Ausgabe März 2021

Schuldenbremse oder: Die Abkehr von einem Dogma?

Der Chef des Bundeskanzleramts, Helge Braun (CDU), im Deutschen Bundestag, 16.09.2020 (IMAGO / Christian Spicker)

Bild: Der Chef des Bundeskanzleramts, Helge Braun (CDU), im Deutschen Bundestag, 16.09.2020 (IMAGO / Christian Spicker)

Ein Dogma gerät ins Wanken: die Schuldenbremse. In den vergangenen Wochen hat die Debatte um eine strikte Begrenzung staatlicher Haushaltsdefizite überraschend an Fahrt gewonnen. Selbst in der großen Koalition wächst offenkundig die Zahl derer, die zunehmend an dem im Grundgesetz verankerten Haushaltsinstrument zweifeln.

Ausgelöst hatte die Diskussion ausgerechnet Kanzleramtschef Helge Braun. Ende Januar plädierte der Vertraute Angela Merkels öffentlich für eine Reform der Schuldenbremse. Konkret schlug Braun vor, das Grundgesetz zu ändern, um in den kommenden Jahren eine höhere Neuverschuldung des Bundes zu ermöglichen. Nur so ließen sich im Gegenzug auch Steuern und Sozialabgaben auf dem aktuellen Niveau halten.[1] Bislang hatten CDU- und CSU-Politiker ein Ende der pandemiebedingten Ausnahmeregelung und damit eine Rückkehr zur Regelgrenze der Schuldenbremse schon für das kommende Jahr gefordert.

Die höchst kontroversen Reaktionen aus Wirtschaft und Politik ließen nicht lange auf sich warten – und sie zeigen eines allzu deutlich: Das Kanzleramt hat eine überaus wichtige Reformdebatte angestoßen. Denn zum einen drohen ohne eine flexiblere Handhabung der Schuldenbremse tatsächlich schon sehr bald Ausgabenkürzungen oder Steuererhöhungen. Das aber würde nicht nur den erhofften Wirtschaftsaufschwung nach der Pandemie gewaltig bremsen, sondern die Bundesrepublik bei Zukunftsprojekten wie der ökologischen Transformation und der Digitalisierung weiter zurückwerfen und ganz generell die Handlungsfähigkeit des Staates schwächen. Zum anderen weiß auch die Bundesregierung natürlich, dass sie sich derzeit zu nominalen Negativzinsen – und damit so günstig wie kaum zuvor – Geld leihen kann.

Wie wir aus den Schulden herauswachsen können

Die Schuldenbremse sieht vor, dass der Bund nur in geringem Maße neue Kredite aufnehmen darf, nämlich maximal 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Wegen der Coronakrise wurde diese Regel für die Jahre 2020 und 2021 vorübergehend außer Kraft gesetzt.

Angesichts der massiven wirtschaftlichen Folgen durch die Pandemie spricht sehr viel dafür, diese Ausnahmeregel mindestens noch im Jahr 2022 ein weiteres Mal in Anspruch zu nehmen. Zwar mahnen einige, dass der Staat für die Bewältigung der Coronakrise schon jetzt hunderte Milliarden Euro ausgegeben habe. Die Kritiker verkennen jedoch, dass der Staat in den kommenden Monaten und Jahren noch weitaus mehr Geld in die Hand nehmen muss, um die Auswirkungen der derzeitigen Krise zu dämpfen – ganz zu schweigen von den Investitionen, die für den sozial-ökologischen Umbau erforderlich sind.

Aus ökonomischer Sicht kann sich die Bundesrepublik eine höhere Verschuldung eindeutig leisten. Denn in einer Volkswirtschaft ist nicht die absolute Höhe der Schulden entscheidend, sondern das Verhältnis von Schulden und wirtschaftlicher Leistung.

