Ausgabe Februar 1991

Krieg statt Fortsetzung der Politik?

Ein Forum der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) zur Golfkrise

Während die vorliegende Ausgabe der "Blätter" in Druck geht, befindet die Welt sich in einer gespenstischen Situation (vgl. den Beitrag von Arthur Heinrich "Das Ende vom Anfang..." in diesem Heft). Der Ablauf des Sicherheitsrats-Ultimatums an den Irak 15. Januar 1991 - steht unmittelbar bevor; die verantwortlichen Politiker und die Überzahl der Medien verhalten sich, als sei Krieg jetzt unvermeidbar geworden; abwenden könne ihn, heißt es, allenfalls noch ein Mann: ausgerechnet jener Saddam Hussein, den man als "Irren von Bagdad" und als "neuen Hitler" abgestempelt hat, die letzte Hoffnung der Vernunft? Steinzeitlich erscheinen demgegenüber in diesen Tagen Konflikverhalten und Drohrituale jener (ja in der Tat erstaunlichen) Koalition, die nach dem irakischen Einfall in Kuwait durch eine endlich handlungsfähig erscheinende UNO legitimiert Hoffnungen auf neue, vernünftigere Konfliktlösungen nach dem "Ende des Kalten Krieges" weckte.

Und jetzt: Krieg - mit eingestandenermaßen unkalkulierbaren Folgen für die Region und die Zukunft der Menschheit - an der Schwelle zu einer von allen Teilnehmern der UNO-Koalition beschworenen neuen Weltordnung wieder ganz einfach "Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln" (Clausewitz)? "Heilig die letzte Schlacht"?! Eher scheint in diesen deprimierenden und furchterregenden Stunden Politik schlichtweg abgedankt zu haben zugunsten der archaischen "ultima ratio", während Vernunft und Vorstellungsvermögen "nur" noch außerhalb der Regierungen, selbst der Weltmächte und der Weltorganisation, nicht der allgemeinen wortreichen Sprachlosigkeit verfallen scheinen: in den Appellen, Mahnwachen, Demonstrationen und Gebeten, den aus Wohnzimmerfenstern hängenden weißen Laken mit der Aufschrift "Nein!" Aus der Falle, in die der Versuch, ein für allemal "ein Exempel zu statuieren", geführt hat, scheinbar unbekümmert um die Kosten, um die moralische Legitimation der Exekutoren und um die Komplexität der Situation, führt nur eine Rückbesinnung heraus: die Auflösung der Totalreduktion jener Komplexität auf einen einzigen Knoten, der unlösbar werden (und den fatalen gordischen Schlag geradezu provozieren) muß, wenn der Blick auf ihn verengt und fixiert wird wie der des Kaninchens auf die Schlange. Die Beiträge des nachstehend dokumentierten Forums tragen u.E. dazu bei, Kontext und Vielschichtigkeit des Golfkonflikts in Erinnerung zu rufen und damit auch Interessenlagen, Optionen und alternative Lösungsprozeduren freizulegen. Es wurde am 18. Dezember 1990 von der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt veranstaltet und auf Band aufgezeichnet. Wir danken der HSFK für die freundliche Erlaubnis der Publikation. Es handelt sich um die einführenden Beiträge des Diskussionsleiters Reinhard Rode (HSFK) und der Amerika-Experten Ernst-Otto Czempiel (Professor für Politikwissenschaften der Universität Frankfurt und Leiter der HSFK) und Harald Müller (HSFK) sowie der Mittelost-Experten Thomas Koszinowski (Deutsches Orient-Institut, Hamburg) und Rainer Büren (Stiftung Wissenschaft und Politik, Ebenhausen), ferner um die abschließenden, die Ergebnisse der Diskussion bündelnden Stellungnahmen der genannten Experten sowie einen Diskussionsbeitrag von Lothar Brock (HSFK). – D. Red.

Reinhard Rode:

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie stimmen mit mir sicher überein, daß es einem Friedensforschungsinstitut nicht geziemt, sich in erster Linie mit Kriegsszenarios auseinanderzusetzen. Seine Aufgabe sollte es vielmehr sein, nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen. Zum zweiten sollte es als wissenschaftliche Einrichtung nicht den Ereignissen hinterherlaufen, sondern versuchen, die jeweilige Konfliktstruktur zu erfassen. Wir haben die Situation, daß sich in Europa eine Friedensordnung abzeichnet und gleichzeitig außerhalb der OECD-Welt Konflikt, wenn nicht sogar Krieg eher zunimmt als abnimmt.

Wir haben womöglich ein Muster vor uns: regionaler Friede in Europa - zunehmender globaler Konflikt. Von all diesen Konflikten ist der im Nahost besonders brisant. Die gute Nachricht dabei ist, daß zwar mittlerweile kein Spill-Over im Sinne des Ost-West-Konflikts mehr zu erwarten ist, daß also ein solcher Konflikt vor drei oder vier Jahren noch sehr viel gefährlicher gewesen wäre. Sie kennen die Kriegsszenarien, die vor einigen Jahren diskutiert worden sind und die fast alle mit einem Konflikt im Nahostraum begannen und erwarteten, daß er irgendwann nach Europa und zwischen NATO und WVO überspringen würde. Das steht heute nicht zu erwarten.

Aber doch ist die Gefahr eines Regionalkrieges mit Einbezug Israels, diese eingeschränkte "worst case"-Annahme, problematisch genug. Aus friedenspolitischer Sicht gibt es fünf Anforderungen zur Lösung des Konflikts: Punkt eins ist, ganz sicher die Anforderung, den Druck auf den Aggressor beizubehalten, die Eroberung freizugeben. Punkt zwei, dies möglichst ohne Krieg; wenn es denn nicht freiwillig passiert, und das steht nicht zu erwarten, dann mit Hilfe einer Boykottstrategie - allerdings möchte ich hier einschränkend anmerken, daß die historischen Erfahrungen mit UNOSanktionen nicht allzu ermutigend sind.

Drittens, die Regionalisierung des Konflikts. Ich will das mit dem Fragezeichen versehen, wie aussichtsreich das sein kann. Viertens, ganz zentral, ein Lerneffekt für die Waffenexporteure. An dem Golfkonflikt zeigt sich die Berechtigung der jahrelangen Warnungen der Friedensforschung vor Waffenexporten in Konfliktregionen, er belegt exemplarisch die prognostizierten negativen Konsequenzen dieser Politik. Der Irak ist von der Sowjetunion und Frankreich hochgerüstet worden, auch die USA haben ihn als Gegengewicht zum Iran benutzt, und die Rolle deutscher Firmen bei der Installation von Gasfabriken ist ebenfalls hinreichend bekannt. Fünftens geht es natürlich aktuell um Kriegsverhinderung. Ein Friedensforschungsinstitut hat zudem Anlaß, sich Gedanken darüber zu machen, nicht bei dieser aktuellen Kriegsverhinderung stehenzubleiben, sondern mittel- und längerfristige Möglichkeiten anzuvisieren.

Eine solche Lösung kann sicher nur im Rahmen von Abrüstung und wirtschaftlicher Entwicklung mit Wohlstandssteigerung für die arabischen Massen sowie einer Lösung des Israel-Palästina-Problems gefunden werden. Wir haben es also mit einem sehr engen Konfliktgeflecht zu tun. Wenn diese Lösung nicht im Paket gefunden werden kann, dann werden wir uns immer wieder mit Kriegsszenarien und womöglich auch mit realen Kriegen in dieser Region auseinandersetzen müssen.

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Harald Müller:

Ich möchte zunächst über die politischen Ziele sprechen, die die Vereinigten Staaten in dieser Krise verfolgen. Ich habe dabei insgesamt neun unterschiedliche politische Ziele identifiziert, die zueinander teilweise in Widerspruch stehen, d.h. sehr schwer gleichzeitig erfolgreich verfolgt werden können.

Ziele und Optionen der Vereinigten Staaten

Zunächst geht es um die Erhaltung eines regionalen Gleichgewichts, darum, zu verhindern, daß in der Region am Persischen Golf eines der Anliegerländer oder der Nachbarländer sich als Vormacht etabliert und damit in der Lage wäre, auf die ganze Region Druck auszuüben.

Zweitens geht es den Vereinigten Staaten um den Schutz der Interessen und der Sicherheit Israels. Israel hat gerade in den letzten Wochen und Monaten immer wieder, jüngst mit der Reise von Ministerpräsident Shamir, versucht, in diesem Sinne Druck auf die Amerikaner auszuüben.

