Ausgabe Oktober 2022

Prekäre Solidarität: Europa in der Gaskrise

Gasspeicher bei Sonnenuntergang, 5.8.2022 (IMAGO/Fahronix Panthermedia)

Bild: Gasspeicher bei Sonnenuntergang, 5.8.2022 (IMAGO/Fahronix Panthermedia)

Es bedurfte langer Monate erbitterten Kampfes, bis die russischen Invasoren ihrem Minimalziel nahegekommen waren: der Eroberung des Donbass, der industriellen Herzkammer der Ukraine. Doch dann gelang den ukrainischen Streitkräften die Überraschung: Mitte September befreiten sie binnen Tagen weite Teile des Nordostens und machten damit quasi im Handstreich Moskaus Pläne zunichte, sich die Region dauerhaft einzuverleiben.

Ob dies schon die langersehnte Wende im Kriegsgeschehen markiert, bleibt vorerst offen. Sicher scheint aber, dass das Töten und Sterben in der Ukraine so bald nicht beendet sein wird. Noch hat Moskau seine Kriegsziele, darunter den Sturz der Regierung in Kiew, nicht öffentlich revidiert, und noch halten russische Truppen im Süden und Osten der Ukraine Gebiete besetzt, die für das überfallene Land ökonomisch überlebenswichtig sind. Da ernsthafte Friedensverhandlungen erst dann möglich sein werden, wenn der russische Machthaber Wladimir Putin nicht mehr an einen Sieg glaubt, wird die Ukraine vorerst weiterkämpfen müssen.

Dafür benötigt sie jedoch nicht nur jenes militärische Gerät aus dem Westen, dessen Lieferung insbesondere in Deutschland so umstritten ist, sondern auch Geld. Denn eigentlich kann sich die Ukraine diesen Krieg gegen einen derart mächtigen Gegner schon jetzt kaum noch leisten. So dürfte die Wirtschaftsleistung des Landes dieses Jahr kriegsbedingt extrem einbrechen, nämlich um 33 Prozent. Dramatisch anwachsen wird dadurch die Zahl der Armen im Land, die sich verzehnfachen könnte, auf etwa ein Fünftel der Bevölkerung. Umso länger der Krieg andauert, desto größer wird die Gefahr einer ausgewachsenen sozialen Krise.[1]

Die Unterstützung des Westens bleibt für die Ukraine also überlebenswichtig – und das durchaus im Wortsinn angesichts der imperialistischen Bestrebungen Moskaus und der grausamen Kriegsführung der russischen Armee. Noch ist im Westen die Bereitschaft dazu vorhanden. So versicherte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock ihrem Amtskollegen Dmytro Kuleba bei einem Besuch in Kiew am 10. September, Berlin werde die Ukraine auch künftig „kraftvoll unterstützen, und zwar solange ihr uns braucht“.[2] Schon im Sommer hatte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron seine Landsleute in diesem Sinne auf harte Zeiten eingeschworen und sie dazu aufgefordert, „den Preis der Freiheit“ zu zahlen.[3]

Macron erinnert damit an einen zentralen Punkt: Russlands Angriff gilt nicht allein der Ukraine, sondern auch der EU, weshalb er uns als „Bürger Europas“ (Étienne Balibar) alle betrifft.[4] Aber diese Erkenntnis wird auf dem Kontinent längst nicht von allen geteilt, deutlich stärker verbreitet ist sie bei geographischer Nähe zum Aggressor und deutlich schwächer bei tradierten historischen Bindungen an Russland. Das wirft die entscheidende Frage auf: Wird die europäische Solidarität mit der Ukraine anhalten? Die Probe aufs Exempel erfolgt in den kommenden Wochen, wenn zwei weitere Ansprüche mit dieser Solidaritätsanforderung konkurrieren: der auf Solidarität innerhalb der einzelnen Gesellschaften und jener auf Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten der EU.

Erdgas als Waffe

Das gilt umso mehr, als Moskau den „Preis der Freiheit“ in die Höhe zu treiben versucht. Die westlichen Sanktionen schaden dem Land massiv, wie ein jüngst geleakter, interner Bericht an die russische Regierung zeigt: In zwei von drei denkbaren Szenarien, so die russischen Experten, werde die heimische Wirtschaft erst Ende des Jahrzehnts oder gar noch später wieder ihr Vorkriegsniveau erreichen.[5] Je mehr aber die Sanktionen die Kriegsführungsfähigkeit Russlands einschränken – und damit auch weitere Angriffskriege in Europa verhindern helfen –, desto mehr setzt der Kreml auf die aus seiner Sicht effektivste Waffe gegen die EU: den Lieferstopp für Erdgas.