Diese sogenannte Schuldenstandquote ist derzeit vergleichsweise niedrig: Nach der Finanzkrise lag der Schuldenstand im Jahr 2010 noch bei 82 Prozent des BIP. In den darauffolgenden neun Jahren sank er auf unter 60 Prozent – und zwar vor allem wegen der guten Konjunktur. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass Deutschland in den kommenden Jahren in diesem Sinne buchstäblich aus den Schulden herauswachsen kann. Ähnlich wie in den vergangenen zehn Jahren würde die Schuldenstandquote dann – wenn vielleicht auch etwas langsamer – wieder sinken. Und auch dann bekäme der Staat wegen der negativen Zinsen sogar noch Geld für seine Schuldenaufnahme.

Aus diesem Grund weist der Vorschlag aus den Reihen der Union, möglichst rasch wieder auf die Schuldenbremse zu treten, in die falsche Richtung. Würden die Regierungen in Bund und Ländern voreilig die Schuldenbremse wieder in Gang setzen, wären sie gezwungen, entweder die Steuern zu erhöhen oder Ausgaben zu streichen. Dieses Dilemma wäre nicht nur ökonomisch unvernünftig und politisch erzeugt, sondern würde zwangsläufig die konjunkturelle Erholung bedrohlich bremsen.

Auch das Argument, wonach man sich vor einem Zinsanstieg in den kommenden Jahren fürchten müsste, ist wenig überzeugend. Denn sobald die Konjunktur in Europa wieder kräftig anzieht, ist ein Zinsanstieg durchaus erwünscht. Andernfalls droht sich die Wirtschaft zu überhitzen und die Inflation zuzulegen. Bei starkem Wachstum wiederum ist der Anstieg der Zinszahlungen für den Staat gut zu verkraften: Die Konjunktur spült dann nämlich zusätzliche Einnahmen in die öffentlichen Kassen und das steigende BIP senkt automatisch auch die Schuldenquote.

Gewaltiger Investitionsbedarf

Mit Hilfe zusätzlicher Kredite könnte die Bundesregierung vor allem endlich auch den an allen Ecken und Enden sichtbaren Investitionsstau verringern. Dass hierzulande Reformbedarf besteht, hat soeben erst die EU-Kommission deutlich gemacht. Sie verweigerte der Bundesregierung Ende Januar, und damit fast zeitgleich zu Brauns Vorstoß, Gelder aus dem Corona-Wiederaufbaufonds – mit der Begründung, dass sie nachvollziehbare Investitionspläne für die kommenden Jahre vermisse. Die Ironie der Geschichte: Die Bundesregierung selbst hatte einst bei der Einrichtung des Fonds aus schulmeisterlicher Haltung darauf gedrängt, dass Länder nur dann Mittel aus diesem erhalten sollten, wenn sie im Gegenzug Reformauflagen einhielten.

Nun dreht sich der Spieß um – und die EU-Kommission mahnt gegenüber Berlin Strukturreformen an. Damit sind in der Regel Maßnahmen gemeint, die den Abbau sozialstaatlicher Absicherungen und oder Deregulierungen auf dem Arbeitsmarkt vorsehen. Derlei Forderungen gab es in der Eurokrise gerade auch aus Deutschland an die Adresse der Krisenstaaten. Die aktuellen Empfehlungen der EU-Kommission sind allerdings weitaus weniger problematisch – und sie verlangen regelrecht das Gegenteil: Brüssel mahnt vor allem an, dass hierzulande nicht ausreichend investiert wird, und man fragt sich verwundert, warum die Bundesrepublik durch die EU-Kommission erst zu ihrem Glück gezwungen werden muss.

Zwar haben Bund, Länder und Kommunen die öffentlichen Investitionen in den vergangenen Jahren durchaus hochgefahren. Aber gemessen an allen Bedarfserhebungen und Überlegungen zu den anstehenden Herausforderungen – angefangen von der Infrastruktur bis hin zur sozialökologischen Transformation – besteht noch immer ein immenser Investitionsbedarf. Und noch ist Deutschland weit davon entfernt, diesen abgearbeitet zu haben.

Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Zu lange hat die Bundesregierung mit der Schuldenbremse einseitig auf Haushaltskonsolidierung gesetzt. Die Angst davor, die Schuldenbremse zu reißen, führte dazu, dass Bund und Länder lieber Rücklagen aufgebaut haben, als offensiv zu investieren oder die Kommunen dazu in die Lage zu versetzen. Die Folgen dieser Politik haben sich in den vergangenen Monaten allzu deutlich gezeigt, nicht zuletzt in der Gesundheits- und der Bildungspolitik.

Die Misere der Kommunen

Insbesondere auf kommunaler Ebene müssen schon lange ausstehende Investitionen dringend getätigt werden. Ob die Kommunen dazu aber in der Lage sind, hängt vor allem von ihrer jeweiligen Finanzlage ab. Insbesondere in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und im Saarland gibt es jedoch zahlreiche Städte und Gemeinden, die große Finanzprobleme durch Altschulden aufweisen. Wären diese rechtzeitig gelöst worden, hätte man auch dort bereits nachhaltig investieren können. Erschwert wird die Lage dadurch, dass es in den Verwaltungen vielfach zu wenig Personal gibt, um Investitionsvorhaben zu planen, zu genehmigen und umzusetzen.

Dabei sind die Kommunen meist nicht aus eigener Verantwortung ins Schuldenloch gefallen: Hochverschuldete Gemeinden liegen fast ausschließlich in Regionen, die seit Jahrzehnten einem tiefgreifenden Strukturwandel unterworfen sind, in denen hunderttausende Jobs verloren gingen und alte Industrien verschwanden.

Der Bund und die Länder haben die Kommunen in der Coronakrise zwar unterstützt, indem sie etwa im vergangenen Jahr Gewerbesteuerausfälle kompensiert und Teile der Sozialausgaben übernommen haben. Dennoch hat die Bekämpfung der Pandemie erhebliche Einnahmelücken aufgerissen, die voraussichtlich noch auf Jahre klaffen werden – und welche die Kommunen voraussichtlich nicht alleine schließen können.

Fest steht auch: Gegen den globalen Strukturwandel kann man nicht mit dem kommunalen Rotstift ansparen. Einen solchen Strukturwandel abzufedern, stellt vielmehr eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe dar. Daher sind nun Bund und Länder gefragt, die Kommunen stärker und länger finanziell zu unterstützen. Bleiben diese auf sich gestellt, haben sie indes keine andere Wahl, als noch weiter zu kürzen und bei den Investitionen zu sparen.

Seit Jahren wird der Investitionsstau in vielen Kommunen diskutiert – ohne dass sich etwas Grundlegendes geändert hat. Wäre der Hebel bereits vor zehn Jahren umgelegt worden, als die Probleme ebenfalls schon gewaltig waren, dann wäre Deutschland angesichts der sich zuspitzenden Krise heute vermutlich um Einiges besser gewappnet. Stattdessen setzte die Politik auf Schuldenbremse und Schwarze Null.

Eines sollte man außerdem nicht vergessen: Bei der Finanzausstattung der Kommunen geht es neben den öffentlichen Investitionen in Infrastruktur vor allem um die öffentliche Daseinsvorsorge, also um Kindergärten, Krankenhäuser, kommunale Versorgung, Entsorgung und Verwaltung. Diese Einrichtungen müssen ausreichend finanziert und mit qualifiziertem Personal ausgestattet sein. Gesamtwirtschaftlich geht es dabei außerdem darum, in den Kommunen die Einkommens- und damit die ökonomische Entwicklung zu stützen.

