in den jeweiligen Parteien gepflegten Umgangsformen zu tun wie mit politischen Interessen. Dazu paßt dann ein Wahlkampfthema wie die hoch emotionalisierte Warnung vor einem Bündnis zwischen SPD und PDS. Niemand, nicht einmal der CDU-Generalsekretär, glaubt, daß in Deutschland die Möglichkeit einer Volksfrontregierung mit den dazugehörigen systemverändernden Konsequenzen besteht. Aber die eigene Anhängerschaft läßt sich besser mit einem geschickt erzeugten Gemeinschaftsgefühl als mit einem Sachthema mobilisieren. Das gilt allerdings nicht für Wechselwähler, und unter anderem deshalb tun sich ja auch alle etablierten Westparteien in den neuen Ländern so schwer - ihnen fehlt der Stallgeruch.

Abschied von der demokratischen Streitkultur?

Für die Entwicklung spielt jedoch der Prozeß der Europäischen Integration eine mindestens ebenso große Rolle wie das Ende des Kalten Krieges. Er führt dazu, daß die Handlungsspielräume nationaler Regierungen immer enger werden und darüber hinaus die Dynamik von Entscheidungsabläufen immer schwerer durchschaubar wird. Das Gefühl, der "kleine Mann" könne ohnehin keinen bestimmenden Einfluß auf die Politik nehmen, war früher den politisch eher desinteressierten, tendenziell auch demokratiefeindlichen Teilen der Bevölkerung vorbehalten. Inzwischen ist daraus eine beinahe kollektive Überzeugung geworden - und sie ist auch angesichts fehlender Transparenz und mangelnder demokratischer Kontrolle von Entscheidungen auf europäischer Ebene heute nicht mehr apolitisch. Ein seltsamer Widerspruch kennzeichnet die Lage. Gerade weil nationale Regierungen immer mehr Entscheidungsbefugnisse an eine höhere internationale Institution - die EU - delegieren, wächst der Zwang, die nationalen Interessen im jeweiligen Einzelfall zunächst einmal zu definieren. Immer dann, wenn nationale Interessen ins Spiel kommen, gibt es ein parteiübergreifendes Bedürfnis nach einer Geschlossenheit staatlichen Handelns. Der Weg führt somit weg von einer demokratischen Streitkultur hin zu einer Suche nach Konsens und Gemeinsamkeit, notfalls auch gegen die Wünsche einer Mehrheit der Bevölkerung.

Augenfälligstes Beispiel: die Entscheidung für den Euro, die von den Deutschen überwiegend skeptisch aufgenommen wurde, aber dennoch von allen großen Parteien als Wahlkampfthema abgelehnt wird. Zu dieser neuen Form der Konsenssuche paßt, daß die Altparteien stärker als jemals zuvor um den engen Platz in der Mitte kämpfen. Sogar kleine Parteien wie FDP und Bündnisgrüne bemühen sich im Wahlkampf nicht mehr in erster Linie darum, die spezifischen Interessen kleinerer Gruppen in der Bevölkerung zu vertreten, seien es nun die Besserverdienenden oder gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften. Statt dessen versuchen sie sich in einer Weise als mehrheitsfähig für die Gesamtbevölkerung zu präsentieren, wie das früher nur die Volksparteien getan haben. Tatsächlich scheint es auch so zu sein, daß sich mit kontroversen Themen derzeit kaum Punkte sammeln lassen. Umfragen zeigen, daß die Grünen von ihrer konsequenten Ablehnung der Atomenergie nicht profitieren, obwohl inzwischen eine Mehrheit der Bevölkerung gegen die friedliche Nutzung der Kernenergie ist. Die drangvolle Enge in der vermuteten neuen Mitte führt aber zwangsläufig dazu, daß sich Gruppen in der Bevölkerung, die so klein gar nicht sind, von den traditionellen Parteien nicht mehr vertreten fühlen.

Die PDS, die den Charakter einer ostdeutschen Regionalpartei nie verloren hat, bindet einen großen Teil dieser Gefühle des Unbehagens auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Ihre Wahlchancen scheinen weder durch die peinliche Suche nach einem geeigneten Kandidaten für einen der für sie wichtigsten Wahlkreise noch durch wortradikale Schmähungen von Vertretern anderer politischer Lager geschmälert zu werden. Im Gegenteil. Es genügt, daß sich die PDS dem allgemeinen Konsens verweigert, der vor allem in der Bevölkerung im Osten Deutschlands eben nicht besteht, um gewählt zu werden. Da die Nachfolgepartei der SED die demokratischen Spielregeln einhält, kommt ihr - ganz im Unterschied zu der im Westen verbreiteten Wahrnehmung - das Verdienst zu, Unzufriedene in die verfassungsmäßige Ordnung Deutschlands zu integrieren und ihr Abdriften zu verfassungsfeindlichen, extremistischen Gruppen zu verhindern. Gebannt ist die Gefahr dennoch nicht. Der Erfolg der rechten DVU in Sachsen-Anhalt war ein Menetekel. Möglich, sogar wahrscheinlich, daß es der Partei aufgrund ihrer mangelnden Professionalität und ihres desaströsen Personalmangels dieses Mal nicht gelingen wird, in den Bundestag einzuziehen. Aber nach einem deutschen Jörg Haider wird gefahndet. Irgendwann wird diese Suche Erfolg haben.

Dann rächt sich, daß sich die alten Volksparteien von ihren konkurrierenden Profilen und der Auseinandersetzung über Sachthemen verabschiedet haben. Rechtsextremisten haben, wenn schon nichts anderes, dann doch zumindest eines anzubieten: eine klare Alternative zum Bestehenden. Genau die kann Helmut Kohl nicht anbieten. Immerhin ist er seit 16 Jahren Regierungschef. Gerhard Schröder aber will sie nicht anbieten. Er setzt auf den wohl zu Recht vermuteten Wunsch nach inhaltlicher Beständigkeit bei gleichzeitiger personaler Erneuerung. Damit hat er bei der Mehrheit gute Karten. Die Minderheit, die sich unter den bestehenden Verhältnissen ausgegrenzt und benachteiligt fühlt, wird von den Altparteien nicht bedient. Das ist eine schlechte Voraussetzung für den Beginn der Berliner Republik. Dieser Wahlkampf ist der letzte, der vom geschützten Bonner Klima seinen Ausgang nimmt. Es läßt sich jetzt schon absehen, daß in der neuen Hauptstadt der Ton rauher wird - nicht unbedingt seitens der Politiker, gewiß aber seitens ihrer Wähler.

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