Das Kalkül dahinter ist einfach: Während der ökonomische Druck auf Moskau seine volle Wirkung eher auf mittlere Sicht entfalten wird, trifft die drohende Gasknappheit Europa schon diesen Winter mit voller Wucht. Angesichts möglicher Gasrationierungen für die Industrie, explodierender Verbraucherpreise und einer schon jetzt hohen Inflation steuert die EU geradewegs auf eine schwere Rezession zu. Verzicht und Mangel, so die inzwischen offen erklärte Absicht des Kreml, sollen die vermeintlich dekadenten Europäer in die Knie zwingen, auf dass sie die Sanktionen aufheben.[6]

Deutschland im Visier

Nach und nach hat Moskau immer mehr europäische Staaten mit einem Gas-Lieferstopp belegt, Polen traf es schon im April, nun scheint die Bundesrepublik an der Reihe. Deutschland „handelt wie ein Feind Russlands“, schrieb Dmitrij Medwedjew, der stellvertretende Vorsitzende des russischen Sicherheitsrates, auf Telegram: „Sie haben einen hybriden Krieg gegen Russland erklärt“, behauptete der Ex-Präsident weiter und höhnte in Richtung von Kanzler Olaf Scholz: „und dieser alte Mann tut überrascht, dass die Deutschen ein paar kleine Probleme mit Gas haben“.[7]

Es ist kein Zufall, dass Moskau gerade Deutschland ins Visier nimmt. Angesichts eines relativ großen industriellen Sektors, der fast 30 Prozent des Bruttoinlandsproduktes erwirtschaftet, ist die Bundesrepublik enorm energiehungrig. Allein das Werk von BASF in Ludwigshafen verbrauchte im vergangenen Jahr etwa halb so viel Gas wie Dänemark, und die damit hergestellten chemischen Stoffe finden sich in zahlreichen deutschen Produkten von Dünger über Zahnpasta bis hin zu Autos.[8] Vor dem Krieg deckte russisches Gas 55 Prozent des hiesigen Verbrauchs,[9] und obwohl die Bundesregierung rasch nach – teilweise zweifelhaften – Alternativen Ausschau hielt, braucht eine planmäßig verlaufende Abkehr Zeit. Erst 2024 soll sie endgültig vollzogen sein – sofern Putin den Gashahn nicht seinerseits schon vorher endgültig zudrehen lässt.

Sollte aber Gas so knapp werden, dass es rationiert werden muss, träfe das zuerst die Industrie, da Privathaushalte, Krankenhäuser oder Pflegeheime in der EU rechtlich einen besonderen Schutz genießen. Viele Unternehmen können aus technischen Gründen jedoch nur begrenzt Gas einsparen. Die deutsche Wirtschaft ist also verletzlich – und zugleich von systemischer Bedeutung für die EU, dessen BIP sie zu einem Viertel erwirtschaftet. Zudem sind die ökonomischen Verbindungen derart eng, dass drohende Gasrationierungen und erst recht ein wirtschaftlicher Abschwung in Deutschland sofort spürbare Konsequenzen auch für seine europäischen Nachbarn hätten.

Besonders gefährdet sind jene mittel-osteuropäischen Staaten, die einerseits selbst stark am russischen Gas hängen, mangels Meerzugang keine Flüssiggasterminals aufbauen können und andererseits fest in die deutschen Lieferketten eingebunden sind: Tschechien, die Slowakei und Ungarn. Die dortigen Zulieferbetriebe der deutschen Autoindustrie, aber auch die örtlichen Metall- und Chemiewerke sehen harten Zeiten entgegen. Selbst in Frankreich, immerhin die zweitgrößte Volkswirtschaft der EU, blickt man mit Sorge auf Deutschland. Energieministerin Agnès Pannier-Runacher brachte das kürzlich so auf den Punkt: „Wenn sich die deutsche Chemie erkältet, hustet die gesamte europäische Industrie!“[10]

