
Bild: Der französische Präsident Emmanuel Macron während einer Pressekonferenz im Chateau de Versailles bei Paris/Frankreich, IMAGO / Xinhua (11.3.2022)
Der verheerende Angriffskrieg auf die Ukraine markiert eine tiefe historische Zäsur für Europa. Das zeigt sich auch und insbesondere in Frankreich. Als europäische Führungsmacht trägt es derzeit nicht nur eine besondere Verantwortung beim Versuch, eine weitere Eskalation abzuwenden, sondern sein Präsident ist auch zum Stichwortgeber für die europäische Antwort auf Wladimir Putins Aggression geworden. Schließlich war es Emmanuel Macron, der schon vor fünf Jahren jene „europäische Souveränität“ eingefordert hat, die jetzt entwickelt werden soll, um in dieser neuen Zeit bestehen zu können. Die Wege, die dahin beschritten werden sollen – wie eine gemeinsame Verteidigungs- oder eine verstärkte europäische Energiepolitik –, klingen ebenfalls stark nach den zuvor oft abgewehrten Konzepten des französischen Präsidenten. Wenn Europas Chefstratege sich derzeit also bestätigt fühlen kann, so zeigt er es angesichts des ebenso verbrecherischen wie brutalen Krieges des Putin-Regimes wohlweislich nicht. Stattdessen präsentiert er sich ganz als der verantwortungsvolle Diplomat, der sowohl mit Putin als auch mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj regelmäßig telefoniert und bei seinem Vorgehen insbesondere den Schulterschluss mit Deutschland sucht.
Das wiederum sorgt vor den Präsidentschaftswahlen am 10. und 24. April für eine Fallhöhe, die größer nicht sein könnte. Statt um echte oder oft bloß imaginäre Probleme Frankreichs, an denen sich die meisten aussichtsreichen Kandidatinnen und Kandidaten bisher abgearbeitet haben, geht es nun um nichts geringeres als den Frieden in Europa und die neue Rolle der EU in einer dramatisch veränderten Welt. Während Macron darüber mit anderen Staatschefs verhandelt, tingeln seine Herausforderer eifrig durch Fernsehstudios und Festsäle und können doch nicht verhindern, dass die meiste Aufmerksamkeit vom Kriegsgeschehen absorbiert wird.
Putins Bewunderer unter Druck
Als weitaus größere Bürde erweist sich für die meisten von ihnen aber ihre langjährige Haltung zu Putins Russland. In Frankreich zeigt sich so deutlich wie kaum irgendwo in Europa, dass der Kampf zwischen Despotie und Demokratie, der derzeit auf ukrainischem Boden ausgefochten wird, einem Konflikt innerhalb der westlichen Gesellschaften zwischen autoritären und freiheitlichen Kräften entspricht. Gleich drei der vier stärksten Widersacher Macrons haben Putin stets verteidigt, zuweilen regelrecht bewundert. Jetzt geraten sie unter enormen Rechtfertigungsdruck.
