
Bild: Straßenblockade von Aktivist*innen der »letzten Generation« in München, 16.5.2022 (IMAGO / aal.photo / Aaron Karasek)
Gestern standen wir am Abgrund, heute sind wir schon einen Schritt weiter.“ Dieser Sponti-Spruch der 1980er Jahre könnte der passende Kommentar zum Jahreswechsel 2022 auf 2023 sein, wenn uns nicht die Ironie vor zehn Monaten ausgetrieben worden wäre. Allzu oft war in den letzten Jahren von einem annus horribilis die Rede, doch das Horror-Jahr 2022 stellte – jedenfalls aus europäischer Sicht – das Vorangegangene klar in den Schatten.
Als vor drei Jahren die Coronakrise begann, wurde diese umgehend als die größte Herausforderung des Kontinents nach 1945 begriffen. Heute sehnen sich viele fast schon in diese Zeit zurück. Deutlicher könnte nicht zum Ausdruck kommen, wie radikal der 24. Februar, der Beginn von Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine, die Zeit in ein davor und danach teilt. Russland zerstört mit seinem Bombenterror nicht nur ganz systematisch die Existenzgrundlage der Ukraine, sondern versucht damit auch den Zusammenhalt des Westens und speziell der EU zu untergraben, durch die dadurch ausgelöste Migration und Energiekrise.
Faktisch hat das Jahr 2022 unsere gleich vierfache Abhängigkeit schlagend deutlich gemacht: erstens energiepolitisch von Russland, zweitens militärpolitisch von den Vereinigten Staaten, drittens industriepolitisch von China und viertens ökologisch von globalen Natur- und Klimabedingungen, die von einer expansiven Wirtschaftsweise zunehmend zerstört werden. All das führt – außen- wie innenpolitisch – zu einer zunehmenden Radikalisierung und Polarisierung.
Wenigstens einen kleinen Lichtblick zum Ende des Jahres beschert uns das kontrafaktische Denken, zeigt es doch, dass alles noch weitaus schlimmer hätte kommen können. Wäre die Ukraine nicht – aufgrund der US-amerikanischen Ausbildung und Aufrüstung seit 2014 – zu ihrer Verteidigung in der Lage gewesen, stünde Russland heute an der polnischen Grenze und die am 4. Februar zwischen Xi Jinping und Putin verkündete grenzenlose Freundschaft der Autokraten hätte weltweite Ausstrahlung. Keine Rede wäre dann von einer Isolation Russlands dank der Distanzierung wichtiger Staaten, wie auf dem jüngsten G20-Gipfel in Bali geschehen. Stattdessen würden sich die entscheidenden Mächte in der zweiten Reihe – Indien, Indonesien, Brasilien und Südafrika –, klar gen China und Russland orientieren. Denn noch immer sind es die Sieger, die die Geschichte schreiben.
Und wenn nicht Donald Trump bei den jüngsten Zwischenwahlen in den Vereinigten Staaten massiv an Zustimmung verloren und den Republikanern eine gewaltige Führungsdebatte beschert hätte, stünde mit Sicherheit Joe Biden, der mittlerweile 80 Jahre alte US-Präsident, voll in der Kritik und damit die Frage im Raum, ob bei der Präsidentschaftswahl 2024 das autoritäre Comeback überhaupt noch zu verhindern sei. Und schließlich drittens: Hätte nicht Lula da Silva mit hauchdünnem Vorsprung die Wahl in Brasilien gegen Jair Bolsonaro gewonnen, wäre dies ein Verhängnis für die Zukunft des Regenwalds und damit auch für die ökologische Zukunft des Planeten.
