Für eine strategische Autonomie Europas

Bild: Marek Studzinski / unsplash
Im November 2019 warnte Emmanuel Macron die Europäer aus dem Salon doré des Élysée-Palastes, in dem einst Charles de Gaulle Hof hielt, dass die Nato kurz vor dem „Hirntod“ stehe – und damit jene transatlantische Allianz, die Europa seit 1949 beschützt hatte. Soeben hatte die Regierung von US-Präsident Donald Trump, zum Entsetzen der eigenen Soldaten, einseitig ihre Unterstützung für die kurdischen Kräfte in Nordsyrien abgezogen und sie damit Baschar al-Assad und Recep Tayyip Erdoğan geopfert. Binnen Jahresfrist folgten amerikanische Sanktionen gegen die Türkei, die der Nato seit 1952 angehört, weil sie russische Flugabwehrraketen erworben hatte. Völlige Uneinigkeit prägte das Bild.
Schon 2017 hatte Angela Merkel nach einem chaotischen Treffen mit Trump erklärt, dass Europa sich eindeutig nicht länger auf Amerika als einen Verbündeten verlassen könne und selbst für seine Sicherheit sorgen müsse. Macrons Besorgnis mehr als zwei Jahre später resultierte daraus, dass dieser Erkenntnis nur wenig Taten gefolgt waren.
Eskapaden von Staatschefs wie Trump und Erdoğan würden sich in jeder Bündnisstruktur nur schwer eindämmen lassen. Doch die damaligen Probleme der Nato gingen weit über Populismus hinaus: Die kompakte antisowjetische Allianz der 1980er Jahre war durch ihre Erweiterung in den 1990er und 2000er Jahren zu einer ausufernden und ziellosen Organisation geworden. Und angesichts schwindender Verteidigungsausgaben in Westeuropa stützte sich das Bündnis immer stärker auf das enorme Militärbudget der USA und eifrige neue Rekruten aus Osteuropa. Das Scheitern der Nato-Interventionen in Afghanistan ab 2001 und in Libyen 2011 wirkte demoralisierend. Ein weiterer einseitiger amerikanischer Rückzug unterstrich dies 2021 noch – dieses Mal aus Afghanistan, auf Anordnung von Joe Biden.
Für Macron schien das alte Grundprinzip der Nato – haltet die Sowjets draußen und die Deutschen unten – seine Relevanz verloren zu haben. Trotz Wladimir Putins Vorgehen gegen die Ukraine 2014 kaufte Berlin immer mehr russisches Gas. Macron selbst wollte die diplomatischen Kanäle nach Moskau wieder öffnen, womit er eine der großen Hoffnungen de Gaulles revitalisierte: Europa als ein Mittler zwischen Washington und Moskau. Und wenn es in den USA im vergangenen Jahrzehnt so etwas wie eine klare Strategie gegeben hat, so umging diese unterdessen weitgehend die Europäer und richtete sich gegen China, um Einfluss im sogenannten Indo-Pazifik geltend zu machen – ein geopolitisches Konstrukt, das nach 2010 starke Verbreitung fand. Doch nun hat sich das Bild gewandelt, dank Putins unklugem Angriff auf die Ukraine. Alle Augen ruhen auf Europa und der Nato. Schweden und Finnland haben ihre Mitgliedschaft beantragt. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte wurde die Nato Response Force, die schnelle Eingreiftruppe des Bündnisses, im Rahmen einer kollektiven Verteidigungsmission verlegt – und soll auf Beschluss des jüngsten Nato-Gipfels in Madrid von etwa 40 000 auf über 300 000 Soldaten ausgebaut werden. Selbst die Bundesregierung hat ihre Militärausgaben erhöht. In Berlin bekräftigte US-Außenminister Antony Blinken öffentlich die „starke Kooperation und Koordination, die den Kern“ der Allianz ausmache. Es ist wenig überraschend, dass die russische Invasion der Ukraine die Nato wiederbelebt hat. Aber ist das ein Zeichen für eine geistige Reaktivierung? Verfügt die Nato über eine neue Vision? Oder erfolgt ihre Reaktion auf den Ukraine-Krieg eher reflexartig, wie eine unfreiwillige Zuckung, die Putins Hammerschlag bewirkt hat?