Der Rechtsradikale Éric Zemmour etwa hatte schon lange vor seiner politischen Karriere bekannt, er „träume von einem französischen Putin“.[1] Die Warnungen vor einer russischen Invasion der Ukraine tat er als Hysterie ab, die von US-Geheimdiensten geschürt werde. Seine ebenfalls rechtsradikale Konkurrentin Marine Le Pen spielte vor dem Krieg eine sogar noch unrühmlichere Rolle: Ihre Partei, der Rassemblement National, pflegt eine enge Kooperation mit dem Kreml, ließ sich von Moskau mit einem Kredit über neun Millionen Euro finanzieren und verbreitete eifrig Propaganda über das international nicht anerkannte Unabhängigkeitsreferendum auf der von Russland annektierten ukrainischen Halbinsel Krim. Für den Wahlkampf hatte Le Pen über eine Million Broschüren drucken lassen, die ein Foto ihres innigen Händedrucks mit Putin zeigen – nach Kriegsbeginn wurden sie flugs eingestampft.[2]
Während die Putin-Nähe der beiden Rechtsradikalen auf politischen Sympathien für den Moskauer Machthaber beruht und einer ähnlichen Strategie zur Unterminierung der offenen Gesellschaft und der EU entspringt, liegt der Fall beim Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon anders: Er bezeichnet sich zwar als „blockfrei“,[3] erachtete aber wie so mancher Linker – nicht nur in Frankreich – erklärtermaßen Nato und USA als die größten Probleme für den Frieden. In den Warnungen vor dem russischen Militarismus sah er nur einen willkommenen Vorwand für eine verstärkte europäische Verteidigungspolitik. Zwei Wochen vor der Invasion, als Putins Armee schon aufmarschiert war, antwortete er auf die Frage, wer im Ukraine-Konflikt der Aggressor sei kurz und bündig: „Die Nato, ohne jeden Zweifel.“[4] Dabei hätte ihm spätestens seit dem Syrien-Krieg bewusst sein müssen, dass Putin selbst Kriegsverbrechen gegen Zivilisten nicht scheut. Damit schwindet wohl Mélenchons Hoffnung, grüne oder sozialistische Wähler könnten ihm als dem stärksten linken Kandidaten wenn schon nicht aus Überzeugung, so doch wenigstens aus taktischen Gründen ihre Stimme geben.
Selbst die französischen Konservativen gerieten durch den Angriffskrieg in einen Abwärtssog. Der ehemalige Premierminister François Fillon, 2017 noch Präsidentschaftskandidat der Partei, gab den französischen Gerhard Schröder und konnte sich bei Kriegsbeginn am 24. Februar kaum zu einer Verurteilung der russischen Invasion durchringen, da er zu diesem Zeitpunkt im Vorstand des staatlichen russischen Ölkonzerns Sarubeschneft und des petrochemischen Unternehmens Sibur saß. Zwar verfügte er, anders als Schröder, noch über so viel Anstand oder wenigstens taktisches Gespür, um am folgenden Tag seine Posten zu räumen, aber da war der Schaden längst angerichtet.[5] Angesichts einer Spitzenkandidatin Valérie Pécresse, die schon zuvor ideologisch irrlichterte und – wohl entgegen ihrer Überzeugung – Schlagwörter der radikalen Rechten wie „Passfranzose“ und „großer Austausch“ übernahm,[6] scheiden die Konservativen für viele bürgerliche Wähler als ernsthafte Alternative zu Macron aus.
Bruch mit der Inselmentalität
Das verweist auf ein höchst beunruhigendes Phänomen: Unter den aussichtsreichen Bewerberinnen und Bewerbern in Frankreich ist Macron der einzige, der konsequent international und europäisch denkt und nicht den Rückzug in die nationale Wagenburg oder gar einen aggressiven Provinzialismus predigt. In den Wochen vor Kriegsbeginn überboten sich Rechtsradikale und Konservative mit immer neuen Volten gegen Immigration und gesellschaftliche Vielfalt und machten sich dabei ein tatsächlich vorhandenes Unsicherheitsgefühl in Frankreich zunutze.[7] Schon lange vor dem Krieg hatten über 60 Prozent der Franzosen erklärt, es gebe keine Sicherheit mehr im Land und verantwortlich dafür sei die Einwanderung. Diese Aussage, die die Erschütterung durch den islamistischen Terror in Frankreich widerspiegelt, teilen sogar die Hälfte der Macron-Wähler und mehr als ein Drittel der Mélenchon-Anhänger.[8] Angesichts dessen ist es eine bemerkenswerte Wende des Präsidenten, wenn er nun – anders als 2015 oder noch im vergangenen Jahr nach dem Fall von Kabul – Schutzsuchende aus der Ukraine in großer Zahl willkommen heißt.[9]
Dieser Stimmungsumschwung in der Gesellschaft unterstreicht etwas, was angesichts eines extrem krawalligen Wahlkampfs leicht in Vergessenheit geraten könnte: Frankreich ist kein rechtes Land.[10] Aber nach Jahren mit Wirtschaftskrisen, Terroranschlägen und der Corona-Pandemie sind viele Französinnen und Franzosen verunsichert und pessimistisch. Dieser Verunsicherung wollten die Rechtsradikalen mit Abschottungsphantasien begegnen und die Konservativen ließen sich davon treiben. Selbst eine teilweise Abwendung von Europa schien für führende Bürgerliche zwischenzeitlich denkbar.