Angesichts dieser bedrohlichen Lage hat die Bundesregierung im Sommer um europäische Solidarität geworben. Diese ist ihr nicht versagt worden: Mit mehreren Ländern hat Deutschland inzwischen gegenseitigen Beistand vereinbart, darunter einen Tauschhandel mit Paris: Frankreich hilft mit Gas aus, im Gegenzug liefert Deutschland Strom, um den anhaltenden Ausfall zahlreicher französischer Atomkraftwerke zu kompensieren. Wichtiger als diese bilateralen Vereinbarungen ist aber, dass die EU-Energieminister nach teils scharfen Debatten eine europaweite Lösung gefunden haben. Am 26. Juli verständigten sie sich – bei einer Gegenstimme aus Ungarn – auf zunächst freiwillige Einsparungen beim Gasverbrauch von 15 Prozent. Selbst wenn diese Vereinbarung mit vielen Ausnahmen und Sonderregeln versehen ist, soll die so eingesparte Energie doch einen schweren Einbruch in den kalten Monaten verhindern.

Ärger über Berlin

Diese Einigkeit kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, wie viel Unmut über Berlin vielerorts herrscht. Die Brüsseler Verständigung kam nur unter Mühen zustande und folgte nicht zuletzt der Einsicht in die Notwendigkeit. Denn Deutschland ist heute das, was Italien in der Eurokrise war: too big to fail. Sein Scheitern wäre das Scheitern aller. Es muss daher im Interesse aller gestützt werden, mag der Ärger über die Berliner Politik noch so groß sein.

In der Tat ist der deutsche Solidaritätsappell gleich gegenüber zwei Gruppen von EU-Mitgliedern äußerst prekär. In Südeuropa ist zum einen noch nicht vergessen, dass es Deutschland unter Angela Merkel selbst an Solidarität hat mangeln lassen, als dort während der Eurokrise viele Länder unter Druck der Finanzmärkte gerieten. Mehr noch: Es sind nicht zuletzt die seinerzeit auf Berliner Betreiben durchgesetzten Austeritätsprogramme und die von ihnen ausgelöste Verarmung breiter Bevölkerungsschichten, die diese Länder empfindlicher gegenüber steigenden Energiekosten machen; Spanien und Portugal haben daher den Gaspreis gedeckelt.[11] Mit Ausnahme Italiens ist Südeuropa zudem selbst sehr viel weniger auf russisches Gas angewiesen. Spanien etwa verfügt über mehrere Flüssiggasterminals und hat die erneuerbaren Energien stark ausgebaut. Dennoch erließ Madrid schon am 10. August allgemeine Gassparverordnungen, und damit lange vor Berlin. Zuvor aber hatte die sozialistische Umweltministerin Teresa Ribera mit einer rhetorischen Spitze Richtung Berlin jene Vorhaltung zurückgegeben, die in der Eurokrise mit Blick auf die Staatsfinanzen regelmäßig aus umgekehrter Richtung kam: „Im Gegensatz zu anderen Ländern haben wir Spanier energetisch nicht über unsere Verhältnisse gelebt.“[12]

Druck aus dem Osten

Noch deutlicher ist zum anderen der Unmut im Osten Europas. Der rechte polnische Europaabgeordnete Patryk Jaki etwa monierte, die EU wolle „alle zwingen, den Gasverbrauch zu reduzieren, um Deutschland zu retten, das sich selbst und viele Staaten von Moskau abhängig gemacht hat“.[13] Nun spielen Vertreter der nationalkonservativen Regierungskoalition in Warschau zwar gern die antideutsche Karte, dennoch trifft Jakis Kommentar nicht nur in Polen einen Nerv. Deutschlands Sonderbeziehungen zu Russland wurden östlich der Oder stets kritisch gesehen. Insbesondere Nord Stream 2 galt als Solidaritätsverweigerung, missachtete Berlin mit dem Pipelineprojekt doch ganz offenkundig die Sicherheitsinteressen der Ukraine, Polens und der baltischen Staaten. Russlands Nachbarn mussten schon lange eine – auch mit Gaseinnahmen aus Deutschland – hochgerüstete russische Armee fürchten. Zudem werden die drohenden Gasengpässe die Energiepreise in der ganzen EU massiv steigen lassen, was auch Länder trifft, die wohlweislich weniger auf Importe aus Russland gesetzt haben. Das aber wird die Inflation weiter antreiben, gerade auch in den baltischen Staaten und Bulgarien, wo Energiekosten einen hohen Teil an den privaten Ausgaben ausmachen. So hat Deutschland mit seinem Hunger nach fossilen Energien und seiner unter Merkel verschleppten Energiewende, aber vor allem mit seiner blauäugigen Haltung gegenüber dem immer aggressiver auftretenden Putin-Regime seine politische Autorität im Osten der EU massiv untergraben.