Derzeit ist der Jubel der Atlantiker so laut, dass darüber scheinbar etwas wichtiges in Vergessenheit gerät: Wenn das Ziel der Nato darin bestanden hat, die russische Aggression abzuschrecken und den Frieden in Europa zu bewahren, so ist sie gescheitert. Ganz gleich, ob die Debatte um einen ukrainischen Nato-Beitritt nun wirklich der Auslöser für Putins Invasion war, so hat sie sicherlich nationalistische Strömungen in Kiew zu einer harten Haltung gegenüber Moskau ermutigt und zugleich auch die russische Propaganda genährt. Und bei aller Unterstützung und Ausbildung, die die ukrainischen Streitkräfte bis dato von den USA, Großbritannien und Kanada erhalten hatten, ging Moskau doch sicher von der eigenen militärischen Überlegenheit aus. Westliche Drohungen mit Wirtschaftssanktionen wurden beiseite gewischt. Wenn eingetreten wäre, was die meisten westlichen Geheimdienste offenbar erwartet hatten, dann hätte Russland die Ukraine überrollt. Das hätte ihre westlichen Nachbarn in Angst versetzt und den bestehenden Nato-Mitgliedern allen Grund gegeben, ihre Verteidigung zu verstärken. Aber ob Schweden und Finnland dann so eilig der Allianz beigetreten wären, ist keineswegs ausgemacht. Hätten sie es angesichts einer entfesselten russischen Armee riskiert, Moskau zu provozieren? Die Republik Moldau plant jedenfalls keinen Beitritt zur Allianz. Selbst jetzt wäre das viel zu riskant.
Was für den großen Moment der Nato gesorgt hat – es kann nicht oft genug betont werden –, ist genau das, was am wenigsten erwartet wurde: der wirksame und anhaltende bewaffnete Widerstand der Ukraine. Trotz des langjährigen Zusammenwirkens zwischen Nato-Kräften und dem ukrainischen Militär – die Ukraine entsandte Truppen in den Irak und nach Afghanistan – war dieser Widerstand eine totale Überraschung, was nicht eben für die Enge dieser Kooperation spricht. Mit Blick auf die militärischen Informationen über die Ukraine erscheint Macrons Einschätzung der „hirntoten“ Nato nicht sonderlich unzutreffend. Vor dem Krieg verfügten wir nicht über ein wirkliches Verständnis des wahren militärischen Kräfteverhältnisses zwischen Russland und der Ukraine. Erst der Umstand, dass Russlands Offensive gleichermaßen unverfroren wie – dank der ukrainischen Heldentaten – verhältnismäßig erfolglos ist, hat die Nato-Mitgliedschaft für Schweden und Finnland so naheliegend erscheinen lassen.
Die Dominanz der USA
Sobald der Krieg begonnen hatte und die Ukraine standhielt, scharten sich die Nato-Mitglieder umeinander. Aber die Rede von einer geschlossenen Reaktion der Nato auf Putins Krieg ist jener Schall und Rauch, dessen Verbreitung zu den Stärken der Organisation gehört. Denn während die Nato Unterstützungserklärungen für die Ukraine abgibt, sind es tatsächlich die einzelnen Mitgliedstaaten, die Hilfe leisten. Und diese Hilfe folgt einem nur allzu bekannten Muster. Die baltischen Staaten liefern im Verhältnis zu ihrer Größe enorme Mengen – etwa 0,8 Prozent des BIP von Estland und Lettland. Auch Polen steuert Hilfen in Höhe von fast 0,5 Prozent seines BIP bei. Aber die Ukraine wird vor allem von den USA bewaffnet, und das in einem gigantischen Ausmaß. Washington hat seit Beginn des Krieges deutlich mehr als vier Mrd. US-Dollar an Rüstungsgütern geliefert und weitere zweistellige Milliardenbeträge zugesagt. Und so hat die Krise eher jene Ungleichgewichte bestätigt, die die Nato zunehmend in Misskredit gebracht hatten. Washington geniert sich auch nicht, diese Umstände anzupreisen: Die amerikanische Rhetorik erinnert nicht an die kollektiven Verpflichtungen des Kalten Krieges, sondern an den Zweiten Weltkrieg, als die USA mit ihrem Leih- und Pachtgesetz („Lend-Lease“) zwischen 1941 und 1945 ihre Verbündeten mit Lebensmitteln, Treibstoff und Kriegsmaterial versorgten und so ihre Rolle als Arsenal der Demokratie festigten. Doch bedeutet das Voranschreiten der USA, dass Washington wirklich einen Plan hat?