Stattdessen aber stehen wir nun – inmitten der Coronakrise – vor einer weit größeren Herausforderung. Zwar müssen nicht per se sämtliche Zukunftsinvestitionen staatlich finanziert werden, aber dennoch ist der öffentliche Ausgabenbedarf immens. Schon im November 2019 – also noch vor Ausbruch der Pandemie – forderten der Industrieverband BDI und der Deutsche Gewerkschaftsbund gemeinsam ein Investitionspaket im Umfang von 450 Mrd. Euro für die nächsten zehn Jahre. Das Geld sollte vor allem in die Infrastruktur und das Bildungswesen fließen. Diese Investitionen seien auch, so betonten es BDI und DGB damals, Voraussetzung für höhere und effiziente private Investitionen in anderen Sektoren wie Verkehr oder digitale Infrastruktur. Heute dürfte der Bedarf, auch angesichts der Corona-Folgen für die Kommunen, noch erheblich größer ausfallen.

Zurück zur Goldenen Regel der öffentlichen Investitionen

Es ist schwer vorstellbar, dass diese zentralen Zukunftsaufgaben ohne eine Reform der Schuldenbremse bewältigt werden können. Wird diese dagegen schnell wieder betätigt, wird sie Bund und Länder in den kommenden Jahren unweigerlich zurück auf einen strikten Konsolidierungskurs zwingen. Die vorgeschriebene Tilgung der Corona-Schulden verengt die Kreditspielräume dabei zusätzlich; große Investitionssummen lassen sich in einem solchen Umfeld kaum mobilisieren.

Umso dringender ist nun eine Rückbesinnung auf die Goldene Regel der öffentlichen Investitionen. Diese in der traditionellen finanzwissenschaftlichen Literatur weithin akzeptierte Verschuldungsregel schreibt vor, dass die öffentlichen Nettoinvestitionen durch Kredite finanziert werden sollten, da dadurch gleichzeitig der Generationengerechtigkeit und dem Wirtschaftswachstum gedient ist: Öffentliche Investitionen tragen dazu bei, den öffentlichen Kapitalstock und damit Produktivität und Wachstum zu erhöhen, auch zugunsten künftiger Generationen. Deshalb sollten diese auch für den Schuldendienst herangezogen werden. Andernfalls müssten heutige Generationen mittels Steuererhöhungen oder Ausgabenkürzungen die gesamte Finanzierungslast tragen. Gerade in Konsolidierungsphasen führt das dann regelmäßig dazu, dass die öffentlichen Investitionen unter die Räder geraten. Genau dies ließ sich äußerst eindrücklich während der Austeritätsphase in den Eurokrisenstaaten beobachten.

Konkret könnte ein pragmatischer dauerhafter Reformvorschlag wie folgt aussehen: Bund und Länder dürfen zusätzlich zur bisherigen Schuldenbremse investive Ausgaben in Höhe von insgesamt zwei Prozent des BIP – statt bisher 0,35 Prozent – auf Kredit finanzieren. Ein strukturelles Defizit in dieser Höhe sollte Tragfähigkeitsbedenken wegen eines zu hohen Schuldenstandes ausräumen.

Zugleich würde eine solche Reform der Schuldenbremse die nötigen Spielräume zur Finanzierung von Zukunftsaufgaben schaffen, und sie könnte darüber hinaus eine Blaupause für eine entsprechende Reform auch der EU-Fiskalregeln liefern.

Ob ein solcher Vorschlag im Bundestag die notwendige breite Mehrheit finden könnte, ist derzeit unklar. Immerhin sprechen sich nicht nur der derzeitige Koalitionspartner der Union, die SPD, sondern auch die Grünen, potentieller Koalitionspartner der Union nach der Bundestagswahl im Herbst, seit langem für eine Lockerung der Schuldenbremse aus. Und wie die derzeitige öffentliche Diskussion zeigt, wächst offenbar auch in Teilen der Union die Einsicht, dass die Schuldenbremse reformbedürftig ist. Somit stehen zumindest die Chancen nicht schlecht, dass die zukünftige Bundesregierung auch mit der Union wenigstens alle Spielräume und Schlupflöcher nutzen wird, um eine hochschädliche Rückkehr zur strikten Schuldenbremse zu verhindern.

[1] Vgl. Helge Braun, Das ist der Plan für Deutschland nach Corona, www.handelsblatt.de, 26.1.2021.

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