Drittens geht es um den Schutz der arabischen Verbündeten der Vereinigten Staaten, von Saudi-Arabien bis Ägypten. Und in diesem Zusammenhang gilt es, den aggressiven Pan-Arabismus, so wie er in den USA wahrgenommen wird, anzuhalten. Viertens geht es um die Versorgungssicherheit bei Erdöl, sowohl um die angemessenen Mengen, um die Weltnachfrage zu befriedigen, wie um einen nicht zu hohen Preis. Fünftens geht es um die Eindämmung der Ausbreitung von Massenvernichtungswaffen. Wir sprechen nicht mehr nur über Chemiewaffen und Raketen, die im Besitz des Irak sind, wir sprechen über sein sehr aktives Programm zur Herstellung von Kernwaffen. Es besteht kein Zweifel, daß ein solches Programm existiert. Es geht um die Zeithorizonte, in denen ein solches Programm verwirklicht werden kann. Die Weiterführung der amerikanisch-sowjetischen Zusammenarbeit, die sich in den Vereinten Nationen sehr gut angelassen hat, und das Interesse, die Sowjetunion in der Region nicht zu provozieren, steht einem anderen Ziel gegenüber, nämlich dem Ziel der Bewahrung des regionalen Einflusses der USA. Die Vereinigten Staaten haben ein Interesse daran, in der Region Persischer Golf, Indischer Ozean als die wichtigste außerregionale Vormacht erhalten zu bleiben.

Schließlich geht es kurzfristig um den Zusammenhalt der gegenwärtigen Golfkoalition, die Verhinderung größerer Friktionen innerhalb dieser Staatengruppierung und natürlich darum, amerikanische Opfer möglichst zu vermeiden oder gering zu halten.

Nun zum Problem der militärischen Potentiale und Optionen der USA in der Golfregion. Das militärische Potential der USA kann nur aus den veröffentlichten Nachrichten erschlossen werden. Es gibt unterschiedliche Angaben. Es wird manches geheimgehalten, beispielsweise die Frage, ob am Persischen Golf mittlerweile größere Teile der amerikanischen Chemiewaffenbestände eingetroffen sind. Des weiteren ist zwischen den Ankündigungen und dem tatsächlichen Eintreffen der Verbände zu unterscheiden. Die logistischen Probleme, vor die sich die USA und ihre Verbündeten in dieser Region gestellt sehen, sind enorm. Die Transportleistungen, die erbracht werden müssen, sind außerordentlich groß, zumal das ganze Transportnetz in relativ kurzer Zeit aufgebaut werden mußte. Die Angaben sind also mit Vorsicht und mit einer gewissen Bandbreite zu verstehen.

Die Vereinigten Staaten werden Mitte Januar, wenn das UN-Ultimatum abläuft, über fünf bis sechs Flugzeugträgergruppen verfügen, dazu kommen zwei mit Marschflugkörpern ausgerüstete Schlachtschiffe, die in der Lage sind, in der ersten Welle eines Angriffs weitreichend im Irak Ziele zu erreichen. Die Luftwaffe, die Marine und das Marine-Corps haben etwa 1500 Kampfflugzeuge in der Region. Wir sprechen von etwa 430 000 Soldaten, alle Teilstreitkräfte zusammengerechnet. Etwa sechs bis sieben Armeedivisionen mit zwei Corps-Stäben sind in der Region. Eine Marinedivision und drei separate Brigaden des Marine-Corps. Es werden zusammen über 2000 Kampfpanzer sein, die allein den amerikanischen Verbänden in der Region zur Verfügung stehen. Die Angaben über die Potentiale der Verbündeten der USA sind ebenfalls sehr unterschiedlich. Es ist nicht klar, wieviel Leute die Ägypter dorthin schicken werden, wieviele Syrer im Zweifelsfall in Saudi-Arabien stehen werden. Die Angaben schwanken zwischen 120 000 und 170 000 Mann.

Die Zahl der Kampfflugzeuge könnte zwischen 700 und 900 liegen, die der Kampfpanzer zwischen 800 und 1100. Dieses Dispositiv ermöglicht nach allgemeiner Einschätzung aufgrund seiner überlegenen Aufklärungs-, Führungs- und elektronischen Kampfführungsfähigkeiten eine breite Palette militärischer Optionen. Keine dieser Optionen ist aber natürlich eine kostenfreie. Sie werden mit Sicherheit alle mit Verlusten auch auf Seiten der Verbündeten und natürlich auch auf Seiten der Zivilbevölkerung in der Region verbunden sein. Die im Moment von der amerikanischen politischen Führung und vom Militär demonstrativ bevorzugte Option, die militärisch vorbereitet wird, ist eine umfangreiche kombinierte Operation von Luftund Landstreitkräften mit dem Ziel der Befreiung Kuwaits, verbunden mit gezielten Schlägen in das irakische Hinterland.

Damit ist also gleichzeitig der Versuch verbunden, die irakische Rüstungsproduktion zu beschädigen.

Aber dies soll nur mit begrenzten Bodenbewegungen in das irakische Territorium hinein geschehen, nämlich nur so weit wie es nötig ist, das unmittelbare Operationsziel, die Befreiung Kuwaits zu erreichen. Auch das wird immer noch mit recht hohen amerikanischen Verlusten verbunden sein. Die Kalkulationen gehen bis zu mehreren 10 000 Soldaten, die bei einer solchen Operation fallen könnten. Der amerikanischen Führung scheint aber im Moment diese Strategie die beste, die noch günstigste Kombination von Mitteln und Zielen zu gewährleiten.

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Ernst-Otto Czempiel:

Die Aktion der Vereinigten Staaten ist aus mehreren Gründen, die gar nicht so leicht zu sehen sind, außerordentlich bemerkenswert. Warum haben es die Vereinigten Staaten eigentlich nicht bei der Blockade, also bei dem Boykott belassen? Warum haben sie sich in eine militärische Situation hineinbegeben, die strategisch für sie außerordentlich ungünstig ist, und von der man gar nicht wissen kann, wie sie ausgehen wird? Mir scheinen zwei Gründe dafür maßgeblich zu sein. Erstens, die Versuchung, in die Rolle des Weltpolizisten zurückzukehren, nachdem die Auseinandersetzung mit der Sowjetunion zu Ende gegangen ist. Zweitens, die Tatsache, daß die Gefahr eines nuklearen Weltkrieges nicht mehr gegeben ist. Das hat die Vereinigten Staaten in den Stand gesetzt, auch wieder militärische Aktionen weltweit zu unternehmen, etwas, worauf sie bekanntlich in der Nixon-Doktrin von 1972 bewußt verzichtet hatten. Sie haben sich ja damals aus der Weltpolitik, aus der Rolle des Weltpolizisten zurückgezogen.

Befreit von der disziplinierten Wirkung des Ost-West-Konflikts

Wir haben es aus meiner Sicht bei der Irak-Aktion der Vereinigten Staaten nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes in doppelter Weise mit dem ersten Fall einer Weltsituation zu tun: Der Irak fühlte sich befreit von der Disziplinierung durch den Ost-West-Konflikt, er fühlte sich befreit von der Oberaufsicht seitens der Sowjetunion. Er hat deswegen die Gelegenheit wahrgenommen, sich Kuwait einzuverleiben.

Aber es fühlten sich auch die Vereinigten Staaten befreit von dieser disziplinierenden Wirkung des OstWest-Konflikts und des drohenden Einsatzes der Nuklearwaffen. Dies scheint mit wirklich ein Paradefall für das zu sein, was wir in Zukunft zu erwarten haben werden: Größere Handlungsfreiheiten der regionalen Mächte auf der einen Seite und auf der anderen dann wahrscheinlich und vielleicht sogar aufgrund dessen auch der Versuch der Vereinigten Staaten, zu einer Weltpolitik zurückzukehren, die sie in den 50er Jahren auch wahrgenommen hatten, aber dann wegen der hohen Verluste, die sie damit insbesondere in Vietnam erlitten, aufgegeben hatten. Ein zweiter Punkt ist bemerkenswert, nämlich die Einbettung der amerikanischen Aktion in eine Aktion der Vereinten Nationen.

Es ist interessant, daß die USA zunächst eigenständig eine militärische Antwort auf die irakische Kuwaitbesetzung gegeben haben, sie aber dann schnell eingebettet haben in eine Entscheidung der Vereinten Nationen. Das wirft die Frage auf, erstens: Warum haben es die Vereinigten Staaten gemacht? Und zweitens: Ist es wirklich eine UN-Aktion? Erstens, nun warum? Die Amerikaner haben dort, wo sie militärisch interveniert haben - auch in Vietnam -, dies immer in einer koalitionären Verbindung mit anderen Staaten getan. Sie sind nie alleine aufgetreten, obwohl sie natürlich die hauptsächliche Rolle bei diesen militärischen Aktionen gespielt haben, wie es gegenwärtig ja auch der Fall ist. Viel scheint darauf hinzudeuten, daß die Vereinigten Staaten nach einer Phase der kritischen Absenz von den Vereinten Nationen nun eine Höherbewertung der Weltorganisation vornehmen, daß sie die Weltorganisation in die Lage versetzen, sozusagen den kollektiven Weltpolizisten abzugeben, um bei Störaktionen ? la Irak gegen Kuwait eine kollektive Aktion starten zu können.