Wenn es um Strategien geht, hat Washington nicht einen, sondern mehrere Köpfe. Biden wirkt ungestüm, seine Rhetorik gegenüber Putin klingt nach Regime Change. Verteidigungsminister Lloyd Austin spricht offen davon, Russland erschöpfen zu wollen. Die CIA hingegen ist vorsichtiger und warnt vor den Risiken einer weiteren Eskalation. Die Ukraine zu nutzen, um Russland zu demütigen, scheint zwar zu jenen Dingen zu gehören, auf die sich die einander bekriegenden Parteien im US-Kongress noch einigen können. So wurde der Ukraine Lend-Lease Act, der es Biden erlaubt, weitere Lieferungen zu beschleunigen, in beiden Kammern des Kongresses problemlos verabschiedet. Doch die weiteren Hilfspakete, die von den Demokraten vorgeschlagen wurden – weitere 40 Mrd. Dollar an militärischer, humanitärer und wirtschaftlicher Unterstützung –, werden nur mit einem Kuhhandel durchgehen. Und selbst dann bleibt die Frage: Entwickeln die USA eine neue Großstrategie für Europa und die Nato, oder ist die Zermürbung Russlands ein Ziel an sich – ein Projekt, das bei den amerikanischen Wählern gut ankommt und es dem Pentagon erlaubt, sich auf China zu konzentrieren?
Was ist – jenseits der unmittelbaren Notwendigkeit zur Unterstützung der Ukraine – Amerikas Vision einer funktionierenden Sicherheitsordnung in Europa? Brauchen die USA überhaupt eine? Abgesehen von einer möglichen nuklearen Eskalation ist Russland weit weg und für die US-Wirtschaft irrelevant – für Europa aber lässt sich das so nicht sagen. Den Regierungen in Osteuropa, den nordischen Ländern und Großbritannien passt die deutliche Sprache gegenüber Russland gut. Wenn jemand wirklich an einer Wiederbelebung der Nato interessiert ist, dann sie: eine Nato, die besser ausgestattet ist, unter stabiler US-Führung steht, über größere europäische Kontingente verfügt und direkt auf den Osten ausgerichtet ist. Aber dafür muss alles aufgehen. Die Vorstellung, die gegenwärtige Lage werde dahinführen, heißt, an drei Fronten auf das Beste zu hoffen.
Die erste und wichtigste ist der Krieg in der Ukraine. Angenommen, die Ukraine gewinnt und vermag die russischen Offensiven nicht nur zu stoppen, sondern sogar umzukehren: Glauben wir wirklich, dass Moskau ein solches Ergebnis hinnehmen kann? Wenn nicht, sollten wir dann nicht eine asymmetrische Eskalation Russlands erwarten? Die US-Geheimdienstkoordinatorin Avril Haines warnte jüngst vor dem Risiko, dass Putin „einen unvorhersehbaren und potentiell eskalierenden Kurs verfolgen“ würde. Sollte Putin zu seinem nuklearen Arsenal greifen, dann wäre alles Bisherige nur eine Einleitung gewesen. Der wahre Test steht der Nato noch bevor.