Als Olaf Scholz bei seiner Rede in der Prager Karls-Universität jüngst sagte, „Europas Mitte bewegt sich ostwärts“, meinte er die anstehenden Erweiterungen der EU.[14] Der Satz passt aber ebenso gut zum gewachsenen Selbstbewusstsein der östlichen Mitglieder, die zunehmend kritisch auf die traditionellen westeuropäischen Führungsmächte blicken.

Das trifft neben Berlin auch Paris; denn Macrons Vision eines souveränen Europas zielte immer auf eine größere Unabhängigkeit von den USA, wohl wissend, dass dafür ein gewisses Einvernehmen mit Putin nötig sein würde.[15] Den Eindruck, dem Osten der EU ein unsicherer Verbündeter zu sein, konnte er bisher auch dadurch nicht zerstreuen, dass er den russischen Krieg mittlerweile klar als imperialistisch benennt. Allein schon dass Macron – genauso wie Scholz – weiter die Gesprächskanäle zu Putin offen hält, wird mancherorts mit deutlicher Kritik quittiert.

Insbesondere die Anrainerstaaten Russlands im Norden und Osten der EU drängen verstärkt auf einen harten Kurs gegenüber Moskau. Die jüngste, bereits vehement geführte Debatte um Visavergaben an Russen, in der neben den baltischen Staaten nicht zuletzt auch Finnland für eine restriktive Regelung eintrat, ließ sich noch mit einem Kompromiss beilegen. Doch spätestens wenn es irgendwann darum geht, wie dieser Krieg beendet werden kann, droht offener Streit. Berlin und Paris werden sich beispielsweise kaum jener Maximalforderung anschließen, die jüngst Litauens konservativer Außenminister Gabrielius Landsbergis erhob: Der Krieg müsse mit Putins „bedingungsloser Kapitulation“ enden, schrieb er auf Twitter. Für den Umgang mit der russischen Regierung gelte: „Keine weiteren Verhandlungen mit Terroristen.“[16]

Politische Turbulenzen am Horizont

Einheit und Solidarität in der EU zu bewahren, ist also jetzt schon alles andere als ein leichtes Unterfangen. Und wirtschaftlich steht das Schlimmste erst noch bevor, denn selbst wenn die Gasspeicher derzeit vielerorts gut gefüllt sind, können schon wenige Wochen strengen Frostes zu Engpässen führen. Dann hätte die EU-Kommission zwar die Möglichkeit, Einsparungen anzuordnen – auch darauf haben sich die Energieminister der Mitgliedstaaten im Sommer verständigt –, aber das birgt erhebliches Konfliktpotenzial. Und der übernächste Winter könnte ebenfalls hart werden. Denn sollten die Speicher in den kommenden Monaten völlig geleert werden müssen, dürften sie sich im Frühjahr und Sommer 2023 nur schwer wieder ausreichend auffüllen lassen. Da aber bis Ende nächsten Jahres noch nicht alle Alternativen zum russischen Gas bereitstehen werden, drohen erneut Knappheit und Mangel. Der liberale belgische Premierminister Alexander De Croo erwartet gar „fünf bis zehn schwierige Winter“.[17]

Europa steht also vor turbulenten Zeiten, ökonomisch wie politisch. Einen Vorgeschmack auf kommende Konflikte boten jene 70 000 Menschen, die ein schräges Bündnis aus Rechtsextremen und Alt-Stalinisten Anfang September auf den Straßen Prags versammelt hatte. Unter dem Motto „Die Tschechische Republik zuerst“ demonstrierten sie für eine Aufhebung der Sanktionen. Zwar dürfte sich vielerorts auch ein nicht zuletzt von Gewerkschaften getragener Sozialprotest formieren, der ohne solche nationalistischen Töne auskommt. Aber insbesondere Putins Rechtsaußen-Freunde in der EU werden nichts unversucht lassen, den berechtigten Unmut über steigende Lebenshaltungskosten gegen die weitere Unterstützung der Ukraine auszuspielen. Ungarns völkisch-nationaler Ministerpräsident Viktor Orbán beispielsweise agitiert schon seit Monaten gegen die westlichen Sanktionen und darf sich quasi als Belohnung über russische Gaslieferungen zu Sonderkonditionen freuen.