Ich bin der Meinung, daß es sich hier nur um eine scheinbare Aufwertung der Vereinten Nationen handelt, nicht um eine, die auf Dauer gestellt sein wird. Dieser Einschätzung entspricht erstens, daß die Vereinten Nationen nur punktuell eingeschaltet werden, nämlich im Falle Iraks. Sie sind nicht eingeschaltet worden, als die Vereinigten Staaten in Panama intervenierten, und sie werden auch, wie die quälenden Bemühungen um eine verschärfende UN-Resolution für die Einhaltung der Resolutionen in Sachen Israel-Arabische Staaten zeigen, ganz offensichtlich wieder in den Hintergrund geschoben werden. Zum zweiten Problem, diese Aktion ist im Sinne der UN-Charta keine Aktion nach Artikel 43. In der Konstruktion der Charta war vorgesehen, daß der Sicherheitsrat über Truppen verfügt, die ihm von den Ländern der Welt aufgrund von Verträgen, die abgeschlossen werden sollten, zur Verfügung gestellt werden.

Diese Verträge sind wegen des beginnenden OstWest-Konfliktes nie zustande gekommen. Sie sind auch jetzt nicht zustande gekommen, so daß das, was wir vor uns haben, eigentlich eine Legitimierung der individuellen Gewaltanwendung durch den Sicherheitsrat darstellt. Dies erfolgt allerdings mehr oder minder nach Artikel 106 der UN-Charta, in dem eine solche Möglichkeit vorgesehen worden war; jedoch nur als Aushilfe bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Verträge der Vereinten Nationen mit den einzelnen Staaten zur Überlassung militärischer Kontingente abgeschlossen sein würden. Dies ist also eine Aktion der Vereinigten Staaten, der westlichen Staaten, muß man noch dazu sagen, die von der ganzen Welt und auch vom Sicherheitsrat im Rahmen der dafür vorgeschriebenen Prozedur rechtlich einwandfrei gebilligt worden ist.

Aber es ist keine UN-Aktion, und dies spricht auch dafür, daß es sich im Zweifelsfalle nicht wiederholen wird, so sehr interessant die Perspektive auch sein könnte, daß in der Welt nach dem Ost-WestKonflikt die Vereinten Nationen eine bessere, eine größere Rolle spielen könnten, als dies bisher der Fall gewesen ist.

Die interne Situation der USA

Ich komme zu meinem nächsten Punkt: die interne Situation der Vereinigten Staaten. Dies ist nicht leicht einzuschätzen, wenn man absieht von den vorhandenen Umfragen über die Entwicklung der öffentlichen Meinung. Hier ist ein Absinken der Zustimmung zu einer Militäraktion von 75 Prozent im Oktober auf ungefähr 53 Prozent gegenwärtig festzustellen. Schwieriger einzuschätzen ist die politische Szene der USA. Hier ist auf der Seite der Demokraten, aber auch auf der Seite von einigen führenden Republikanern, große Besorgnis über die Militarisierung der Aktion der Vereinigten Staaten und des Westens angemeldet worden. Die demokratische Kongreß-Führung hat in den vergangenen Wochen Hearings abgehalten, in denen prominente Vertreter von Militär und Öffentlichkeit angehört worden sind.

Bemerkenswert ist, daß nicht nur frühere Generalstabschefs, sondern auch der gegenwärtig amtierende Geheimdienstchef Webster sich kritisch und zurückhaltend gegenüber einer Militäraktion ausgesprochen haben. Sie alle haben angesichts der ungünstigen strategischen Situation die sehr hohen menschlichen Kosten hervorgehoben, die bei einer solchen Aktion anfallen könnten und haben darauf verwiesen, daß die Möglichkeit zum ökonomischen Boykott, die ja im Falle des Öls relativ leicht wahrgenommen und auch eingehalten werden könnte, sehr viel besser und sehr viel wichtiger sei als die militärische Aktion. Wir haben auf der Seite der liberalen Demokraten, aber auch auf der Seite sehr ernst zu nehmender und keineswegs liberaler Militärs und auf dem äußersten rechten Spektrum der amerikanischen Politik eine aus verschiedenen Gründen zusammengesetzte, aber gleichermaßen in dieselbe Richtung weisende Zurückhaltung gegenüber einer militärischen Aktion. Es ist keineswegs so, daß die Vereinigten Staaten hier einig auf der Seite des Präsidenten stehen; selbst wenn sie einhellig die These tragen, daß der Rechtsbruch, den der Irak begonnen hat, eine Bestrafung verdient und entsprechend zurückgenommen werden muß, so besteht keineswegs eine Einhelligkeit darüber, auf welche Weise, mit Hilfe welcher Instrumente, diese Korrektur vorgenommen werden soll.

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Thomas Koszinowski:

Wir müssen zunächst das Regime in Irak selbst betrachten, das sich auf eine Ideologie stützt, die sogenannte Baath-Ideologie, die sich zum Ziel gesetzt hat, die arabische Einheit herzustellen bzw. die künstliche Aufteilung der arabischen Welt, die von den Kolonialmachten England und Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg vorgenommen wurde, rückgängig zu machen. Nach den Vorstellungen der Baath-Partei in Irak ist die arabische Welt eine Einheit für sich, unabhängig vom Osten und Westen, also unabhängig von den USA und der Sowjetunion, von Europa und Japan. Es ist ihr Ziel, die arabische Welt so zu stärken, daß sie als gleichgewichtiger Partner neben diesen Mächten existieren könnte. Es ist keine Frage, daß unter Präsident Saddam Hussein, der ebenso ehrgeizig wie rücksichtslos und brutal ist, Irak für sich beansprucht, die Führung der arabischen Welt in diesem Prozeß zu übernehmen.

Das Ziel der arabischen Einheit

Ein erster Schritt war der Konflikt mit Iran, der erste Golfkonflikt von 1980 bis 1988. Dieser Konflikt ist ein wesentlicher Bestandteil für die Entwicklung bis heute.

Trotz der hohen irakischen Verluste während des Krieges mit Iran kann man sagen, daß Irak gestärkt aus diesem Krieg hervorgegangen ist. 1982 stand Saddam Hussein vor dem Zusammenbruch. Es ist ihm gelungen, diese drohende Niederlage in einen Sieg umzuwandeln, zumindest indirekt. In Irak wird das jedenfalls so gesehen. Das hat das Selbstbewußtsein Saddam Husseins und der irakischen Führung gestärkt. Eine direkte Folge war die Schaffung einer starken militärischen Streitmacht, man spricht von rund einer Million Mann. Diese Streitmacht ist natürlich ein Instrument, was auch politisch auszunutzen ist, ohne daß es direkt eingesetzt werden müßte. Wie Saddam Hussein aber jetzt in Kuweit gezeigt hat, ist er bereit, auch direkt militärisch vorzugehen, wenn politische Mittel nicht mehr ausreichen.

Zweitens folgt aus dem langen Krieg mit Iran der Aufbau einer effektiven und starken Rüstungsindustrie. Vor dem Konflikt verfügte Irak praktisch kaum über Rüstungsfabriken, heute hat es vor allem bei der Herstellung von kleineren Waffen, von Munition, aber auch von Panzern und Kanonen mit den anderen Staaten wie Ägypten gleichgezogen. Und es hat im vergangen Jahr auch eine Mittelstrecken- oder Fernrakete gestartet. Wesentlich ist jedoch die Tatsache, daß Irak heute über - chemische und baktenologische - Massenvernichtungswaffen verfügt.

Damit hat es ein strategisches Gleichgewicht mit Israel erreicht. Irak ist ja bekanntlich auch dabei, Atomwaffen zu entwickeln. Eine weitere Folge dieses Konflikts war die Anhäufung der Schulden auf 80 bis 100 Milliarden Dollar. Diese Schulden dürften ein wesentlicher Grund für den Einmarsch in Kuwait gewesen sein, denn die irakische Führung wollte nach dem Krieg die Wirtschaft aufbauen. Auf Grund des niedrigen Ölpreises waren die Einnahmen jedoch so gering, daß Irak seine Schulden kaum noch bezahlen konnte, keine neuen Kredite bekam und die Wirtschaftsentwicklung stockte. Als Hauptschuldige wurden die benachbarten Ölstaaten ausgemacht, die den Preis nach Meinung Iraks künstlich niedrighielten.