Wenn der Krieg sich dahinzieht und Amerika wesentliche Hilfe leistet, aber Russland die ukrainischen Gegenoffensiven stoppen kann, will die EU dann das Äquivalent eines weiteren Afghanistans vor ihrer Haustür riskieren – einen jahrzehntelangen Konflikt mit verheerenden humanitären Konsequenzen? Das könnte Washington gelegen kommen, aber kann Europa damit leben? Die Dialoge zwischen Olaf Scholz, Emmanuel Macron und Moskau in den vergangenen Wochen legen nahe, dass Paris und Berlin Putin nach wie vor einen Ausweg bieten wollen. Wenn sich die Ukrainekrise in eine ferne Zukunft ausdehnt, welche Auswirkungen wird das dann auf die Frontstaaten haben, allen voran auf Polen? Wenn wir dies in Analogie zu Afghanistan betrachten, sollten wir uns sorgen, dass Osteuropa das Schicksal Pakistans erleiden könnte, wo die antisowjetische Kampagne der USA den Staat im Staate stärkte und die gesellschaftliche Radikalisierung schürte.
Dann wären da, zweitens, die USA selbst. Die existenzielle Krise der Nato von 2019 resultierte wesentlich aus Trumps erratischen Attacken auf die europäischen Partner der USA. Dagegen hat die kompetente Führung des Biden-Teams während der Ukrainekrise – anders als in Afghanistan – beruhigend gewirkt. Aber auch hier könnten wir nur die Ruhe vor dem Sturm erleben. Denn ab November werden die Republikaner höchstwahrscheinlich den Kongress kontrollieren. Und obwohl die Präsidentschaftswahlen 2024 wohl offener sein werden als die Zwischenwahlen, dürften sich die Demokraten angesichts ihrer derzeitigen Leistungen glücklich schätzen, wenn sie das Weiße Haus verteidigen können. Sollte Trump oder einer seiner ideologischen Protegés an die Macht kommen, wäre das für die transatlantischen Beziehungen eine Katastrophe. Aber selbst ohne Trump sollten wir uns keinen Illusionen über die Republikaner hingeben. Der politisch-kulturelle Graben zwischen den Normen europäischer Politik und denen der Grand Old Party ist tief und wächst stetig. Schon 2014/15 machten der inzwischen verstorbene Senator John McCain und andere Falken in Washington der europäischen Ukrainediplomatie das Leben sehr schwer. Amerikas eifrige neue Verbündete täten gut daran, das im Hinterkopf zu behalten.
China: Rivale oder Handelspartner?
Drittens schließlich stellt sich die größere Frage, was nach der Ukrainekrise kommt. Wenn die USA mit ihrer mehr oder weniger offen verfolgten Strategie Erfolg haben, Russland ausbluten zu lassen, warum sollte das dann heißen, dass sie sich wieder der Sicherheit Europas zuwenden werden – und nicht das Gegenteil? Die USA gehen vermutlich deshalb Risiken ein, um Russland als einen strategischen Konkurrenten zu schwächen, weil sie sich danach stärker auf China konzentrieren könnten. Und das wirft eine größere strategische Frage auf: Sind Europas Interessen mit Blick auf China dieselben wie jene der USA, und was hat die Nato damit zu tun?
Solange die aktuelle Krise den Fokus auf Werte und Prinzipien lenkt – Demokratie vs. Diktatur – lässt sich eine große Erzählung über die Auseinandersetzung der freien Welt mit dem Autoritarismus von Xi Jinping und Putin konstruieren. Aber in anderer Hinsicht bedarf es einer ziemlich lebhaften Phantasie, um die wenigen französischen kolonialen Besitztümer im Indopazifik als Äquivalent zu den amerikanischen Interessen in Japan, Südkorea und Taiwan zu betrachten. Deutschland wiederum unterhält weiterhin enge Wirtschaftsbeziehungen zu China. Wie Herbert Diess, der Vorstandsvorsitzende von VW, offen bemerkte: „Wenn wir unser Geschäft nur auf entwickelte Demokratien beschränken würden, die etwa sieben bis neun Prozent der Weltbevölkerung stellen, und dieser Anteil sinkt, dann gäbe es für einen Autobauer sicherlich kein gangbares Geschäftsmodell mehr... Wenn man nicht in China ist, hat man ein Problem. Wenn man in China ist, hat man eine Chance.“ Für Berlin wäre das Umschwenken vom Energiekrieg mit Russland zu einem Handelskrieg mit China ökonomisch gesehen der Worst Case.