Die Ampel im Dilemma

Die rechte Agitation gegen Sanktionen – und in Deutschland immer öfter auch für die Öffnung von Nord Stream 2 – droht aber auch deswegen zu verfangen, weil die Regierungen der EU bei ihrer Antwort auf steigende Gaspreise vor einem ausgewachsenen Dilemma stehen, insbesondere die deutsche: Deckelt Berlin, wie derzeit nicht ohne Grund oft gefordert wird, nach spanischem Vorbild den Gaspreis, entfällt damit auch der Anreiz zum Sparen. Und eines solchen bedarf es dringend. Denn bleibt der Verbrauch der Privathaushalte nahe dem gewohnten Niveau, so drohen Engpässe in der Industrie, da diese im Falle von Rationierungen nachrangig versorgt werden muss. Bevor sie Werkschließungen riskiert, die in einigen Fällen endgültig sein könnten, dürfte die Ampel also den Marktdruck auf die Konsumenten wirken lassen – selbst wenn das bis weit in die Mittelschicht hinein für empfindliche Belastungen sorgt – und weiter primär auf Kompensation setzen, etwa über Ausgleichszahlungen an die Bürger.

In dieser Lage kommt der jüngste Vorstoß der EU-Kommission gerade recht – selbst wenn dieser neben dem starken Wiederaufbaufonds aus der Coronakrise etwas verblasst. Immerhin aber hat Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer jährlichen Rede zur Lage der Union einen Schritt angekündigt, den ihre CDU-Parteifreunde in Berlin strikt ablehnen: eine europaweite Übergewinnsteuer.[18] „In Zeiten wie diesen ist es [...] schwierig, aufgrund des Krieges und auf dem Rücken der Verbraucher Übergewinne zu erzielen“, erklärte von der Leyen in ihrer Rede und zielte dabei auf die Produzenten von Atomenergie, Kohlestrom und erneuerbaren Energien.[19] Per Verordnung will die Kommission die Mitgliedstaaten dazu anhalten, die mit dieser Sondersteuer angestrebten Einnahmen von mehr als 140 Mrd. Euro zur Abfederung sozialer Härten einzusetzen.[20]

Das ist auch mit Blick auf den Ukraine-Krieg dringend geboten. Wenn der Preis der Freiheit so hoch wird, dass er zu massenhafter Verarmung führt, könnte Putins Kalkül doch noch aufgehen und die Unterstützung für Kiew in den europäischen Gesellschaften früher oder später schwinden. Das aber wäre fatal – gerade zum jetzigen Zeitpunkt, da die Verteidiger derartige Erfolge erzielen konnten. Denn mit jedem schweren Rückschlag, den die ukrainische Armee den Invasoren beibringen kann, wächst die Aussicht auf ernsthafte Verhandlungen und schwinden Putins Möglichkeiten, einen Diktatfrieden durchzusetzen.

Aussicht auf Unabhängigkeit

Im Kräftemessen mit dem Kreml gilt es daher, den langen Atem zu behalten. Hält Europa durch, wird sich zeigen, dass Putin sich nicht nur bei seinem Feldzug, sondern auch mit Blick auf die EU verrechnet hat: Indem er Gas als Druckmittel einsetzt, offenbart er zugleich, wie sehr sein „oligarchischer Festungskapitalismus“ (Klaus Dörre) selbst vom Export fossiler Energien in die EU abhängt. Russland hätte damit in jedem Fall zu den Verlierern der Energiewende im Westen gehört.[21] Durch seinen Angriffskrieg vollzieht sich dieser Abstieg nun noch schneller: Mit jeder Solaranlage und jedem Windpark, die in der EU derzeit mit Hochdruck entstehen, schwindet Putins ökonomisches Drohpotenzial, während westliche Sanktionen, aber vor allem die ukrainische Gegenwehr zugleich seine Armee herbe schwächen.

Schon oft hat sich die Europäische Union in Krisen als bemerkenswert wendig und widerstandsfähig erwiesen. Übersteht sie auch die Gaskrise, so wird sie die fatale Energieabhängigkeit von einer Despotie abgeschüttelt haben – und das auf Dauer.