Der Preis belief sich auf 14 Dollar pro Barrel, während Saddam Hussein 25 Dollar forderte. Auf der letzten OPEC-Konferenz im Sommer 1990 wurde der Preis zwar auf 22 Dollar erhöht, dies reichte Irak jedoch nicht. Irak hatte zudem noch andere Forderungen, die auch zum Teil mit dem Krieg gegen Iran zusammenhingen: Es wollte einen Zugang zum Golf haben, bekanntlich einer der Gründe für den Krieg gegen Iran. Und Irak hatte im Laufe des Krieges durchgesetzt, den Schatt-al-Arab als Wasserweg zurückzubekommen.

Nun wollte Irak einen Zugang zum Golf haben - durch den Besitz oder durch die Mietung der beiden vorgelagerten Inseln Duban und Warba. Ein anderer Streitpunkt mit Kuwait war die Grenzregelung. Kuwait wurde vorgeworfen, jahrelang das Rumaila-Ölfeld, das hauptsächlich zu Irak gehört, ausgebeutet zu haben. Irak forderte für diese Ausbeutung eine Entschädigung von rund 2,5 Milliarden Dollar.

Schließlich wollte Irak von den benachbarten Ölstaaten einen Schuldenerlaß. Von irakischer Seite wurde agumentiert, daß Irak im Krieg gegen Iran nicht nur sich selbst verteidigt habe, sondern die gesamte arabische Welt.

Während Irak mit Blut diesen Kampf bestritten habe, hätten die anderen benachbarten Staaten die Pflicht gehabt, wenn sie schon sich selbst nicht beteiligten, zumindestens die Kosten zu tragen. Es hat eine Reihe von Monaten Verhandlungen gegeben, diese Streitpunkte friedlich zu lösen. Irak kam dann zu dem Ergebnis, daß so nichts zu erreichen sei, da sich Kuwait weigerte, seine Forderung anzuerkennen.

So entschloß sich Irak zum Einmarsch in Kuwait. Dies zur Vorgeschichte.

Irakische Optionen

Jetzt steht Irak vor dem Problem, aus der Krise herauszukommen. Ich meine, daß nach irakischem Selbstverständnis sich drei mögliche Lösungen anbieten: - Zunächst die Möglichkeit, den Konflikt durchzustehen, in der Hoffnung, daß die Amerikaner nicht angreifen werden, daß sich das Ganze irgendwie verlaufen wird. Natürlich mit dem Ziel, Kuwait zu behalten. - Die andere Option, die ich für die wahrscheinlichste halte, ist, daß Saddam Hussein sich zu gewissen Bedingungen aus Kuwait zurückziehen wird. - Und drittens besteht die Möglichkeit, es doch zu einem militärischen Konflikt kommen zu lassen. Zunächst zur e r s t e n O p t i o n: Es ist die Politik Iraks gewesen, Zeit zu gewinnen, in der Hoffnung, daß sich der Kriegswille auf amerikanischer Seite verflüchtigen würde, daß die Koalition zerbrechen würde.

Damit ist Irak sogar relativ gut gefahren. Man kann sagen, bis zu dem UN-Beschluß, der eine Frist bis zum 15. Januar läßt. Irak hat taktisch relativ klug operiert, indem es immer wieder Geiseln freigelassen hat, um dadurch Zeit zu gewinnen.

Auf der anderen Seite versucht die irakische Propaganda, durch die Verbreitung gewisser Nachrichten, zum Beispiel über die Stärke der irakischen Streitkräfte, die Verteidigungsposition in Kuwait und die hohen Verluste, die sich bei einem Angriff der Amerikaner ergeben würden, auf die amerikanische Öffentlichkeit einzuwirken, um eben die Partei zu unterstützen, die gegen eine militärische Invervention ist. Zur Zeit sieht es so aus, daß der verhängte Boykott nicht richtig wirkt. Ich glaube, daß mittelfristig dieser Boykott Irak nicht schaden wird. Zu bedenken bleibt, daß langfristig, wenn es um die Versorgung mit Ersatzteilen für Flugzeuge und andere technologisch hochstehende Geräte geht, daß sich dann die Unterbindung des Nachschubs bemerkbar machen wird. Wir wissen aus dem Irankonflikt, daß die iranische Luftwaffe anfangs sehr stark war, daß sie aber dann, als die Amerikaner jeden Nachschub unterbanden, überhaupt keine Rolle mehr spielte. Die z w e i t e O p t i o n ist, wie gesagt, die wahrscheinlichste. Ich glaube, daß sich Saddam Hussein, wenn er merkt, daß es keine andere Möglichkeit gibt, wenn die Gefahr besteht, daß doch ein militärischer Konflikt ausbricht, aus Kuwait zurückziehen wird.

Aber man kann wohl nicht davon ausgehen, daß sich Saddam Hussein bedingungslos zurückzieht. Man muß vielmehr davon ausgehen, daß gerade im Nahen Osten ein gewisses Maß an Gesichtswahrung für einen Politiker wichtig ist. Von arabischer Seite ist wiederholt darauf hingewiesen worden, daß man bereit sei, die beiden Inseln Irak zu überlassen, daß man in der Frage der Grenzregelung auch bereit sei, Konzessionen zu machen, auch was den Schuldenerlaß betrifft. Das alleine, so meine ich, genügt Saddam Hussein nicht. Er möchte die Lösung des Konfliktes mit der Palästinafrage verknüpfen. Das würde ihm die Gelegenheit geben, als erster arabischer Politiker - vorausgesetzt, daß er einen gewissen Erfolg vorweisen kann dazustehen, der Bewegung in diesen Konflikt gebracht hat.

Er könnte dann - ähnlich wie nach dem Irankonflikt - durchaus als Sieger hervorgehen. Die Verknüpfung mit Palästina ist wichtig, weil im Rahmen der Intifada, des Aufstandes in Palästina, und der Gefahr der jüdischen Immigration von rund einer Million sowjetischer Juden, dieses Thema in der arabischen Öffentlichkeit eine große, auch emotionale Rolle spielt. Viele sagen, Palästina sei wichtiger als Kuwait. Die irakische Propaganda weist darauf hin, daß auf der einen Seite von Irak nicht zu verlangen ist, die UNBeschlüsse einzuhalten, während gegenüber Israel, gegen das es zahlreiche UN-Resolutionen gegeben hat, beide Augen zugedrückt werden. Das ist ein Punkt, wo Hussein auch in den anderen Staaten, die auf der amerikanischen Seite stehen, Verständnis findet. Vor kurzem hat die ägyptische Zeitung "Al Achram" auf die Doppelbödigkeit dieser Politik hingewiesen. Es dürfte für die USA, für den Westen insgesamt schwer werden, den arabischen Forderungen hier nicht nachzugeben. Es ist tatsächlich so, daß selbst Staaten wie Ägypten, Saudi-Arabien oder Syrien in diesem Punkt mit Irak übereinstimmen.

Nun noch kurz zu d r i t t e n, zur militärischen O p t i o n: Nach meiner Einschätzung scheint die irakische Führung der Meinung zu sein, daß eine militärische Option nicht völlig ausgeschlossen werden muß. Irak scheint sich auch auf die Möglichkeit einzurichten, es notfalls auf eine militärische Konfrontation ankommen zu lassen. Saddam Hussein und die irakische Führung scheinen sich dabei der Illusion hinzugeben, daß sie gewisse Chancen haben, einen militärischen Konflikt zu überstehen. Da ist das Risiko des Giftgases für die Gegenseite. Die entscheidende Karte ist für Irak jedoch eine Hineinziehung Israels in den militärischen Konflikt, was sicher nicht schwierig ist. Wenn es dazu kommen sollte, dann würde es zu der folgenschweren Konstellation kommen, daß amerikanische, israelische, ägyptische, syrische und saudische Truppen gegen ein arabisches Land, gegen Irak, kämpfen müßten. Dies ist eine Vorstellung, die von vielen Arabern als völlig unmöglich hingestellt wird.

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Rainer Büren:

Die Rationalität orientalischer Politik folgt eigenen Gesetzen, die nicht immer die unseren sind. Im Kern geht es um die Auseinandersetzung zwischen drei Territorialstaaten.

Aber das ist nur ein Bruchteil der Wahrheit. Im Grunde und fast vorrangiger würde ich sagen, geht es um die Machtkonkurrenz, durchaus in traditionellen Termini, von drei Stammesverbänden.