Das aber verweist auf die zweite dramatische Entwicklung des Jahres 2022: die Radikalisierung der ökologischen Krise, die immer mehr Richtung Katastrophe tendiert. „Wir sind auf dem Highway zur Klimahölle – mit dem Fuß auf dem Gaspedal“, sagte UN-Generalsekretär António Guterres in seiner Eröffnungsrede auf der Weltklimakonferenz COP27. „Wir kämpfen den Kampf unseres Lebens – und sind dabei zu verlieren“, so seine ultimative Warnung. Und dennoch konnte von überzeugenden Ergebnissen keine Rede sein, weil nationalstaatlicher Egoismus zum wiederholten Male eine überzeugende globale Lösung verhindert hat. Obwohl rhetorisch unvermindert am Pariser 1,5-Grad-Ziel festgehalten wird, rückt dieses doch immer mehr in weite Ferne.[1]
Die dramatische klimapolitische Lage spiegelt sich in einer zunehmenden Polarisierung auch in den westlichen Gesellschaften – und in einer immer verzweifelteren Klimabewegung, die in den letzten Monaten vor allem durch die Aktionen der „Letzten Generation“ in Erscheinung getreten ist. Doch so berechtigt das grundsätzliche Anliegen, so fatal in ihrer Wirkung sind die durchgeführten Blockaden von Straßen und Flughäfen. Eine Bewegung, die für sich in Anspruch nimmt, Mensch und Natur retten und bewahren zu wollen, konterkariert ihr eigenes Anliegen, wenn sie die Gefährdung von Menschenleben in Kauf nimmt. Selbst wenn der Tod einer Radfahrerin in Berlin im Ergebnis nicht durch die Straßenblockade der Letzten Generation herbeigeführt wurde, wird durch derartige Aktionen die vorhandene Zustimmung in der Bevölkerung zu intensiverer Klimapolitik nicht vergrößert, sondern verringert.
Ja, mehr noch: Die Gegenseite nimmt diese Steilvorlage dankbar auf, wenn etwa CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt eine „Klima-RAF“ an die Wand malt. „Hallo Justizminister! Hallo Innenministerin! Sperrt diese Klima-Kriminellen einfach weg! [...] Täter müssen Konsequenzen spüren“, twitterte ausgerechnet Ex-Verkehrsminister Andreas Scheuer. So unverfroren eine derartige Forderung aus dem Munde eines Mannes ist, der den Staat – und damit die deutsche Bevölkerung – mit seiner verfehlten Mautpolitik Milliarden gekostet und dafür nie Konsequenzen gespürt hat, artikuliert sich hier doch auch ein forcierter Volkszorn, der regelrecht zur Selbstjustiz auffordert.
Rhetorische Aufrüstung
„Opfer fragen sich: Bin ich eigentlich machtlos? Oder kann ich denen eine kleben?“, lautete denn auch die Frage der „Bild“-Zeitung, die massiv an der Empörungswelle gegen die „Klimakleber“ dreht. Der Jurist und „Bild“-Kolumnist Joachim Steinhöfel musste zwar mit Bedauern feststellen, „Ohrfeigen als erste Maßnahme wären wohl unverhältnismäßig“, aber, so sein triumphierendes Resümee, „Notwehr ist ein scharfes Schwert. Sie gestattet alles, was erforderlich ist, um eine Straftat ,sicher und endgültig‘ zu beenden.“ Wie das aussehen könnte, teilt der einschlägig bekannte Medienanwalt Ralf Höcker mit: „Autofahrer dürfen #Klimakleber selbst von der Straße zerren. Sie müssen nicht auf die Polizei warten. Verletzungen, z.B. an den Handflächen der #Klimaaktivisten, sind hinzunehmen und ändern nichts am Notwehrrecht des Autofahrers.“[2] Hier zeigt sich: Weil sich der radikale Teil der Klimabewegung durch seine nicht vermittelbaren Aktionen selbst delegitimiert, können seine Gegner eine rhetorische Aufrüstung betreiben, die zunehmend selbst zur Tat drängt.