Es wäre vermessen, zu glauben, die westlichen Mächte würden den Kurs der künftigen Beziehungen mit China diktieren – wir sollten im Fall der Ukraine gelernt haben, wo unsere Grenzen sind. Im Dezember 2020 haben Brüssel, Paris und Berlin, zum Entsetzen von Bidens Team, Peking mit dem Umfassenden Investitionsabkommen einen wirtschaftlichen Olivenzweig dargeboten, der aber verschmäht wurde. Diese Zurückweisung sorgte dafür, dass Europa und die USA während Bidens erstem Amtsjahr einfacher zueinander fanden, als viele erwartet hatten. Im Sommer 2021 veröffentlichte die Nato dann erstmals eine Erklärung über die sicherheitspolitische Herausforderung durch China. Aber dann kam im Januar 2022 ein Sturm über Litauen, nachdem es Taiwans diplomatische Anerkennung heraufgestuft hatte. Angesichts der Drohungen aus Peking reihten sich die baltischen Staaten hinter den USA ein, vermutlich auch, um die amerikanische Unterstützung gegen Russland fester zu verankern. Berlin und die meisten anderen EU-Staaten distanzierten sich jedoch und wollten sich nicht in einen Streit mit Peking hineinziehen lassen. Trotz allem, was derzeit über Partnerschaft gesagt wird, ist alles andere als klar, wie sich Europa und die USA mit Blick auf China langfristig abstimmen werden.
Im Geist des Kalten Krieges
Es ist wenig überraschend, dass die russische Invasion der Ukraine die Energien der Nato geweckt hat. Aber widerlegt das Macrons Diagnose von 2019 – oder bestätigt es sie bloß? Im Rückblick war Macrons Eintreten für eine Wiederannäherung an Russland extrem überoptimistisch, aber dieser Optimismus verschaffte ihm wenigstens die Freiheit, Europa auf neue strategische Herausforderungen einzuschwören. Dazu zählen China, Konflikte mit der Türkei und in Nordafrika, Migration, das Klima und die Krise der US-Demokratie. Die neue Mobilisierung gegen Russland hat demgegenüber eine zwanghafte Rückkehr zu alten Antagonismen und den ideologischen Sprachmustern des Kalten Krieges ausgelöst. So werden Bilder des „Westens“ wieder aufgewärmt, sowohl im Elan der nationalen Selbstbehauptung der Ukraine als auch in der eher technokratischen, kalten Begeisterung über den „Vorsprung durch Technik“ der Nato, etwa angesichts der Javelin-Panzerabwehrwaffen oder von Phantasieszenarien finnischer Scharfschützen, die unglückselige russische Eindringlinge zur Strecke bringen.
So unvereinbar seine Zutaten auch scheinen mögen, machte dieser Cocktail aus existenziellen Vorstellungen von individueller Freiheit, liberalem Verfassungsstaat und avancierter Militärtechnologie in den 1950er und 1960er Jahren die Eigenart der Nato-Ideologie aus. In den 1980ern galten Freiheit, Eigeninitiative und gute Ausbildung in Verbindung mit der richtigen Ausrüstung als das Rezept, mit dem die Nato trotz numerischer Unterlegenheit die „einfallenden Horden“ des Warschauer Pakts besiegen würde.
Es ist zweifellos beruhigend, dass dieses Rezept im 21. Jahrhundert wiederbelebt werden konnte, und auf dem Schlachtfeld in der Ukraine scheint es zu funktionieren. Aber es sollte nicht mit einer adäquaten Antwort auf Europas Sicherheitsprobleme verwechselt werden. Macron ging es 2019 um eine größere strategische Souveränität Europas und um mehr Vorstellungskraft. Angesichts der drei großen Unwägbarkeiten, die über Europa schweben – die künftigen Beziehungen mit einem sogar noch stärker verbitterten atomar bewaffneten Russland, der Zustand der US-Politik und die Konfrontation zwischen den USA und China –, ist dieser Appell dringender denn je.