Auf der einen Seite etwa 1000 Takriti, Leute, die aus der Stadt Takrit stammen, nördlich von Bagdad, in Irak. Größtenteils verwandt, verschwägert, versippt durch die intime Nachbarschaft von irakischen Dörfern, vom Landleben und der Landwirtschaft geprägt, unter Führung von Saddam, Saddam Hussein et-Takriti. Der zweite Partner, etwa 2000 Angehörige der Sabah-Dynastie in Kuwait, und der dritte Partner, etwa 5000 Angehörige der Machtelite in Saudi-Arabien, das heißt, der Saud Dynastie und der Achad Dynastie. Das sind die Kerngruppen der Akteure.

Der innerarabische Konsultationsprozeß als Chance

Das führt auch uns schon zu der zweiten Bemerkung, daß der Konflikt gar nicht so neu ist. Raubmord, Annexion, Bestechung, Entführung, Geiselnahme, Landnahme - all das gehört zu den bewährten Mitteln von Machtkonkurrenten auf der arabischen Halbinsel im Verlauf von Jahrhunderten. Jede der dort heute herrschenden Dynastien hat sich dieser bewährten Mittel bedient. Im 19. Jahrhundert gab es allerdings einen sehr eleganten Regelungsmechanismus. Dort entschied auch die Kräfterelation vor Ort über den Ausgang derartiger Machtkonkurrenzen. In letzter Instanz war es der osmanisch-türkische Sultan in Konstantinopel, als Suzerän (Oberherr über abhängige, halbsouveräne Staaten, d. Red.) in weiten Teilen der arabischen Halbinsel.

Er entschied in letzter Instanz, wer von den siegreichen Protagonisten eines derartigen Kampfes belohnt wird mit der Einsetzung in eine Statthalterfunktion im Namen des türkisch-osmanischen Suzeräns. Der heutige Ersatz dafür ist zwar schwach, aber immerhin vorhanden. Es ist der Konsens der wichtigsten arabischen Staaten, die sich regelmäßig in Konsultationsprozessen - durchaus eigener Art - ihre Meinung bilden. Dieser Konsultationsmechanismus Schura gehört mit zu den klassisch-traditionellen Mitteln arabischer Politik. Es lassen sich, glaube ich, ermutigende Elemente eines derartigen Konsultationsprozesses nachweisen. Diese innerarabischen Konsultationen reichen alleine nicht aus, sie müßten begleitet werden durch eine Reprise des europäischen Konzertes des 19. Jahrhunderts.

Denken wir nur an dieses bahnbrechende Dokument der arabischen Staatsund Regierungschefs vom 1. September 1982, das ist eine gemeinsame Erklärung der wichtigsten arabischen Führer, damals im marokkanischen Fes verabschiedet. Es beinhaltet praktisch, so weit es irgendwie möglich ist, die Grundzüge eines gesamtarabischen Friedensplanes gegenüber Israel. Dieses bahnbrechende Dokument ist unter aktiver britischer Hilfe entstanden, die übrigen EPZMitglieder haben ebenfalls eine Rolle gespielt. Gleichzeitig gab es eine begrenzte europäische Militärpräsenz in Libanon zum Schutz der PLO. Ich finde, unter dieser Prämisse ist der amerikanische Kräfteaufzug am Golf eine hilfreiche und notwendige Unternehmung, aber keine ausreichende. Die amerikanische Militärpräsenz kann kein Ersatz sein für die Elemente eines intraarabischen Konsultationsprozesses und damit die Elemente einer politischen Lösung, aber sie vermag sie sehr wohl zu beschleunigen und hilfreich zu begleiten. Und das erleben wir ja tagtäglich.

Der Palästina-Konflikt

Viertens geht es um die Interdependenz zum Palästinakonflikt. Die Palästinaproblematik stellt eine unmittelbare Herausforderung dar an die Effektivität und Legitimität der Al-Saud-Dynastie in Saudi-Arabien. Die Legitimität dieser Dynastie beruht wesentlich darin, daß sie die heiligen Stätten und die Grundwerte des Islam auch im Außenverhältnis schützt. Jede der tagtäglichen Kollisionen im israelisch-palästinensischen Verhältnis ist also auch Anlaß schwerer Sorge für die saudiarabische Führung.

Deswegen spricht viel dafür, die herrschende Meinung innerhalb der Europäischen Gemeinschaft, aber wohl auch inzwischen im State Department, in Rechnung zu stellen, die auf eine Verbindung mit der israelisch-palästinensischen Problematik abstellt. Die Vereinigten Staaten haben noch zu Kissingers Zeiten, am 1. September 1975, eine umfangreiche Selbstbindung unterzeichnet. Sie erklärten damals, nicht mit der PLO verhandeln zu wollen, bis diese das Existenzrecht Israels anerkennt.

Sie haben den Israelis konzediert, daß die Aufnahme neuer Teilnehmer in den Kreis der Genfer Friedenskonferenz nur mit Zustimmung aller anfänglichen Partner möglich ist. Die Israelis sind nicht bereit, der Aufnahme der PLO als eines legitimierten Sprechers der palästinensischen Gemeinschaft zuzustimmen. Und das macht Sinn auf Grund des historischen Dilemmas der israelischen Staatsgründung. Von Anfang an war umstritten, wie die territoriale Dimension des jüdischen Staates aussehen und das Verhältnis zu den arabischen Bewohnern dort gestaltet werden sollte. Idealiter wäre ein begrenztes Territorium des Mandatsgebietes Palästina, in dem fast ausschließlich Juden angesiedelt sind.

Aber die Population hat das nicht zugelassen, und heute haben wir eine Gemengelage mit den bekannten Folgen. Die Frage ist also, will Israel ein binationaler, jüdisch-arabischer Staat sein, mit demokratischer Konstitution, nicht nur innerhalb des jüdischen Bevölkerungssegmentes, sondern auch und gerade unter Einschluß des arabischen Segmentes? Das ist die große Existenzfrage israelischer Politik. Sie zu lösen ist nach meiner Auffassung zur Zeit keiner israelischen Regierung möglich, mit all den bekannten Folgeerscheinungen im Friedensprozeß und in der Verhärtung tagtäglicher Positionen.

Wenn man abstellt auf den Hintergrund des Konfliktes und die Interdependenz zur Palästinaproblematik, dann stellt sich aus israelischer Sicht die Frage: Sind wir Israelis nicht unter Umständen dazu verurteilt, die Zeche zu zahlen? Wenn es zu einer politischen Kompromißlösung kommt, zwischen Kuwait und Irak, würde sich natürlich der Druck der internationalen Öffentlichkeit weitgehend verlagern auf die Israel-Palästina-Problematik. Liegt das im israelischen Interesse? Es spricht einiges dafür, daß die Israelis einen eigenen Kurs steuern, und sie haben das ja schon einmal schlagend unter Beweis gestellt. Der sogenannte Sechstagekrieg im Juni 1967 war eine israelische Antwort auf einen weitgehend deeskalierten Krisenprozeß im amerikanisch-ägyptischen Verhältnis.

In den guten alten Zeiten des Ost-West-Konfliktes war Israel selbstverständlich eine strategische Trumpfkarte für den Westen. Wenn Israel sich einseitig, unter Mißachtung der Warnungen der USA, zu einem Einsatz entschlösse, wäre das tödlich für die Legitimität der Al-Saud-Dynastie. Es würde auch im Westen die Frage akzentuieren, ob Israel eine Hypothek westlicher Sicherheitspolitik im Vorderen Orient sei. Dies bringt mich zu einem letzten Punkt, die Möglichkeiten eines deutschen Beitrages.

Wir sollten unter anderem dazu beitragen, den Irak nicht allzusehr zu dämonisieren. Und man sollte dann wahrscheinlich, auch wenn man einen wirklich vitalen politischen Entlastungsbeitrag zugunsten unseres amerikanischen Verbündeten unternehmen will, eher auf einen politischen Beitrag bei der Regelung des israelisch-palästinensischen Konfliktes abstellen. Es ist natürlich richtig, daß wir Geld zahlen, Hilfe für die unmittelbar betroffenen Nachbarstaaten im Orient, Übernahme von Ersatzaufgaben in Europa. All das ist wichtig und richtig.

Aber dies vermag keine wirklich strategischen Lösungsbeiträge zur gegenwärtigen Krise zu liefern. Unter den gegebenen Bedingungen würde ich es unter regionalen Gesichtspunkten ablehnen, deutsche Marineeinheiten in den Golf zu schicken. Ich hielte das für kontraproduktiv.

***

Lothar Brock:

Ich möchte mich äußern zu der Art, wie an die Interpretation des Konflikts und die Lösungsstrategien herangegangen wird. Mir scheint es so zu sein, daß alle Überlegungen auf der Annahme bauen, daß man die Situation heute entscheiden könnte, in der einen oder anderen Richtung, daß das, was in den nächsten Monaten getan werde, die zukünftige Entwicklung in Nahost entscheiden könnte auf, sagen wir einmal, fünfzehn oder zwanzig Jahre gerechnet. Ich möchte diese These in Zweifel ziehen, ausgehend von der Beobachtung, daß es keine wirklich befriedigende entscheidende Lösung im Augenblick gibt. Die Kriegsoption, die Kosten, die Unwägbarkeiten, die sie impliziert, sind uns allen gegenwärtig. Bei einer forcierten Boykotthaltung ohne Verhandlungen vermuten wir, daß die nicht durchgestanden, daß sie in sich selbst zusammenbrechen wird.