Weniger brachial, aber dafür nicht weniger ambitioniert agiert die soeben im CDU-Umfeld gegründete „Denkfabrik für neue bürgerliche Politik“, R21.[3] Deren Initiator und Vordenker, der CDU-Historiker Andreas Rödder, bringt die Strategie in einem „Spiegel“-Artikel auf den Punkt.[4] Rödder sieht den gesamten Westen in einer historischen Auseinandersetzung mit neuen totalitären Kräften, weshalb er eine neue Eindämmungspolitik nach dem Vorbild des Kalten Krieges fordert: „Die moderne westliche Lebensform [...] sieht sich von innen und von außen herausgefordert. Und so wie es George F. Kennan 1946 postulierte, so muss sich der Westen auch in der neuen Systemauseinandersetzung sowohl auf militärisch-politischer als auch auf gesellschaftlich-kultureller Ebene behaupten.“ Die Ironie der Argumentation besteht darin, dass es Rödder neben der erfolgreichen Außenpolitik des Westens vor allem um dessen Verteidigung nach innen, gegen die neuen Systemgegner von links, geht. Denn, so Rödder: „Das historisch einmalige und zugleich so tief internalisierte Wohlstands- und Freiheitsversprechen des westlichen Gesellschaftsmodells steht unter dem Verdacht [!], die Lebensgrundlagen der Menschheit zu zerstören. Weite Teile der Klimabewegung sehen im Kapitalismus den Verantwortlichen für das drohende Ende der Welt, das an die Stelle des hoffnungsfrohen Narrativs vom ‚Ende der Geschichte‘ nach 1989 getreten ist.“
Rödder negiert hier bewusst die Tatsache, dass für den Klimawandel heute primär der im Kapitalismus angelegte Wachstumszwang verantwortlich ist. Stattdessen stigmatisiert er Kapitalismuskritiker, die die Idee des Postwachstums verfechten, umgehend als antibürgerliche, ja sogar antimoderne Ideologen: „Vorstellungen von ‚Verlust als Gewinn‘, ‚Degrowth‘ oder ‚anderem Wachstum‘ suchen die Lösung für die Probleme der marktwirtschaftlichen Moderne nicht mit ihren eigenen Mitteln, das heißt durch Entwicklung und Einsatz neuer Technologien. Sie setzen auf eine Revision der wachstumsorientierten Marktwirtschaft, die mit weitreichenden staatlichen Regulierungen einer ‚Großen Transformation‘ einhergehen soll.“ Anstatt also die globale Klimakrise in ihrer ganzen Radikalität zur Kenntnis zu nehmen, was auch bedeuten würde, grundsätzliche Denkansätze nicht nur zuzulassen, sondern sogar zu fördern, schließt Rödder von vornherein jede Lösung aus, die über die „Entwicklung und den Einsatz neuer Technologien“ hinausgeht. Dadurch schrumpft die westliche Moderne zu einer kapitalistisch-marktwirtschaftlichen – alles was darüber hinausdenkt, liegt für Rödder nicht mehr im Rahmen des demokratisch Zulässigen.
Verengung des Diskursraums
Das ist natürlich eine völlig unzulässige Verengung des Denk- und Diskursraums. Damit unternimmt die neue Denkfabrik genau das, was sie der Linken vorwirft, dass „legitime Positionen aus dem Diskurs ausgeschlossen werden“.[5] Um diesen Eindruck zu erhärten, bedient sie sich des neuen Kampfbegriffs der „Wokeness“, unter dem sich angeblich die diversen linken Bewegungen zu einer großen Erziehungsdiktatur versammeln.[6] Dabei wird der Begriff Wokeness bisher von der bundesrepublikanischen Linken gar nicht nennenswert benutzt. Vielmehr handelt es sich um einen klassischen „Containerbegriff“, unter dem sich jeder etwas Anderes vorstellen kann und in den fast alles hineinpasst – also ein idealer Kampfbegriff. „Die Debatten um Cancel Culture, Identitätspolitik und Wokeness legen nicht weniger als die Systemfrage auf den Tisch“, so Rödders pauschalisierende Kritik bereits in einem früheren „Spiegel“-Essay.[7] Nun aber dreht der politisierende Professor den Spieß um und stellt selbst die Systemfrage: Seiner Logik zufolge haben wir es bei all jenen, die über das marktwirtschaftliche Fortschritts- und Wachstumslogik hinausdenken, faktisch mit Systemgegnern zu tun – was umgehend den Beifall von Jens Spahn hervorruft: „Das klingt alles wie Bullerbü, das ist aber am Ende Planwirtschaft, die im Extremfall in eine Klimadiktatur führt“, popularisierte der Ex-Gesundheitsminister prompt die R21-Thesen bei einer Veranstaltung der Jungen Union.