Diese Inselmentalität aber hat sich in den vergangenen Wochen als komplett realitätsfremd, ja sogar als gefährlich erwiesen. Macron, der auch ohne den Krieg einen europafreundlichen Wahlkampf geführt hätte, wird nun von der historischen Entwicklung bestätigt, wenn auch auf äußerst schmerzliche Weise. Frankreich allein kann in dem Sturm, den Wladimir Putin entfesselt hat, nicht bestehen. Es braucht Verbündete, es braucht Europa, es braucht eine regelbasierte internationale Ordnung.
Nun ist Macron auch in Frankreich keineswegs der einzige, der das erkannt hat. Aber er ist der einzige, der davon an der Wahlurne profitieren wird. Zwar hat der grüne Spitzenkandidat Yannick Jadot sich schon vor Kriegsbeginn solidarisch an die Seite der Ukraine gestellt und Russlands Einmarsch rhetorisch scharf verurteilt, aber seine Kampagne ist durch eigene Fehler und parteiinterne Turbulenzen ins Stocken geraten. Auch die sozialistische Bewerberin Anne Hildago ist nicht als Putin-Versteherin bekannt, doch liegt sie in den Umfragen seit Wochen am Boden, noch hinter dem Kandidaten der lange abgemeldeten Kommunisten und nur knapp vor den beiden Trotzkisten. Das lässt sie nicht gerade als präsidiale Alternative in düsteren Zeiten erscheinen.
Europäisches Momentum
So dürfte Macron den ersten Wahlgang am 10. April klar gewinnen und auch in der Stichwahl vierzehn Tage später kaum ernsthaft in Bedrängnis geraten: Pécresse ist schlicht nicht präsidiabel, Mélenchon fällt seine anti-westliche Haltung auf die Füße, und die Putin-Verehrer Zemmour und Le Pen werden mit jedem Tag, an dem in der Ukraine Zivilisten bombardiert werden, weiter diskreditiert.
Macron kann sich also schon auf seine künftige Rolle in Europa vorbereiten. Und die wird ihn weiter fordern – als Gestalter wie als Krisenmanager. Denn einerseits hat die EU unter dem Eindruck zweier äußerer Schocks – der Corona-Pandemie und des Krieges gegen die Ukraine – in bemerkenswert kurzer Zeit bemerkenswert viel innere Einheit entwickelt. Nachdem 2020 der deutsche und niederländische Widerstand gegen eine gemeinsame Schuldenaufnahme gefallen ist, scheint künftig eine europäische Finanzpolitik denkbar. Und nachdem in Reaktion auf die russische Invasion die Nordeuropäer ihre Vorbehalte gegen eine gemeinsame Verteidigungspolitik ebenso aufgegeben haben wie Deutschland, dessen „geopolitisches Erwachen“ (Luuk van Middelaar)[11] für die geänderte Haltung in Dänemark und Schweden einen wesentlichen Anstoß gab, könnte die EU künftig außenpolitisch eine größere Rolle spielen. Schließlich rückt mit der schrittweisen Abkehr der Bundesrepublik von ihrer Sonderbeziehung zu russischen Energieunternehmen eine gemeinsame Versorgung Europas und ein forcierter Ausbau der Erneuerbaren, den die EU-Kommission ohnehin vorantreiben wollte, in greifbare Nähe.