[1] Adam Tooze, Chartbook #149: Success on the battlefield whilst the pressure mounts on Ukraine’s home front, www.adamtooze.substack.com, 10.9.2022.

[2] Zit. nach: Daniel Brössler, Ukraine sieht Wendepunkt im Krieg, in: „Süddeutsche Zeitung“, 12.9.2022.

[3] Zit. nach: Jeanne Bulant, Guerre en Ukraine: Macron appelle les Français à „accepter de payer le prix de la liberté“, www.bfmtv.com, 19.8.2022.

[4] Étienne Balibar, Das ukrainische Paradox. Die Entstehung der Nation aus dem Geist des Krieges, in: „Blätter“, 8/2022, S. 49-59.

[5] Vgl. Russia Privately Warns of Deep and Prolonged Economic Damage, www.bloomberg.com, 5.9.2022; Vgl. auch Michael R. Krätke, Putins großer Bluff. Wie Russland den Wirtschaftskrieg verliert, in: „Blätter“, 9/2022, S. 93-98.

[6] Pjotr Sauer, Russia will not resume gas supplies to Europe until sanctions lifted, says Moscow, www.theguardian.com, 5.9.2022.

[7] Zit. nach: Guy Chazan, Germany to levy windfall tax on energy groups to fund €65bn aid package, www.ft.com, 5.9.2022.

[8] Can Deutschland AG cope with the Russian gas shock?, www.economist.com, 14.7.2022.

[9] Economist Intelligence Unit, Europe’s bleak midwinter. Heading for an energy and growth crunch, London 2022.

[10] Zit. nach: Niklas Záboji, Solidarisch mit Deutschland?, in: „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“, 21.8.2022.

[11] Vgl. den Beitrag von Julia Macher in dieser Ausgabe.

[12] Zit. nach: Alice Hancock, Guy Chazan und Peter Wise, Spain blasts EU plan to slash gas use as bloc’s solidarity tested, www.ft.com, 22.7.2022.

[13] Zit. nach Niklas Záboji, Solidarisch mit Deutschland?, a.a.O.

[14] Vgl. Rede von Bundeskanzler Scholz an der Karls-Universität am 29. August 2022 in Prag, www.bundesregierung.de, 29.8.2022.

[15] Michel Duclos, L’agression russe en Ukraine oblige à reconstruire des pans entiers de la politique étrangère française, in: „Le Monde“, 22.8.2022.

[17] Zit. nach: Hubert Wetzel, Streit in der EU-Spitze, in: „Süddeutsche Zeitung“, 10./11.9.2022.

[18]  Vgl. den Beitrag von Rudolf Hickel in dieser Ausgabe.

[19]  Vgl. Rede von Präsidentin von der Leyen zur Lage der Union 2022, www.ec.europa.eu, 14.9.2022.

[20] Sam Fleming und Alice Hancock, EU targets €140bn from windfall taxes on energy companies, www.ft.com, 14.9.2022.

[21] Klaus Dörre, Das Zeitfenster schließt sich! Krieg, Exterminismus und die Utopie des Sozialismus, in: „Sozialismus“, 4/2022, S. 16-23, hier: S. 18.

Aktuelle Ausgabe Oktober 2025

In der Oktober-Ausgabe wertet Seyla Benhabib das ungehemmte Agieren der israelischen Regierung in Gaza als Ausdruck einer neuen Ära der Straflosigkeit. Eva Illouz ergründet, warum ein Teil der progressiven Linken auf das Hamas-Massaker mit Gleichgültigkeit reagiert hat. Wolfgang Kraushaar analysiert, wie sich Gaza in eine derart mörderische Sackgasse verwandeln konnte und die Israelsolidarität hierzulande vielerorts ihren Kompass verloren hat. Anna Jikhareva erklärt, warum die Mehrheit der Ukrainer trotz dreieinhalb Jahren Vollinvasion nicht zur Kapitulation bereit ist. Jan Eijking fordert im 80. Jubiläumsjahr der Vereinten Nationen mutige Reformen zu deren Stärkung – gegen den drohenden Bedeutungsverlust. Bernd Greiner spürt den Ursprüngen des Trumpismus nach und warnt vor dessen Fortbestehen, auch ohne Trump. Andreas Fisahn sieht in den USA einen „Vampirkapitalismus“ heraufziehen. Und Johannes Geck zeigt, wie rechte und islamistische Rapper Menschenverachtung konsumierbar machen.

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