Eine kombinierte Strategie, ein bißchen Boykott, ein bißchen verhandeln, könnte darauf hinauslaufen, daß man den Aggressor belohnt oder ihn zumindest nicht bestraft für seine Handlungen. Welche Option man auch wählt - selbst bei einem teilweisen Rückzug des Irak aus Kuwait unter Bedingungen gäbe es Ergebnisse, die man als Belohnung Saddams, als weitere Stärkung des Regimes sehen könnte, zumal wenn die Verknüpfung mit der Palästina-Frage akut werden würde. Zweiter Punkt: Können wir eigentlich die Implikationen dieser Entscheidungsstrategien, die jetzt diskutiert werden, für die spätere Behandlung des Palästina-Problems durchstehen?

Angenommen es würde jetzt militärisch interveniert: Hieße das, daß wir bereit sind, in zwei Jahren gegen Israel zu intervenieren, um der Herrschaft des Rechts willen, auf das wir uns jetzt berufen? Schaffen wir jetzt durch solche Entscheidungsstrategien Handlungszwänge, die man später gar nicht durchstehen kann? Historisch gesehen haben sich alle militärischen Entscheidungen und Entscheidungsversuche der Nachkriegszeit als relativ bedeutungslos erwiesen. Das kann man beziehen auf kleinere Interventionen, die die Weltpolitik nicht wesentlich verändert haben, aber selbst auf solche Ereignisse wie den Vietnamkrieg.

Dritter Punkt: Ich glaube im Unterschied zu dem, was Herr Czempiel gesagt hat, daß es sich um eine sehr spezifische Konfliktlage handelt und wir nicht immer nur im Blick haben sollten - und uns damit selbst einschüchternd -, welche weltpolitischen Implikationen ein Zurückweichen des Westens in Nahost hätte. Ähnliche Konfliktkonstellationen gibt es in keinem anderen Teil der Welt, würde ich behaupten. Vierter Punkt schließlich: Können wir nicht das innerarabische Interesse an einem Gleichgewicht in der Region ins Kalkül einbeziehen, und sollten wir nicht eher darauf bauen, daß Syrien absolut kein Interesse hat an dieser Art von Baath-Politik, wie der Irak sie interpretiert? Baath-Politik schon, aber nicht zu den Bedingungen des Irak, wenn, dann eher zu den Bedingungen Syriens - da beides nicht geht, eher eine Tendenz zum Gleichgewicht.

Plädoyer für eine low-profile-Politik

Das bringt mich zu der Folgerung, daß es möglich und rational sein könnte, eine low-profile-Politik in diesem Konflikt zu fahren und zu sagen: Wir befinden uns in einer neuen Phase der Weltpolitik; wir haben früher versucht, Konflikte militärisch zu entscheiden, Saddam Hussein hat das für sich auch versucht, langfristig ist es bedeutungslos für die Lage im Nahen Osten, daß er Kuwait annektiert hat; wir reduzieren die amerikanische Militärpräsenz im Nahen Osten auf ein Minimum, das ausreicht, um von einer weiteren Aggression gegenüber Saudi-Arabien abzuhalten; wir bemühen uns um eine gezielte Boykottpolitik in der Ölfrage und beim Nachschub für strategisch wichtige Ersatzteile; dazu müßte bei uns die Exportkontrolle schärfer greifen.

Das hätte den Vorteil, sich nicht voreilig auf eine Verknüpfung mit der Palästina-Problematik einlassen zu müssen, die man, wie gesagt, nicht durchstehen kann. Die längerfristige Perspektive wäre m.E. gleichzeitig alle Möglichkeiten ins Spiel zu bringen, etwa mit Hilfe der EPZ (Europäische Politische Zusammenarbeit), einen regionalen Ansatz zur Friedenssicherung zu finden, auf längere Sicht und nicht durch so eine unmittelbare Verknüpfung zu versuchen, Israel dort mit einzubeziehen. Das würde auch Israel aus der Gefahrenzone bringen, die Zeche zahlen zu müssen und von daher den Widerstand gegen diese Möglichkeit noch zu verstärken.

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Harald Müller:

Die erste amerikanische Entscheidung im August, Landstreitkräfte zu entsenden, war zunächst mal die Entscheidung, in Saudi-Arabien selbst so etwas wie einen Stolperdraht einzuziehen, d.h. dem Irak zu signalisieren: Wenn ihr weitergeht, trefft ihr unmittelbar auf Amerikaner und seid damit im Krieg mit den USA. Für mich ist der entscheidende Schritt zur Eskalation, der Abbruch der Brücken hinter den Vereinigten Staaten, mit der Erweiterung um 200 000 Mann Anfang November gefallen, was verbunden war mit der Einberufung von Reserven und mit der Aussetzung der Rotation der bereits in Saudi-Arabien stationierten Truppen. Diese 480 000 Mann, die im Januar dort stationiert sein werden, machen überhaupt nur Sinn als offensive Streitmacht, und die Tatsache, daß man die Rotation gestoppt hat, d.h. die Truppen sich nicht erholen läßt, daß man Reserven einberuft, bedeutet im Grund eine Voraus-Selbstverpflichtung des amerikanischen Präsidenten.

Wenn er aus dieser Lage rausgeht, die Truppen wieder vermindert, ohne daß ein entscheidendes Zugeständnis von seiten des Irak gemacht wird, bedeutet das, daß die Weltmacht USA ihr Gesicht verloren hat in dem Konflikt, und das wird sie sich vermutlich nicht leisten können. Des weiteren möchte ich mich äußern zu der Frage nach der Unvermeidbarkeit einer amerikanischen Truppenpräsenz in der Region. Man darf nicht übersehen, daß die Vereinigten Staaten ja immer präsent gewesen sind in Gestalt ihrer Middle East Task Force, die auch immer ein Marinekontingent hatte, d.h. einen kleinen Truppenteil, der jederzeit schnell an Land gehen und diese Stolperdrahtfunktion, von der ich gesprochen habe, für kleinere Konflikte wahrnehmen konnte.

So etwas wäre nach meinem Dafürhalten durchaus nach einem Friedensschluß denkbar, und es wäre mit Sicherheit politisch vorzuziehen, denn die dauerhafte Stationierung von Bodentruppen im Land der heiligen islamischen Stätten ist nach meinem Dafürhalten ein ständiger Stachel in der Seite des arabischen Selbstbewußtseins, ob das nun mit oder ohne das Einverständnis seitens der saudiarabischen Führung vonstatten geht, und wird daher dazu führen, daß westliche Politik oder UNO-Politik oder wie immer diese amerikanische Truppenpräsenz gerechtfertigt wird, von einem beträchtlichen Teil der arabischen Öffentlichkeit als arabienfeindlich wahrgenommen wird.

Deswegen ist eine dauerhafte Bodenpräsenz der Vereinigten Staaten, so sinnvoll sie militärisch vielleicht sein mag, politisch kontraproduktiv.

Das regionale Gleichgewicht

Ein dritter Punkt, zu dem, was Lothar Brock angesprochen hat. Ich habe mit dem regionalen Gleichgewicht nach einem Kompromiß meine Probleme. Ein Kompromiß, der es Saddam Hussein gestattet, seine eigene Politik als erfolgreiches Trotzen gegenüber den Vereinigten Staaten darzustellen und zugleich sich selbst als Anwalt der palästinensischen Sache zu präsentieren, wird politisch gesehen das Gleichgewicht in der Region zu seinen Gunsten verändern. Auch geht die Diskussion über ein Gleichgewicht, was nach einem Kompromißfrieden dort erreicht wird, doch etwas an der Tatsache vorbei, daß der Irak auf dem Weg ist, seinen Nachbarn, was den Besitz von Massenvernichtungsmitteln angeht, ganz beträchtlich überlegen zu sein - Syrien ohnedies und auch dem Iran um Längen. Wir sprechen von einem Land, das in den letzten Jahren alle Anstrengungen gemacht hat, um sich auf dem nuklearen Sektor autark zu machen.