Diese maximale Diskreditierung abweichender Meinungen hat mit der behaupteten Verteidigung des Grundgesetzes nichts zu tun, da dieses gerade keine spezifische Wirtschaftsordnung vorschreibt. Offensichtlich stellt die „kapitalistische Moderne“ derzeit nicht die tauglichen Mittel zur Bekämpfung der ökologischen Krise zur Verfügung, so das Ergebnis der COP27. Insofern trifft die Beweislast, wie der Krise Abhilfe zu schaffen wäre, diejenigen, die dem immer gleichen Konsum- und Wachstumsmodell das Wort reden, das uns diese Krise doch gerade erst beschert hat. Im Kern geht es um eine entscheidende Frage: Akzeptieren wir die notwendige Begrenzung unserer Freiheit, die der Club of Rome bereits mit Erscheinen der „Grenzen des Wachstums“ vor 50 Jahren anmahnte, oder akzeptieren wir sie nicht – koste es, was es wolle, und zwar insbesondere, aber längst nicht nur, die Ärmsten und Verletzbarsten.
Bisher werden auf den Klimagipfeln die Verbrauchswerte nur national verglichen und verhandelt. Dabei hat bereits 2020 ein Bericht von Oxfam gezeigt, dass die reichsten zehn Prozent der Weltbevölkerung – ganz unabhängig von ihrer Nationalität – für über die Hälfte der Emissionen verantwortlich sind und dass das reichste eine Prozent das Klima doppelt so stark schädigt wie die ärmere Hälfte der Menschheit zusammen. Die Frage des Ressourcenverbrauchs entpuppt sich damit als die zentrale ökologische Gerechtigkeitsfrage, die über die Zukunft der kommenden Generationen entscheidet. Darüber muss diskutiert werden können, ohne dass daraus bereits eine Systemgegnerschaft oder gar der Weg in die Ökodiktatur gemacht wird.
Eine solche rhetorische Aufrüstung steht in einer fatalen Tradition. Im vergangenen Jahrhundert gab es zwei Epochen radikaler Polarisierung: die 1920er Jahre, die am 30. Januar 1933 mit der Machtübergabe an die Nationalsozialisten endeten, und von deren mörderischem Radikalismus wir zum Glück weit entfernt sind, und die 1970er Jahre, das „Rote Jahrzehnt“ (Gerd Koenen), das mit dem Terror der RAF im „Deutschen Herbst“ 1977 endete. Erst dann setzte auf der radikalen Linken schockartig die Besinnung ein.
Dem vorausgegangen war aber auch eine Phase maximaler Konfrontation und Verständnislosigkeit seitens der Konservativen gegenüber der jungen Generation, was wiederum die Polarisierung von links nur verstärkte. Es wäre daher verheerend, wenn treibende Kräfte in der Gesellschaft heute wieder diesen Weg gingen. An die Stelle rhetorischer Aufrüstung muss endlich eine offene Debatte über die notwendigen Antworten auf die dramatischen Krisen treten – auch mit dem politischen Gegner. Vielleicht ließe sich dann ja sogar am Ende des Jahres 2023 sagen: „Gestern standen wir am Abgrund, heute sind wir einen Schritt zurückgetreten.“
[1] Vgl. dazu den Beitrag von Susanne Götze in dieser Ausgabe.
[2] Hendrik Wieduwilt, Warum hilft die Union der „Klima-RAF“?, www.n-tv.de, 25.11.2022.
[3] Vgl. www.denkfabrik-r21.de, siehe dort auch die Aufzeichnung des fünfstündigen Gründungskongresses „Wokes Deutschland – Identitätspolitik als Bedrohung unserer Freiheit?“, www.youtube.com, 7.11. 2022.
[4] Andreas Rödder, Die Selbstbehauptung der bürgerlichen Gesellschaft, in: „Der Spiegel“, 47/2022, 18.11.2022.
[5] Gespräch mit Andreas Rödder in der Sendung „Politikum“, www.wdr.de, 24.11.2022.
[6] Vgl. das Gründungskongress-Video, a.a.O.
[7] Andreas Rödder, Identitätspolitik und Cancel Culture: Wo bleiben die Gegenkonzepte aus der Mitte der Gesellschaft?, in: „Der Spiegel“, 52/2020, 18.12.2020.