Dieses Momentum wird Macron nutzen wollen. Schon im vergangenen Winter hatte er mit Italiens Premierminister Mario Draghi ein französisch-italienisches Kooperationsabkommen unterzeichnet, das jenem mit Deutschland in nichts nachsteht, und ein neues Kraftzentrum in Europa schaffen soll, um der Austeritätspolitik der Nordwesteuropäer etwas entgegenzusetzen.[12]
Andererseits droht angesichts der imperialen Bestrebungen Wladimir Putins eine dauerhafte Erschütterung des Kontinents. Der Ukraine-Krieg könnte erst der Anfang für weitere aggressive Schritte des russischen Regimes gewesen sein. Schon jetzt wirkt Moskau destabilisierend auf dem Balkan, etwa durch die Unterstützung der seperationswilligen Republika Srpska in Bosnien-Herzegowina. Mit der Republik Moldau, in dessen abtrünniger Provinz Transnistrien russische Truppen stehen, könnte ein Nachbar des EU-Landes Rumänien ein nächstes Ziel des imperialen Ausgreifens Putins werden. Selbst EU-Mitglieder wie Finnland, Schweden und die baltischen Staaten wiegen sich keineswegs in Sicherheit, leider wohl zu Recht.
Diplomatie und Abschreckung
Umso mehr gerät Macron – ähnlich wie Scholz – unter Druck osteuropäischer Regierungschefs von Estland bis Polen, die einen deutlich konfrontativeren Kurs gegenüber Russland und mehr militärischen Beistand von den Westeuropäern fordern. Die Debatten um das Verhältnis von Verhandlungen und Abschreckung werden zeigen, wie belastbar die derzeitige europäische Einigkeit wirklich ist.
Angesichts dessen wird neben dem Diplomaten Macron auch der Verteidigungspolitiker Macron gefragt sein, der schon lange auf eine europäische Armee drängt. Sollte diese nun Wirklichkeit werden, so wird Macron allerdings akzeptieren müssen, dass damit – zumindest kurzfristig – nicht die von ihm gewünschte Unabhängigkeit Europas von den USA erreicht wird. Denn die unerwartete Wiederkehr des Landkrieges auf dem Kontinent hat auch offenbart, wie sehr das demokratische Europa militärisch auf die Nato, und damit auf Washington, angewiesen bleibt.
Der aller Voraussicht nach alte und neue französische Präsident wird es in Europa also nicht immer leicht haben – und es Europa auch nicht immer leicht machen. Aber mit jedem anderen aussichtsreichen französischen Gegenkandidaten zu Emmanuel Macron hätte es Europa in diesen stürmischen Zeiten sehr viel schwerer.
[1] Baptiste Legrand, Marie Guichoux und Lucie Alexandre, Macron en première ligne, Fillon montré du doigt, haro sur „Vladimir Zemmour“, www.nouvelobs.com, 25.2.2022.
[2] Nicolas Massol und Tristan Berteloot, Cette photo Le Pen-Poutine qui gêne au RN, www.liberation.fr, 1.3.2022.
[3] Jean-Luc Mélenchon au JDD: „Cette présidentielle, je la sens bien“, www.lejdd.fr, 12.3.2022.
[4] Legrand, Guichoux und Alexandre, a.a.O.
[5] Sarah Belouezzane, Guerre en Ukraine: François Fillon démissionne de ses mandats en Russie, la pression retombe pour Valérie Pécresse, www.lemonde.fr, 25.2.2022.
[6] Charlotte Cieslinski, „Grand remplacement“, „Français de papier“… Pécresse pioche dans le registre de l’extrême droite, www.nouvelobs.com, 14.2.2022.
[7] Felix Heidenreich, Frankreich und die große Verwirrung. Macrons Kampf um den inneren Frieden, in: „Blätter“, 7/2021, S. 99-106.
[8] Aziliz Le Corre, François Kraus: „La capacité d‘Éric Zemmour à incarner la fonction présidentielle est altérée“, www.lefigaro.fr, 29.11.2021.
[9] Das ist allerdings auch nicht umstritten: Selbst Le Pen mochte sich der Aufnahme nicht verschließen, lediglich Zemmour meinte äußern zu müssen, die Ukrainerinnen sollten doch besser in Polen ausharren.
[10] Vincent Tiberj, À force d’y croire: la France s’est-elle droitisée?, in: „Esprit“, Januar/Februar 2022.
[11] Luuk van Middelaar, History is brutally back, and Ukraine will test Europe’s appetite for the consequences, www.theguardian.com, 9.3.2022.
[12] Op-ed by President Emmanuel Macron and Prime Minister Mario Draghi on EU Macroeconomic and Fiscal Strategy, www.elysee.fr, 23.12.2021.