Das wird natürlich nie gänzlich gelingen. Meine Einschätzung des gegenwärtigen nuklearen Proliferationsstands im Irak ist nach wie vor, daß er einige Jahre von der Waffe entfernt ist, aber Jahre gehen vorbei. Es gibt keine wasserdichten Boykotts. Es geht immer etwas Technik rein. Die Technik mag aus Pakistan kommen, sie mag aus Brasilien, aus Argentinien kommen jedenfalls kommt, wenn die Zeit vergeht, dieses Land näher an eine Kernwaffe heran, und das ist natürlich ein totaler Umsturz des regionalen Gleichgewichts, wenn wir dieses Gleichgewicht als Gleichgewicht zwischen den arabischen Anliegern und dem Iran betrachten. Der Irak wird damit die Vormacht und Gleichgewicht ist nicht mehr gewährleistet. Wie findet man da einen Weg raus, wenn nicht durch Krieg? Mein Pessimismus, der glaube ich in meiner Darstellung deutlich geworden ist, gründet sich darauf, daß die einzige Art von Kompromiß, der wirklich allen Seiten Rechnung trägt, so diametral herkömmlichen Politiken widerspricht, daß es kaum vorstellbar ist, daß sich binnen einem oder anderthalb Monaten die Akteure um hundertachtzig Grad drehen.

Es bedeutet einmal, daß man Saddam Hussein etwas gibt, um das Gesicht zu wahren; das heißt zumindest Teile von Rumaila, das heißt die beiden Inseln, und das heißt irgendeine Art von wenigstens symbolischem Schritt in der Palästinenserfrage, etwa eine Nahost-Konferenz, deren Ausgang ja zunächst einmal völlig im Dunkeln liegt. Um andererseits amerikanische regionale und auch israelische Sicherheitsinteressen zu befriedigen, wird sich der Irak um den Frieden zu erreichen, zu Abrüstungsverpflichtungen verstehen müssen, die seine gesamte Palette von Massenvernichtungswaffen betreffen. Das wiederum wird der Irak nur tun, wenn Israel bereit ist, seine eigenen Kernwaffen zur Disposition zu stellen. Das wiederum wird Israel nicht tun, wenn nicht vorher der ganze Konflikt gelöst ist. Das ist ein absoluter, ein verhängnisvoller Zirkel, aus dem ich in dieser Zeit keinen Ausweg sehe, und deshalb wird meiner Ansicht nach, meiner Befürchtung nach dieser gordische Knoten gewaltsam durchschlagen werden, indem man dem Irak letztenendes aus der strategischen Sicht heraus, ihn nicht zur regionalen, nuklear bewaffneten Vormacht werden zu lassen, diese Dinge gewaltsam aus der Hand schlägt.

***

Ernst-Otto Czempiel:

Ich teile die Skepsis von Harald Müller, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Zunächst mal war ja die Strategie, die die Vereinigten Staaten anwenden, absolut richtig. Das ist die Strategie, die in der Fachterminologie als brinkmanship bezeichnet wird. Der Ausdruck stammt von John Foster Dulles und besagt: Man muß unter den gegenwärtigen strategischen Bedingungen den militärischen Druck soweit erhöhen, daß der Abgrund des Krieges sich öffnet, weil erst und nur dann die Kompromißbereitschaft auf beiden Seiten aktiviert werden kann.

Insofern ist also zunächst erstmal der Aufmarsch richtig; auf andere Weise ist wohl Herr Hussein nicht davon zu überzeugen, daß er Kuwait wieder freigeben muß.

Brinkmanship und neue weltpolitische Situation

Nun hat sich aber im Umfeld der Strategie der brinkmanship etwas geändert, was m.E. bei denen, die sie anwenden, nicht richtig bedacht worden ist, nämlich: Die Gefahr eines globalen Nuklearkrieges ist nicht mehr vorhanden. Sie gehört aber zur Strategie der brinkmanship, weil sie sozusagen eine automatische Bremse darstellt, die die Schußfahrt in den Abgrund verhindert. Die Gefahr, daß der angedrohte Krieg auch ausgeführt wird, wurde bis vor zwei Jahren durch die Gefahr einer nuklearen Explosion zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion letztendlich verhindert. Jede der beiden Seiten konnte nach Hause gehen und sagen: Wir mußten einen Kompromiß schließen, andernfalls wären die USA und die Sowjetunion miteinander in einen Nuklearkrieg geraten.

Diese Bremse ist jetzt nicht mehr da. Bei Bush liegt das ganz deutlich: Ich sehe nicht mehr, wie er nach Hause gehen kann, oder wie er zuhause vor seiner Öffentlichkeit sagen kann, er habe auf die Erreichung seiner Ziele verzichtet aus irgendwelchen humanitären oder sonstwelchen Gründen, wenn er nicht die Gefahr der Vermeidung eines Nuklearkrieges vorweisen kann. Ich glaube, daß das auch bewußt in den Vereinigten Staaten so gesehen wird und daß, wie Harald Müller, wenn ich es richtig verstanden habe, gesagt hat, die Vereinigten Staaten die Militärmaschine zerstören wollen, one way or the other, wenn es geht durch freiwillige Abrüstung des Irak, wenn nicht, dann durch die militärische Zerstörung des Irak. Das ist sicherlich auch logisch, weil nach dem Rückzug der amerikanischen Truppen der Irak, wenn er denn so bliebe, wie er ist, Kuwait ja erneut erobern und gegebenenfalls auch nach Saudi-Arabien einfallen könnte.

Es geht also im Endeffekt gar nicht mehr um Kuwait sondern darum, den Militärfaktor Irak zu beseitigen. Es geht, und da unterscheide ich mich ein bißchen von Harald Müller, m.E. auch darum, daß sich die Vereinigten Staaten auf eine langfristige Präsenz in der Golfregion einrichten, und zwar als einzige Möglichkeit, die in der Region nach der Beseitigung des Irak als Militärmacht auftretenden politischen und sozialen Spannungen wenigstens unter Kontrolle zu halten. Lösen kann Amerika sie natürlich auch nicht, aber Amerika kann sozusagen ein cover darüberdecken und verhindern, daß über diese sozialen und politischen Spannungen die ganze Ölversorgung des Westens in Gefahr gerät. Es gehen viele davon aus, davon ist noch nicht gesprochen worden, daß der Irak für den Fall einer militärischen Konfrontation terroristische Aktionen und Sabotageakte vorbereitet hat, die, wenn ich richtig informiert bin, sogar bis in die Bundesrepublik reichen. Man sollte, dies nur am Rande, mal darauf aufmerksam machen, daß eine kleine Ampulle mit biologischen Kampfstoffen, wenn man sie in Frankfurt öffnet, eine ganze Menge Schaden anrichten kann, und soweit ich darüber informiert bin, nimmt man in Geheimdienstkreisen an, daß der Krieg gegen Irak nicht auf denselben beschränkt bleiben wird.

Ich rechne also damit, daß die Vereinigten Staaten längere Zeit in der Region bleiben werden, Präsident Bush hat das auch ausdrücklich angekündigt; er hat öffentlich gesagt, die USA werden auf eine unabsehbare Zeit dort bleiben, um eben zu versuchen, eine gewisse politische Endkontrolle über diese Region aufzurichten, unter deren cover sich eine neue politische Organisation des Nahen Ostens bilden kann. Ich halte diese Hoffnung der Vereinigten Staaten für außerordentlich fehlgeleitet. Wir haben bei der Libanon-Invasion von Israel gesehen, was in einer so fragilen Situation durch die Anwendung von militärischer Gewalt herauskommt. Ich bin der Meinung, daß die Vereinigten Staaten, indem sie nunmehr Syrien und auch SaudiArabien mit den modernsten Waffen beliefern, im Endeffekt weitere Iraks aufbauen, also hier in einem sehr kurzsichtigen und nach den Erfahrungen, die wir in Vietnam und im Iran gemacht haben, eigentlich gar nicht mehr zu rechtfertigenden Vertrauen auf die politikbildende Kraft militärischer Gewalt eine Strategie eingeleitet haben, aus der die USA im Zweifelsfall nicht mehr herauskommen werden, die aber sicherlich die Probleme nicht lösen wird.

Konflikten politisch vorbeugen

Was wir aus dieser Sache lernen sollten ist, daß es darauf ankommt, gewaltsamen Konflikten vorzubeugen anstatt in dem Moment, in dem sie gewaltsam werden, sie ihrerseits mit Gewalt zu bekämpfen. Das ist etwas, was für die Friedensforschung, aber auch für die ganze Politik außerordentlich wichtig ist. Wenn wir die Landkarte absuchen nach Konflikten, von denen man annehmen kann, daß sie sich in absehbarer Zeit gewaltsam materialisieren werden, und ich könnte hier eine ganze Liste aus der Tasche ziehen, dann käme es ja darauf an, daß man jetzt mit vorbeugenden Maßnahmen anfängt, die im Fall Irak nicht mehr machbar sind. Es läuft vermutlich, wenn nicht noch der liebe Gott dazwischenkommt, darauf hinaus, daß geschossen wird. Gut, man muß es versuchen zu verhindern, aber was man auf alle Fälle machen muß, ist jetzt daran zu gehen - und das sollten die Europäer, das sollten auch gerade die Deutschen tun, die sich ja glücklicherweise sonst am Golf nicht beteiligen können - und zu überlegen, wer die anderen Kandidaten für gewaltsame Konfliktlösungen sind und zu versuchen, rechtzeitig politisch zu intervenieren, damit man nachher nicht militärisch intervenieren muß.