Worin Europas Strategie bestehen sollte, bleibt unbestimmt. Macron forderte neues Denken und nicht die üblichen Antworten. Wie Jürgen Habermas kürzlich schrieb, muss Europa seine historische und politisch-kulturelle Distanz zum patriotischen Enthusiasmus erkennen, der in der Ukraine so spektakulär dargeboten wird, und sich seinen postheroischen Zustand eingestehen. Es sollte allerdings zugleich auf Distanz zur technologiebesessenen, militarisierten strategischen Kultur der USA gehen, deren Bilanz der jüngsten Jahrzehnte niemand nacheifern wollen dürfte. Wenn Europas bittere Gewaltgeschichte es gegen jedweden großen Enthusiasmus für den Militarismus immunisieren kann, so ist das ein Vorzug und keine Bürde.
Blick voraus: Die Nato als Teillösung, Ablenkung oder historische Sackgasse
Aber Europa sollte sich zugleich nicht einer selbstbetrügerischen Eitelkeit hingeben und glauben, mit seiner „wertebasierten“ Politik stehe es außerhalb der harten Entscheidungen, die mit Macht einhergehen, und könne es vermeiden, sich die Hände schmutzig zu machen. Die EU ist nach Lage der Dinge alles andere als harmlos, und erst wenn sie sich dieser Realität stellt, wird eine wirkliche Debatte um strategische Autonomie beginnen können.Nicht nur verfügen bestimmte EU-Mitglieder über ein aktives Militär mit viel aktueller Erfahrung – insbesondere Frankreich –, sondern wir sollten auch nicht vergessen, wer als Erste EU-Uniformen übergezogen hat: die Frontex-Beamten an Europas Grenzen, die unter anderem in Push-Backs gegen Migranten auf dem Mittelmeer verwickelt sind. Hier sollte eine Debatte um strategische Autonomie beginnen. Sieht strategische Autonomie so aus, angesichts der demographischen und wirtschaftlichen Trends in Afrika und Westasien? Eine primitive Festung Europa? Und falls nicht, was ist die Alternative? Oder nehmen wir die Energiewende. Wie viel sind die Europäer zu zahlen bereit, um die Abhängigkeit von Putins Gas zu vermeiden? Das ist eine strategische Frage, ebenso wie die wirtschaftlichen und ethischen Kompromisse beim Import chinesischer Solarzellen. Der Zusammenhang mit den langfristigen Sorgen der Amerikaner über Taiwan ist dabei zwar keineswegs klar – aber bei der Sklavenarbeit in Xinjiang und der europäischen Industriepolitik ist er offensichtlich. Obwohl die Luftherrschaft in der Ukraine nur eine untergeordnete Rolle spielt, wäre es auch relevant, folgendes zu debattieren: Wie viele hundert Mrd. Euro sollten dafür aufgewandt werden, ein unabhängiges Future Combat Air System – wie das deutsch-französisch-spanische Programm heißt – als Konkurrenz zum riesigen F-35-Projekt der USA zu entwickeln? Aber wenn Europa darüber diskutieren sollte, dann nicht als eine verschämte Rückkehr zu einer „ordentlichen“ strategischen Debatte mit einer zweckgebundenen Budgetverteilung, sondern unter Berücksichtigung anderer Verpflichtungen, die ebenfalls zentral für Europas Sicherheit sein werden – beispielsweise der Green Deal oder Investitionsprogramme zur Digitalisierung. All dies dürfte eine Kooperation mit den USA und anderen, innerhalb wie außerhalb der Nato, beinhalten. Im Angesicht von Putins Angriff ist die Nato die wesentliche erste Verteidigungslinie. Aber wenn es um die Zukunft geht, ist sie bestenfalls eine Teillösung, sehr wahrscheinlich eine Ablenkung und schlimmstenfalls eine historische Sackgasse.
Deutsche Erstveröffentlichung eines Textes des Autors, der unter dem Titel „The second coming of Nato“ erstmals im „New Statesman“ erschienen ist. Übersetzung aus dem Englischen: Steffen Vogel.