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Thomas Koszinowski:

Es ist sicherlich ein Dilemma, nachgeben zu müssen um des Friedens willen.

Aber ich glaube, daß es nicht unbedingt so sein muß, daß wenn es nicht zu einem Krieg kommt und wenn der Irak sein Militärpotential behält, daß dann der Irak automatisch zur überregionalen Macht wird und die ganze Region beherrscht. Ich glaube, daß es dann so etwas geben wird wie ein Gleichgewicht des Schreckens innerhalb des Nahen Ostens zwischen Israel, dem Irak und vielleicht noch einigen anderen Staaten, so wie wir es ja lange Zeit zwischen Ost und West gehabt haben, und daß sich wahrscheinlich gar nichts ändert in der Region, sondern alles festgeschrieben wird. Als die islamische Revolution Khomeinis gemacht wurde, hieß es, daß dort alles kaputtgehe, das Mittelalter zurückkomme; inzwischen wissen wir: die bauen wieder an ihren Atomkraftwerken, sie machen wieder eine normale Wirtschaft, es hat sich alles quasi eingerenkt, und ich könnte mir vorstellen, daß sich auch in der gesamten Region alles irgendwann wieder einrenken wird, auch ohne Krieg.

Noch einige Worte möchte ich zur arabischen Lösung sagen. Von arabischer Seite wird immer wieder darauf hingewiesen, daß eine innerarabische Lösung angestrebt werden soll, und daß wird auch vom Irak favorisiert. Und ich glaube, daß die Tatsache, daß Amerika dort immer das letzte Wort haben will, eine Lösung nicht unbedingt erleichtert. Natürlich müssen wir berücksichtigen, daß durch den Angriff Saddam Husseins und noch mehr durch die Annexion Kuwaits für das arabische Verständnis ein völlig neues Element hineingekommen ist, nämlich anstatt Diskussionen zu führen, nackte Tatsachen zu schaffen aufgrund militärischer Handlungen.

Das Gewicht Saddam Husseins ist mit dem Einmarsch in Kuwait sicher enorm gestiegen und der Irak wird in Zukunft eine gewisse Vormachtrolle haben, wenn es keinen Krieg gibt oder wenn man nicht auf friedlichem Wege, durch einen Boykott, das Gewicht des Irak reduzieren kann. Durch einen längerfristigen Boykott, auch durch Nicht-Abnahme des Erdöls, kann man den Irak langfristig in seiner wirtschaftlichen Entwicklung enorm zurückwerfen. Die Frage Krieg oder Frieden hängt letztendlich von den USA ab davon, ob die amerikanische Regierung Frieden oder Krieg haben will, ob sie sich irgendwie arrangieren will oder ob sie ein anderes Ziel verfolgt, nämlich nicht die Befreiung Kuwaits, sondern letztlich die Reduzierung des irakischen Militär- und Rüstungspotentials. Wenn sie das erreichen wollen, dann müßten sie eigentlich Krieg führen.

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Rainer Büren:

Das Grundproblem, vor dem wir stehen, ist die Zeitungleichheit der Rechtsordnungen. Es sind ja nicht die Konzepte des westlich geprägten Völkerrechtes, die die Legitimitätsvorstellungen im Nahen Osten strukturieren, sondern sehr eigengeartete Vorgaben aufgrund der teilweise kompliziert verlaufenen arabisch-islamischen Geschichte. Ich kann nicht eingehen auf den besonderen Komplex, warum beispielsweise Ambivalenzen, sogar Polyvalenzen ein unverzichtbarer Bestandteil der Rationalität arabischer Politik sind, aber sie sind es. Und das führt zu dem großen Problem: Worin liegt eigentlich der Fehler von Saddam, wenn wir nicht abstellen auf das westliche Völkerrecht, das geprägt ist von der Bestandsgarantie der Territorialstaaten als den eigentlichen zentralen Akteuren der internationalen Politik der Gegenwart?

Unterschiedliche Legitimitationsvorstellungen

Im Nahen Osten wird Macht aber nicht territorialstaatlich definiert, sondern personal, im Sinne von Dynastien, wenn Sie so wollen, von Solidar- und Loyalitätsgruppen. Der große arabische Soziologe und Politikwissenschaftler Ibn Kaldoun, der im 13. Jahrhundert gelebt hat, hat dafür den Begriff der assabiya geprägt, also der Loyalität, der Solidarität von Personengruppen, deren Wille zur Macht über den politischen Erfolg ihres Unternehmens entscheidet. Und in diesem Sinne ist der Kuwait-Konflikt geradezu beispielhaft. Die Verbindung des Gewaltverbotes des westlichen Völkerrechtes mit dem Territorialstaatsprinzip führt zu einer praktischen Bestandgarantie der existierenden Staaten, mit all den Ungerechtigkeiten, die das möglicherweise impliziert. Gut: nach den Regeln des allgemeinen Völkerrechtes, nach der UN-Charta gibt es erlaubte Gewalt.

Aber worauf sich beispielsweise die Israelis immer wieder berufen, ist die präventive Ausübung des individuellen oder kollektiven Selbstverteidigungsrechtes. All das ist höchst fraglich nach unseren Diskussionsmaßstäben, selbst wenn man das berechtigte Interesse Israels an solchen Aktionen anerkennt. Die Kollision des fixen europäischen Territorialstaates einerseits mit den sehr fluiden Traditionen personal definierter Macht im Orient, das ist ein ganz wichtiges Element zum Verständnis des gegenwärtigen Konfliktes, und das macht es auch so schwierig, die Maximalposition der USA in der Praxis wirklich durchzusetzen. Und gleichzeitig eröffnet es einen optimistischen Hintergrund für den gegenwärtigen Prozeß der Konsultation innerhalb der arabischen Welt.

Der - innerarabisch gesehene - eigentliche Fehler von Saddam liegt dann, daß er das Faktum, das er geschaffen hat, auch als solches benennt. Hafiz Assad dagegen hat das vermieden; er hat ein Kontrollregime über den Libanon errichtet, hat es aber ordnungsgemäß absegnen lassen durch Beschlüsse der arabischen Gipfelkonferenzen; seine syrischen Truppen dort sind mit einem Mandat versehen, das unter politischen Termini in Frage gestellt werden kann, aber immerhin... Die Israelis haben ein von den Betroffenen zum Teil als hart empfundenes Kontrollregime über die besetzten Gebiete errichtet. Auch sie berufen sich auf völkerrechtliche Legitimation, und selbst wenn man das nach 23jähriger Dauer mit einem Fragezeichen versieht - das Etikett bleibt. Saddam hat auf ein Etikett verzichtet, das es den Arabern erlauben würde, sein Kontrollregime über Kuwait in der gegenwärtigen Form zu akzeptieren. Und das ist im Grunde der eigentliche Fehler, den er begangen hat.

Nun zu einer Tatsache, vor der man nicht die Augen verschließen sollte: Arabische Politik ist geprägt durch Koalitionen, die sich über Nacht ändern können. Wir haben ja ein häufiges Bild: Erzfeinde, die noch gestern aufeinander geschossen haben, beschließen heute, daß sie sich ab morgen, 0 Uhr, vereinigen wollen - mit nur noch einer Fahne, gemeinsamen Botschaften, gemeinsamem Paß, gemeinsamer Fluglinie; all das hat es ja gegeben. Ich könnte mir also sehr gut vorstellen, daß irgendwann ein Überraschungsszenario aufgebaut wird, daß Saddam mit großer Geste verkündet, angesichts der Herausforderungen an die Zukunft der arabischen Nation schließen wir einen Beistands-, Freundschafts- und Hilfspakt mit Kuwait ab, nachdem er - nach Regelung der territorialen Elemente - seine Truppen zurückgezogen hat.

Das hielte ich für eine Lösung, der vor allem auch die Saudis eine Zustimmung nicht verweigern würden. Die Front zwischen Saudi-Arabien und der kuwaitischen Dynastie ist ja nicht friktionslos, um es höflich auszudrücken, sondern es gibt sehr unterschiedliche Zielvorstellungen und handfeste Rivalitäten aufgrund gewisser historischer Vorläufe. Das wäre eine Möglichkeit.

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